Herr Rohe, ich beginne mit der einfachsten und wahrscheinlich schwierigsten Frage dieses Abends. Nach all dem, was ich einleitend gesagt habe: Was ist denn nun die Scharia?
Rohe
Ich mache es so kurz wie möglich. Die Scharia ist kein Gesetz, wie viele meinen. Wenn man heute in Kairo in einen Buchladen ginge und sagen würde: „Ich hätte gern einmal Scharia“. Dann würden Sie leuchtende Augen produzieren. Zehntausende von Bänden zum Thema werden da gekauft.
„Scharia“ ist ein hochkomplexes System der islamischen Normenlehre, in ihrem weiteren Sinne jedenfalls, so wie ihn viele Muslime verwenden. Dieser weite Begriff von „Scharia“ beinhaltet Religionsgebote ebenso sehr wie Rechtsvorschriften, und zwar nicht nur Einzelregelungen, sondern vor allem auch die Lehre von den Quellen. Wie finde ich überhaupt heraus, welche Norm gilt? Wie verhalten sich die Normen zueinander? Wie sind diese zu interpretieren? Dieses hochkomplexe System, das ist „Scharia“ in einem weiteren Sinne. Die macht niemandem Angst.
Angst macht das enge Verständnis von „Scharia“, das viele Nichtmuslime anlegen, aber auch manche Muslime. Das sind die menschenrechtlich und rechtsstaatlich heiklen Bereiche. Vorschriften, die in ihrer traditionellen Auslegung Ungleichheit der Geschlechter produzieren, Ungleichheit der Religionen, ein Herrschaftssystem, das nicht dem demokratischen Rechtsstaat ähnelt, drakonische Körperstrafen, und ähnliche Dinge mehr. Man muss, wenn man „Scharia“ sagt, zunächst einmal definieren, welches Verständnis man eigentlich anlegen möchte.
Reinbold
„Scharia“ ist also in einem weiten Sinne ein System, mit dem man die unterschiedlichen Rechtsnormen, die es im Islam gibt, in einen Bezug zueinander bringt? Und zugleich ein System, in dem geregelt wird, wie man das tut?
Rohe
So ist es. Ich meine sogar, dass man die Scharia am besten über die Quellenlehre versteht. Wie sind die Quellen zu interpretieren? Je nach Interpret und Methode kommt es dabei zu Ergebnissen, die entweder völlig menschenrechtskompatibel sind oder nicht. Man kann auf der Grundlage von Scharia Menschenrechte begründen, aber man kann auch genau das Gegenteil tun, etwa drakonische Strafen begründen und ähnliches mehr. Es kommt sehr auf die Menschen an und darauf, wie sie dieses sehr komplexe Instrumentarium handhaben.
Salama
Es ist nicht so viel übrig, was ich noch zu ergänzen hätte. Für mich bedeutet die Scharia meinen Lebensweg. Wenn wir Muslime ein gutes Verständnis von „Scharia“ suchen und sie zeitgemäß interpretieren, dann können wir das erreichen, was wir hier in Deutschland und in anderen europäischen Ländern vor Jahren erreicht haben: Menschenrechte, Gleichbehandlung von Männern und Frauen, und Vieles andere mehr.
Die Scharia enthält auch Prinzipien, die für unsere deutsche Rechtsordnung harmlos sind: Wie ich bete. Wie ich faste. Daran wird niemand unter uns Anstoß nehmen. Das alles ist für mich „Scharia“ – nicht Handabhacken oder dass meine Frau zehn Meter hinter mir läuft oder solche Sachen, die man der Scharia zuschreibt.
Reinbold
Herr Rohe, Sie haben gesagt, dass man auf der Grundlage der Scharia Menschenrechte begründen kann. Gibt es dafür Beispiele aus islamischen Ländern, in denen die Scharia eine der Grundlagen der Rechtsordnung ist? Man sagt ja häufig, in „der islamischen Welt“ gelte die Scharia. Ist das so?
Rohe
Das kann man so nicht sagen. Wir müssen trennen zwischen dem religiös-ethischen Bereich einerseits und dem rechtlichen Bereich andererseits. Jeder Muslim kann, wo halbwegs Religionsfreiheit herrscht, seine Religion praktizieren. Das ist das Nichtheikle an der Sache.
