Mitschrift: Scharia. Eine Gefahr für das deutsche Recht? (Teil 1)

Zum Gespräch: Scharia. Eine Gefahr für das deutsche Recht?


Religionen im Gespräch 5, 2012

Gäste:
Prof. Dr. Mathias Rohe, Jurist und Islamwissenschaftler, Direktor des Zentrums für Islam und Recht in Europa an der Universität Erlangen-Nürnberg
Dr. Ibrahim Salama, Religionswissenschaftler, Universität Osnabrück, Dozent für Islamische Studien, Al-Azhar Universität Kairo
Moderation: Prof. Dr. Wolfgang Reinbold, Evangelisch-luth. Landeskirche Hannovers

Herzlich Willkommen zum fünften Gespräch unserer Reihe „Religionen im Gespräch“, heute Abend mit dem Thema: Scharia. Eine Gefahr für das deutsche Recht?

Wenn man das Wort „Scharia“ in den Mund nimmt, muss man meist nicht viel mehr sagen. Es genügt, das Wort auszusprechen, und dann schlagen die Wellen hoch. Für viele in Deutschland ist das Wort „Scharia“ verbunden mit einigen der schlimmsten Menschenrechtsverletzungen auf der Welt. „Scharia“ steht dafür, dass Frauen ausgepeitscht werden, wenn sie sich nicht voll verschleiern. „Scharia“ steht dafür, dass jemand, der seine Religion wechseln will, der vom Islam abfällt, wie man dann meistens sagt, hingerichtet wird. „Scharia“ steht dafür, dass Menschen die Füße und die Hände abgehackt werden, wenn sie stehlen – im Internet kann man sich das alles anschauen, auf Fotos und sogar auf Videos.

Deshalb haben es viele in den letzten Wochen mit der Angst bekommen, als sie gehört haben, dass jetzt in Ägypten die Scharia in die Grundlage der neuen Verfassung aufgenommen werden soll. Soll das bedeuten, dass man jetzt in Ägypten einen Staat bauen will auf der Grundlage von Handabhacken, Hinrichten, Auspeitschen?

Wenn man mit Muslimen über die Frage redet, bekommt das Wort in aller Regel sehr schnell einen anderen, positiven Sinn. „Scharia“ steht für sie für das ideale Recht, das gute Leben, den Weg zur Quelle.

Auch für deutsche Juristen klingt „Scharia“ anders. In der Einladung für den heutigen Abend haben wir einen Text des wissenschaftlichen Dienstes des deutschen Bundestages zitiert, in dem der schöne und sehr deutsch-trockene Satz steht: „Die religiösen Vorschriften der Scharia genießen den Schutz des Grundgesetzes nach Artikel 4.“

Ist die Scharia also auf dem Vormarsch in Deutschland? Und was überhaupt ist das, „die Scharia“? Das ist die Frage, mit der wir uns heute beschäftigen, und ich freue mich, dass wir zwei sehr kompetente Gäste heute Abend zu Gast haben. Ich begrüße zu meiner Rechten Prof. Mathias Rohe aus Erlangen-Nürnberg. Sie sind Jurist und Islamwissenschaftler und haben viele Jahre in arabischen Ländern gelebt und studiert. Sie sind Professor an der Universität Nürnberg für bürgerliches Recht, internationales Privatrecht und vergleichendes Recht, und Sie sind Direktor des Erlanger Zentrums für Islam und Recht in Europa. Herzlich Willkommen Herr Rohe.

Ich begrüße zu meiner Linken sehr herzlich Dr. Ibrahim Salama. Sie haben in Kairo und in Deutschland studiert, Islamstudien und Germanistik. Vor zwei Jahren sind Sie an der Universität Leipzig bei Prof. Ebert promoviert worden mit einer Arbeit zum Thema Islam und Recht in Deutschland. Sie sind ägyptischer Beamter, tätig an der berühmten Al Azhar-Universität in Kairo, zur Zeit aber nicht in Ägypten, sondern in Osnabrück und dort das, was man heute einen „post-doc“ nennt. D. h.: Sie sitzen an Ihrer Habilitationsschrift, und auch die wird sich mit dem Thema Recht und Islam im deutschen Kontext beschäftigen. Herzlich Willkommen Herr Salama.

Herr Rohe, ich beginne mit der einfachsten und wahrscheinlich schwierigsten Frage dieses Abends. Nach all dem, was ich einleitend gesagt habe: Was ist denn nun die Scharia?