Was die Rechtsordnungen angeht, ist die Lage sehr vielgestaltig. In Saudi-Arabien sieht es anders aus als in Indonesien oder im Iran oder in Marokko. Man wird insgesamt sagen können, dass sich die Scharia in ihrer traditionelleren Ausprägung nur noch in wenigen Bereichen behauptet hat, insbesondere im Eherecht, im Familienrecht und im Erbrecht. Das sind die klassischen Domänen der Scharia. Das drakonische Strafrecht haben – Gott sei Dank – die meisten islamisch geprägten Staaten seit langem abgeschafft. Manche Staaten haben es beibehalten, einige haben es wieder eingeführt, etwa der Iran und Nigeria. Das ist vor allem ein Politikum: Man kann damit versuchen, ganz bestimmte politische Dinge zu erzeugen.
Viele Bereiche des Rechts hat der Islam traditionell überhaupt nicht geregelt oder nur sehr vage: das ganze Staatsrecht, das Verwaltungsrecht und vieles im Wirtschaftsrecht. Da hat man sich umgesehen, wo man in anderen Staaten Regelungen fand, die man übernehmen konnte. So hat man etwa sehr viel vom französischen Recht übernommen.
Es gibt auch Teile der Scharia, die mit unserem bürgerlichen Gesetzbuch völlig übereinstimmen. Etwa, dass ein Vertrag zustande kommt durch ein Angebot und einen Annahmeerklärung, die sich inhaltlich decken. Das ist Scharia pur, und es ist bürgerliches Gesetzbuch pur. Da gibt es viele Übereinstimmungen bis hin zu völlig identischen Aussagen. Man muss also genau hinschauen. In manchen Staaten wird Bezug genommen auf die Scharia in ihren traditionellen Ausprägungen, etwa in Saudi-Arabien. In anderen Staaten wie etwa Ägypten stehen nur „die Prinzipien der Scharia“ in der Verfassung, als Hauptquelle der Gesetzgebung. Die Lage ist vielgestaltig. Wenn „die Scharia“ in einem Staat gilt, dann weiß man noch nicht, wie sie konkret umgesetzt wird.
Darüber hinaus sollten wir nicht vergessen, dass die Rechtssituation in vielen dieser Staaten weniger vom islamischen Recht geprägt wird, als wir manchmal denken. Etwa in Afghanistan: Da gilt vielfach das sogenannte Paschtunwali, ein altes Gewohnheitsrecht, das mit Scharia wenig bis gar nichts zu tun hat. Die Frauen im Gebiet der Paschtunen wären vermutlich froh, wenn sie das bekämen, was die Scharia ihnen selbst in ihrer strengsten Auslegung zubilligt. Nach der Scharia sind sie nämlich ein Rechtssubjekt. Darauf sind Muslime stolz, dass man Frauen von Objekten, die man vererben konnte, wenn der Mann gestorben ist, zu eigenständigen Subjekten gemacht hat. Das ist leider in Afghanistan in diesen Zonen überhaupt nicht der Fall.
Gerade im Bereich der Frauenrechte kommt es darauf an, wie die Quellen gelesen werden. Wir finden im Koran Aussagen, die geschlechterungleich sind. Nun sind das Aussagen, die zunächst einmal in das 7. Jahrhundert hineingegeben wurden (da sah es auch bei uns noch anders aus als heute). Einige moderne Stimmen sagen, man müsse nicht am Wortlaut des Korans kleben bleiben, sondern man müsse die Botschaft des Korans dynamisch lesen, nach dem Motto: „Der Koran hat die inhärente Botschaft, die Stellung von Frauen immer weiter zu verbessern.“ Und dann gehen einige so weit zu sagen: Das heißt im 21. Jahrhundert: „Nicht mehr nur gleiche Würde der Geschlechter, sondern auch gleiche Rechte.“ Das ist nicht der Mainstream in der islamischen Welt. Aber es sind Stimmen, die vor allem unter jungen Leuten laut werden, nicht zuletzt unter Musliminnen und Muslimen, die hier unter uns leben.
Reinbold
Herr Salama, lassen Sie uns auf Ägypten schauen. In der neuen Verfassung soll der Satz stehen, dass zwar nicht „die Scharia“, wohl aber „die Grundsätze der Scharia“ Grundlage der Rechtsordnung sein sollen. Ist das etwas, wovor man Angst haben muss? Oder ist es im Grunde ein Satz, der alles und nichts bedeuten kann?