Rohe
Ich mache es so kurz wie möglich. Die Scharia ist kein Gesetz, wie viele meinen. Wenn man heute in Kairo in einen Buchladen ginge und sagen würde: „Ich hätte gern einmal Scharia“. Dann würden Sie leuchtende Augen produzieren. Zehntausende von Bänden zum Thema werden da gekauft.

„Scharia“ ist ein hochkomplexes System der islamischen Normenlehre, in ihrem weiteren Sinne jedenfalls, so wie ihn viele Muslime verwenden. Dieser weite Begriff von „Scharia“ beinhaltet Religionsgebote ebenso sehr wie Rechtsvorschriften, und zwar nicht nur Einzelregelungen, sondern vor allem auch die Lehre von den Quellen. Wie finde ich überhaupt heraus, welche Norm gilt? Wie verhalten sich die Normen zueinander? Wie sind diese zu interpretieren? Dieses hochkomplexe System, das ist „Scharia“ in einem weiteren Sinne. Die macht niemandem Angst.

Angst macht das enge Verständnis von „Scharia“, das viele Nichtmuslime anlegen, aber auch manche Muslime. Das sind die menschenrechtlich und rechtsstaatlich heiklen Bereiche. Vorschriften, die in ihrer traditionellen Auslegung Ungleichheit der Geschlechter produzieren, Ungleichheit der Religionen, ein Herrschaftssystem, das nicht dem demokratischen Rechtsstaat ähnelt, drakonische Körperstrafen, und ähnliche Dinge mehr. Man muss, wenn man „Scharia“ sagt, zunächst einmal definieren, welches Verständnis man eigentlich anlegen möchte. 

Reinbold 
„Scharia“ ist also in einem weiten Sinne ein System, mit dem man die unterschiedlichen Rechtsnormen, die es im Islam gibt, in einen Bezug zueinander bringt? Und zugleich ein System, in dem geregelt wird, wie man das tut?

Rohe 
So ist es. Ich meine sogar, dass man die Scharia am besten über die Quellenlehre versteht. Wie sind die Quellen zu interpretieren? Je nach Interpret und Methode kommt es dabei zu Ergebnissen, die entweder völlig menschenrechtskompatibel sind oder nicht. Man kann auf der Grundlage von Scharia Menschenrechte begründen, aber man kann auch genau das Gegenteil tun, etwa drakonische Strafen begründen und ähnliches mehr. Es kommt sehr auf die Menschen an und darauf, wie sie dieses sehr komplexe Instrumentarium handhaben.

Salama 
Es ist nicht so viel übrig, was ich noch zu ergänzen hätte. Für mich bedeutet die Scharia meinen Lebensweg. Wenn wir Muslime ein gutes Verständnis von „Scharia“ suchen und sie zeitgemäß interpretieren, dann können wir das erreichen, was wir hier in Deutschland und in anderen europäischen Ländern vor Jahren erreicht haben: Menschenrechte, Gleichbehandlung von Männern und Frauen, und Vieles andere mehr.

Die Scharia enthält auch Prinzipien, die für unsere deutsche Rechtsordnung harmlos sind: Wie ich bete. Wie ich faste. Daran wird niemand unter uns Anstoß nehmen. Das alles ist für mich „Scharia“ – nicht Handabhacken oder dass meine Frau zehn Meter hinter mir läuft oder solche Sachen, die man der Scharia zuschreibt. 

Reinbold 
Herr Rohe, Sie haben gesagt, dass man auf der Grundlage der Scharia Menschenrechte begründen kann. Gibt es dafür Beispiele aus islamischen Ländern, in denen die Scharia eine der Grundlagen der Rechtsordnung ist? Man sagt ja häufig, in „der islamischen Welt“ gelte die Scharia. Ist das so?

Rohe 
Das kann man so nicht sagen. Wir müssen trennen zwischen dem religiös-ethischen Bereich einerseits und dem rechtlichen Bereich andererseits. Jeder Muslim kann, wo halbwegs Religionsfreiheit herrscht, seine Religion praktizieren. Das ist das Nichtheikle an der Sache.

Was die Rechtsordnungen angeht, ist die Lage sehr vielgestaltig. In Saudi-Arabien sieht es anders aus als in Indonesien oder im Iran oder in Marokko. Man wird insgesamt sagen können, dass sich die Scharia in ihrer traditionelleren Ausprägung nur noch in wenigen Bereichen behauptet hat, insbesondere im Eherecht, im Familienrecht und im Erbrecht. Das sind die klassischen Domänen der Scharia. Das drakonische Strafrecht haben – Gott sei Dank – die meisten islamisch geprägten Staaten seit langem abgeschafft. Manche Staaten haben es beibehalten, einige haben es wieder eingeführt, etwa der Iran und Nigeria. Das ist vor allem ein Politikum: Man kann damit versuchen, ganz bestimmte politische Dinge zu erzeugen.

Viele Bereiche des Rechts hat der Islam traditionell überhaupt nicht geregelt oder nur sehr vage: das ganze Staatsrecht, das Verwaltungsrecht und vieles im Wirtschaftsrecht. Da hat man sich umgesehen, wo man in anderen Staaten Regelungen fand, die man übernehmen konnte. So hat man etwa sehr viel vom französischen Recht übernommen.

Es gibt auch Teile der Scharia, die mit unserem bürgerlichen Gesetzbuch völlig übereinstimmen. Etwa, dass ein Vertrag zustande kommt durch ein Angebot und einen Annahmeerklärung, die sich inhaltlich decken. Das ist Scharia pur, und es ist bürgerliches Gesetzbuch pur. Da gibt es viele Übereinstimmungen bis hin zu völlig identischen Aussagen. Man muss also genau hinschauen. In manchen Staaten wird Bezug genommen auf die Scharia in ihren traditionellen Ausprägungen, etwa in Saudi-Arabien. In anderen Staaten wie etwa Ägypten stehen nur „die Prinzipien der Scharia“ in der Verfassung, als Hauptquelle der Gesetzgebung. Die Lage ist vielgestaltig. Wenn „die Scharia“ in einem Staat gilt, dann weiß man noch nicht, wie sie konkret umgesetzt wird.

Darüber hinaus sollten wir nicht vergessen, dass die Rechtssituation in vielen dieser Staaten weniger vom islamischen Recht geprägt wird, als wir manchmal denken. Etwa in Afghanistan: Da gilt vielfach das sogenannte Paschtunwali, ein altes Gewohnheitsrecht, das mit Scharia wenig bis gar nichts zu tun hat. Die Frauen im Gebiet der Paschtunen wären vermutlich froh, wenn sie das bekämen, was die Scharia ihnen selbst in ihrer strengsten Auslegung zubilligt. Nach der Scharia sind sie nämlich ein Rechtssubjekt. Darauf sind Muslime stolz, dass man Frauen von Objekten, die man vererben konnte, wenn der Mann gestorben ist, zu eigenständigen Subjekten gemacht hat. Das ist leider in Afghanistan in diesen Zonen überhaupt nicht der Fall.

Gerade im Bereich der Frauenrechte kommt es darauf an, wie die Quellen gelesen werden. Wir finden im Koran Aussagen, die geschlechterungleich sind. Nun sind das Aussagen, die zunächst einmal in das 7. Jahrhundert hineingegeben wurden (da sah es auch bei uns noch anders aus als heute). Einige moderne Stimmen sagen, man müsse nicht am Wortlaut des Korans kleben bleiben, sondern man müsse die Botschaft des Korans dynamisch lesen, nach dem Motto: „Der Koran hat die inhärente Botschaft, die Stellung von Frauen immer weiter zu verbessern.“ Und dann gehen einige so weit zu sagen: Das heißt im 21. Jahrhundert: „Nicht mehr nur gleiche Würde der Geschlechter, sondern auch gleiche Rechte.“ Das ist nicht der Mainstream in der islamischen Welt. Aber es sind Stimmen, die vor allem unter jungen Leuten laut werden, nicht zuletzt unter Musliminnen und Muslimen, die hier unter uns leben. 

Reinbold 
Herr Salama, lassen Sie uns auf Ägypten schauen. In der neuen Verfassung soll der Satz stehen, dass zwar nicht „die Scharia“, wohl aber „die Grundsätze der Scharia“ Grundlage der Rechtsordnung sein sollen. Ist das etwas, wovor man Angst haben muss? Oder ist es im Grunde ein Satz, der alles und nichts bedeuten kann?

Salama
Der umstrittene Artikel 2 besteht seit 1980. Die Muslimbruderschaft hat ihn nicht eingeführt, sie hat kein Wort in diesem Artikel geändert. Es ist also nichts Neues. Neu in unserer Verfassung, die bald zur Abstimmung vorgelegt wird und die man auch online nachlesen kann, ist der Artikel 3, der Christen und Juden betrifft. Danach haben sie das Recht, ihr Privat-, Ehe- und Erbrecht gemäß ihrer Religion zu regeln. Das stand bisher nicht in der Verfassung.

In der Verfassung steht auch, dass alle Gesetze, die vorher bestanden, nicht von der neuen Verfassung betroffen sind. Das betrifft vor allem unser Strafrechtssystem, das aus dem französischen Recht stammt – auch wenn Frankreich weit von unserem Strafrecht entfernt ist, denn wir haben noch die Todesstrafe. Auch beim Wirtschaftssystem ist es so. Es ist angelehnt an das amerikanische System, und es wird bleiben, wie es war. Es besteht daher keine Gefahr, dass jetzt die Islamisten kommen und Hände abhacken werden und Ähnliches mehr. Das steht nicht zur Debatte.

Reinbold 
Nun gibt es aber viele Leute, die das offenbar anders sehen. Jeden Abend in den Nachrichten sehen wir Bilder von Demonstranten und oft auch von Demonstrantinnen. Sie sind sehr böse und sagen: „Wir haben die Revolution begonnen. Und jetzt kommen diese Leute und machen alles kaputt“. Ist das aus Ihrer Sicht völlig unbegründet? 

Salama 
Nein, es ist nicht völlig unbegründet. Allerdings wollen diese Leute alles auf einmal erreichen, sie wollen das ganze System auf einmal ändern, in kurzer Zeit. Das geht nicht, das ist das Problem. Es gibt viele Muslime und viele Christen, die gegen die Verfassung protestieren. Die Mehrheit der Christen in Ägypten sind Kopten. Daneben gibt es Katholiken und Evangelische. Bei den Kopten gibt es genauso wie bei den Katholiken kein Recht auf Scheidung. Deswegen demonstrieren sie gegen die neue Verfassung, die die christlichen Vorschriften im Eherecht wieder verwenden will: Sie wollen auch die Scheidung.

Rohe 
Ich habe Verständnis für die Leute, die auf die Straße gehen, und zwar wegen des Artikels 221 dieses Entwurfs. Der ist etwas versteckt in den Übergangsvorschriften. Herr Salama hat völlig Recht: Der Artikel 2 bleibt wie er ist. Der Artikel 221 konkretisiert allerdings, was „Scharia“ heißen soll. Er ist im Grunde eine Konzession an die Salafisten, die ja politisch sehr stark geworden sind. Die Salafisten haben sich nicht durchgesetzt. Sie wollten, dass die Einzelbestimmungen der Scharia Verfassungsrang erhalten sollen. Dazu ist es nicht gekommen. Aber es gibt jetzt einen Bezug zur islamischen Jurisprudenz, zu den vier sunnitischen Rechtsschulen. Das kann konkrete Auswirkungen haben.

Ein Beispiel: Der ägyptische Verfassungsgerichtshof hatte zu entscheiden, ob eine Ehefrau, die ohne Einwilligung ihres Ehemannes berufstätig wird, ihren Unterhalt verliert (das war übrigens bei uns in Deutschland auch so bis 1959, dass Frauen eine Genehmigung brauchten, was die Sache nicht besser macht). Der Verfassungsgerichtshof hat gesagt: Es gibt keine feststehende Bestimmung in der Scharia, die sagt, dass die Frau diese Einwilligung benötigt. Deswegen könne man nach den Umständen von Zeit und Ort interpretieren. Es sei doch nützlich, dass die Frau berufstätig ist, und deswegen verliere sie nicht ihren Unterhaltsanspruch.

Diese Art der Rechtsprechung könnte sich ändern, wenn ägyptische Gerichte auf traditionellere Interpretationen festgelegt werden sollten. Die klassischen Werke sind voll von restriktiven Aussagen im Hinblick auf Ehefrauen. Sie müssen den Mann fragen, wenn sie nur das Haus verlassen wollen. Selbst wenn ein Angehöriger stirbt, sagen manche, dass sie nur mit Erlaubnis des Ehemannes gehen dürfen. Es muss nicht so sein, dass man in Ägypten zukünftig auf solche Regeln Bezug nimmt, aber die Gefahr ist vorhanden.

Es stimmt mich schon etwas sorgenvoll, wenn wir sehen, dass die Salafisten zum Beispiel versuchen, die Eherechtsreform von 2000 zurückzudrehen. Da hat man den Frauen zum ersten Mal ein erhebliches Maß an Erleichterung bei der Ehescheidung eingeräumt – übrigens unter Berufung auf eine Tradition des Propheten des Islam, Mohammed, der das so gehandhabt habe, was in den späteren Jahrhunderten wieder vergessen worden sei (ein Beispiel, das zeigt, dass das Patriarchat manchmal stärker ist als die Quellen). Diese Erleichterung gibt es, und sie scheint auch tatsächlich zu wirken. Es war eines der ersten Gesetze, die im (damals noch bestehenden, jetzt wieder aufgelösten) Parlament angegriffen wurden. Man hat das dann zwar irgendwie auf dem kleinen Dienstweg erledigt, aber da sind die Bedenken meines Erachtens doch gerechtfertigt. Wenn man von den vagen Prinzipien weggeht und „die Grundsätze der Scharia“ auf diese Weise konkretisiert, dann spielt das vermutlich eher den Radikalen in die Hände.

Interessant ist nun die Frage: Warum machen die das? Im Programm der Partei der Muslimbrüder steht das nicht drin, da konnte man eigentlich eher andere Dinge erhoffen. Ich höre Folgendes aus Ägypten, von Leuten, die in Kairo relativ nah dran sind. Sie sagen: Ägypten muss einen 4,8 Milliarden-Dollar-Kredit des Internationalen Währungsfonds zurückzahlen und dafür hart sparen, mit Maßnahmen, die vor allem die armen Leute treffen. Subventionen für Grundnahrungsmittel werden gestrichen und Ähnliches mehr. Es könnte so sein, dass es ein politisches Kalkül gibt bei Mursi und anderen, dass man die Salafisten nicht auf der Straße gebrauchen kann in der Opposition gegen diese Sparmaßnahmen, sondern dass man versuchen muss, sie einzubinden. Das liberale säkulare Lager ist zu schwach und zu zerstritten, um als einziger Aliierter in Betracht zu kommen. Die Maßnahmen, die wir in den letzten Tagen sehen, bestätigen diese Einschätzung in gewisser Weise. Was mir wiederum zeigt: Politik ist auch in diesen Ländern vor allem Realpolitik. Da geht es weniger um die Neuauslotung des Raumes der Religion. Das ist längst passiert in den letzten Jahrzehnten, diese Re-Religionisierung. Sondern es geht darum: Wie können wir wirtschaftliche Maßnahmen so durchführen, dass wir die nächsten Wahlen gewinnen? Wie können wir diese massiven Probleme angehen? Solche Fragen scheinen mir oft wichtiger zu sein als die Themen, auf die wir uns so sehr aus unserer Außenperspektive konzentrieren. 

Salama 
Genau. Da gibt es nicht viel zu ergänzen, Sie haben das schön zusammengefasst. Es ist eine Auslegungsfrage. Wenn die Salafisten am Ende die Verfassungsrechtler bei uns in Ägypten sein sollten, wenn sie auslegen, was man unter „Scharia“ versteht und dann die Gesetze abschaffen, die die Stellung der Frauen verbessert haben, dann ist die neue Verfassung eine Gefahr. Wenn man das Programm der Muslimbrüder liest, kann man daraus nicht entnehmen, dass sie den gleichen Kurs wie die Salafisten einschlagen werden.

Reinbold 
Wir waren jetzt eine Weile in Ägypten und den Arabischen Ländern. Lassen Sie uns nun unserem Thema gemäß nach Deutschland kommen. Ich beginne noch einmal mit dem bereits zitierten Satz: „Die religiösen Vorschriften der Scharia genießen den Schutz der Religionsfreiheit nach Artikel 4 Grundgesetz“, sagt der wissenschaftliche Dienst des Bundestages. Ist das so, Herr Rohe? Und wenn ja: Was bedeutet das? 

Rohe
Das ist ein sehr seriöser Dienst, was er sagt, stimmt. Die religiösen Vorschriften der Scharia genießen in den Grenzen, die die deutsche Verfassung zieht, den Schutz der Religionsfreiheit. Das ist eine wichtige Aussage. Nach meinem Eindruck ist diese Botschaft in vielen Teilen der Bevölkerung noch nicht so recht angekommen. Religionsfreiheit gilt für alle gleichermaßen, für die Mehrheit ebenso wie für größere oder kleinere Minderheiten. In einer repräsentativen Aussage noch vor Sarrazins Zeiten haben fast 58 % der Deutschen gesagt, sie hielten es für richtig, die religiösen Rechte von Muslimen hierzulande spürbar einzuschränken. Das ist eine Haltung, die man mit dieser Angst erklären kann, mit dieser abstrakten Angst vor dem Islam. Sie ist aber nicht vereinbar mit unseren Verfassungsgrundlagen.

Die deutsche Verfassung kennt keine fremde oder einheimische Religion. Das ist ja gerade der Charme des säkularen Staates, dass er keinen bevorzugt oder benachteiligt. Das ist der Grundsatz unseres Rechtes. Wenn Muslime versuchen, ihre Rechte vor unseren Gerichten durchzusetzen, dann haben sie da übrigens insgesamt sehr verlässliche Verbündete. Ich weiß von verschiedenen Gerichtspräsidenten, dass sie gelegentlich hässliche Post bekommen, wenn Entscheidungen unter normaler Anwendung des Rechts zugunsten muslimischer Parteien gefällt werden. Viele scheinen damit nicht so recht einverstanden zu sein. Neu ist, dass diese hässliche Post auch unterschrieben wird mit Namen, gelegentlich sogar mit akademischen Titeln, und oft in einem Duktus, der mitteleuropäischen Kommunikationsformen nicht entspricht. Man sieht daran, dass es eine gewisse Diskrepanz gibt zwischen der bestehenden Rechtsordnung und der Wahrnehmung der Sachlage in der Bevölkerung, die zu erheblichen Teilen von Ängsten geplagt ist.

Reinbold 
Lassen Sie uns auf die praktischen Beispiele zu sprechen kommen. Wenn eine Moschee gebaut werden soll, gibt es fast regelmäßig Ärger und Demonstrationen, wir haben es in Köln und andernorts gesehen. Dann kommen Fragen auf wie: Darf die Moschee ein Minarett haben? Darf man von dort zum Gebet rufen? Wenn ja: Wie laut darf man dort rufen? Herr Salama, sind das Fragen, wo man nach dem, was Herr Rohe gesagt hat, im Grunde gar nicht diskutieren müsste, weil all das in Deutschland erlaubt sein muss? 

Salama 
Nein, es ist nicht völlig klar, dass es erlaubt sein muss. Der Bau einer Moschee ist genau wie der Bau einer Kirche zu behandeln. Er unterliegt unserem Baurichtliniengesetz. Das heißt, die Moschee muss sich in den Ort einfügen, sie muss in das Bild der Umgebung passen. Ein Minarett ist seitens des Islam nicht zwingend vorgeschrieben. Wenn eine muslimische Gemeinde darauf besteht, ein Minarett haben zu wollen, dann muss sie sich an die Vorgaben des Baurechts halten, etwa, was die Höhe des Minaretts anbetrifft. In der Frühzeit des Islam war ein Minarett notwendig, damit die Stimme des Muezzins, des Gebetsrufers, alle Menschen erreicht. Heute ist das nicht mehr notwendig. Heute hat jeder ein Handy oder einen Wecker oder Ähnliches zu Hause und weiß genau, wann zum Gebet gerufen wird. Außerdem hat der Gebetsruf keine missionarische Funktion im Islam. Muslime müssen die Leute nicht belästigen, nicht missionieren. Die Debatte um Minarette ist eigentlich eine oberflächliche Debatte. Im Blick auf die islamischen Grundlagen ist sie nicht notwendig. 

Reinbold 
Ich konstruiere einmal: Eine Gemeinde kommt und sagt: Wir hätten gern ein Minarett. Das soll so hoch sein wie der Kirchturm nebenan. Und vom Minarett soll so laut gerufen werden wie von den Glocken nebenan – und die sind ja nach Meinung vieler Leute schrecklich laut. Herr Rohe, ist das etwas, das nach deutschem Recht möglich sein müsste?

Rohe 
Da kommt es sehr auf die Umstände des Einzelfalls an: Wo ist diese Moschee genau angesiedelt? – Wir haben ja immer noch das Phänomen, dass viele Moscheen in Industriegebieten oder Mischgebieten untergebracht sind. Das ist eigentlich nicht der vom Baurecht vorgesehene Ort. Diese Standorte haben zu tun mit der Entwicklung des Islam als einer Gastarbeiterreligion. Man hat zunächst versucht, an den billigsten Orten unterzukommen.

Also: Wo ist diese Moschee genau angesiedelt? Gibt es dort im Umfeld eine Wohnbevölkerung? Und ähnliche Dinge mehr. Ich finde es gut und wichtig, was Herr Salama gesagt hat, nämlich, dass Muslime in der Regel einen Gebetsruf gar nicht brauchen und wollen. In einem Land, in dem auch das Kirchengeläut morgens um 6 Uhr schon Anstände macht, ist es wahrscheinlich auch nicht klug, so etwas zu forcieren. In manchen Städten wird gelegentlich zum Freitagsgebet gerufen, das um die Mittagszeit stattfindet. Das hat einen gewissen Symbolcharakter und wird in der Regel die Umgebung nicht stören.

Was das Minarett angeht, hat Herr Salama das richtige Stichwort genannt. Es muss sich einfügen in die Umgebung, in Höhe und Breite und so weiter. Wichtig dabei ist: Es gibt keinen rechtskulturellen Bestandsschutz in Deutschland, in dem Sinne, dass man sagen könnte: Kirchen gab es schon immer, und also darf man auch weiterhin Kirchtürme bauen. Moscheen hingegen sind etwas Neues, sie fügen sich nicht ein. So geht es nicht, das hat eine Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Koblenz sehr deutlich gemacht im Zusammenhang mit einem Urteil zu einem Minarett in einem kleineren Ort in der Eifel. Wir müssen das Recht auch hier dynamisch lesen. Wir haben mittlerweile eine Bevölkerungsgruppe von schätzungsweise 4 Millionen Muslimen, die zum größten Teil auf Dauer in Deutschland leben werden, und es ist das natürlichste von der Welt, dass sie sich eine religiöse Infrastruktur geben.

Wichtig ist mir zu betonen, dass wir allerdings die Ebene des Rechts nicht überschätzen sollten. Gott sei Dank sind die meisten Moscheebauten nicht vor Gericht gelandet. Wir müssen vor allem die soziale Ebene in den Blick nehmen. Es gibt eine ganze Anzahl erfolgreicher Moscheebauprojekte, wo muslimische Vereine frühzeitig auf Verwaltungen und Stadtgesellschaften zugegangen sind, wo sie offen gelegt haben, wer sie sind und was sie möchten, wo sie versucht haben, Verbündete zu finden – die Kirchen sind da oft sehr verlässliche Partner. Das ist der richtige Weg. Wer erst einmal gar nichts sagt, der löst möglicherweise Ängste aus. Die Leute fragen sich: Wer ist denn das? Ist es ein Gebetshaus, oder ist es ein Terroristennest? Und dann geht es plötzlich um Fragen wie die der Autostellplätze.

Besser ist es, von vornherein aufeinander zuzugehen und zu klären, was geht und was nicht geht. Es gibt ja Städte, die den Leuten helfen, ein Grundstück zu finden – und oft genug ist das Grundstücksproblem das entscheidende. Das Recht hat seine Grenzen. Wer in einer Stadtgesellschaft abgelehnt wird, der wird nicht viel davon haben, wenn er versucht, irgendetwas vor Gericht durchzusetzen. Mein dringender Rat an dieser Stelle ist, ein offenes Gespräch mit allen Beteiligten zu führen. Man muss schauen, wo was am besten passt. Mittlerweile haben wir ja Städte, die auf ihre Moscheebauten stolz sind. Denken Sie an die Moschee in Penzberg, wo sogar Architekturstudenten hinpilgern und sich die Sache anschauen. Islam auf postmodern, das scheint irgendwie reinzupassen. 

Salama
Ich stimme völlig zu. Es gibt eine Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts aus dem Jahr 1990, das die Weichen zum Moscheebau gestellt hat und die Frage der Gleichbehandlung von Moscheebauten und Kirchbauten geklärt hat. Das Gericht hat angeordnet, dass die Moscheegemeinden so behandelt werden müssen, als ob sie eine Kirche sind – auch wenn die muslimischen Gemeinden nicht denselben Status haben wie die Kirchen. Wenn eine Moschee ein Grundstück sucht, dann muss die Kommune den Muslimen dabei helfen, eins zu finden.