Mitschrift: Scharia. Eine Gefahr für das deutsche Recht? (Teil 2)

Zum Gespräch: Scharia. Eine Gefahr für das deutsche Recht?


Vielehe in Deutschland?

Reinbold 
Ein anderes Thema, das immer wieder für Aufregung sorgt, ist das Thema „Vielehe“. Immer wieder gibt es Berichte, dass Muslime auch in Deutschland mehrere Frauen haben. Kürzlich gab es eine Talkshow mit Sandra Maischberger, in der eine Schweizerin, eine Konvertitin eingeladen war, voll verschleiert, nur mit einem kleinen Sehschlitz. Sie sagte, ihr Mann hätte mehrere Frauen, das sei gut so, und man solle das ganz allgemein zulassen. Gibt es da vom deutschen Recht her irgendetwas zu verhandeln, Herr Rohe?

Rohe 
Da gibt es nichts zu verhandeln, und zwar in zwei Richtungen nichts. Wer versuchen würde, vor einem deutschen Standesamt eine polygame Ehe einzugehen, würde sich strafbar machen. Es gibt eine Norm im Strafgesetzbuch, die das ausdrücklich verbietet. Sie zeigt sehr deutlich, wie das deutsche Recht zu diesem Phänomen steht. Es stellt es unter Strafe.

Aber das sind nicht die Fälle, die wir typischerweise erleben. Die Fälle, die wir haben, sind Fälle, in denen Menschen im Ausland nach dem dort geltenden Recht wirksam eine solche Ehe eingegangen sind und nun in Deutschland leben. Die Vielehe gibt es ja noch in vielen Ländern der islamischen Welt, auch wenn sie zurückgedrängt wird. Aber es gibt sie noch – übrigens auch in nicht vom Islam geprägten Staaten wie Südafrika oder Thailand. Wenn diese Menschen in Deutschland leben, stellt sich die Frage, wie wir damit umgehen sollen. Und da sagt das deutsche Recht: Wir unterscheiden zwischen Lebenssituationen. Die Zweitfrau bekommt keine Einreiseerleichterung als „Ehefrau“. Da ignorieren wir die „Ehe“ und sagen: Nur eine Ehe ist wirksam. Aber wenn es um Ansprüche der Zweitfrau gegen ihren Ehemann geht, um Ansprüche auf Unterhalt oder auf Erbberechtigung oder auf Teilhabe an Sozialversicherungsansprüchen, die er selbst erworben hat, da ist die Position deutscher Gerichte, dass sie sagen: Wir missbilligen zwar das Phänomen der Polygamie. Aber auf der anderen Seite hat doch diese Frau darauf vertraut, dass sie gegen ihren Ehemann diese Ansprüche hat. Deswegen kann sie solche Ansprüche auch vor deutschen Gerichten durchsetzen. Das ist das sogenannte Internationale Privatrecht, das hier zur Anwendung kommt.

Ein anderer Fall ist es, wenn Muslime solche Beziehungen informell eingehen, sei es, dass ein Imam das attestiert oder dass man es einfach so macht. Dazu verhält sich das deutsche Recht neutral. Die Ménage à trois ist keine Erfindung des islamischen Rechtes. Wir haben uns mittlerweile an die unterschiedlichsten Formen menschlichen Zusammenlebens gewöhnt oder doch jedenfalls gelernt, sie zu tolerieren. Ich höre von manchen jungen Musliminnen und Muslimen, dass sie solche Beziehungen eingehen, um dann später vielleicht einmal irgendwelche andere gefestigte Beziehungen daraus entwickeln zu können, es ist ein vielgestaltiges Bild. Wichtig ist: Wir müssen auch hier nur auf unseren eigenen Maßstäben beharren. Da wo man versuchen würde, eine solche Beziehung offiziell vor den Standesämtern zu schließen, ist sie verboten und strafbar. Da wo hierzulande jeder und jede tun und lassen kann, was man will, da können es auch Muslime tun. Man muss das nicht gut finden. Aber das sind offene Handlungsräume in der Gesellschaft.

Salama 
Ich stimme zu. Es betrifft nur Härtefälle und nur Personen mit Auslandsbezug. Kein deutscher Moslem darf nach deutschem Recht eine solche Ehe schließen. Es betrifft nur Fälle, in denen die Ehe im Ausland geschlossen wurde. Nur in diesen Härtefällen, wenn es um die Rechte der Frau geht, die sie gegenüber ihrem Ehemann geltend machen möchte, greift das deutsche Recht für die Ehefrau ein und anerkennt die im Ausland geschlossene „Ehe“.

Reinbold 
Stichwort „Internationales Privatrecht“: Bedeutet das, dass man nach dem Recht des Landes beurteilt wird, aus dem man stammt? Also: Wenn ich Saudi-Araber bin, habe ich das Recht, nach saudi-arabischem Recht behandelt zu werden, auch in Deutschland?

Das „Internationale Privatrecht“

Rohe 
In gewissem Umfang und in deutlichen Grenzen, ja. Wir haben da gerade eine wesentliche Rechtsänderung, die ich hier einmal auf sich beruhen lasse. Bisher war es in diesen Familienangelegenheiten in der Tat häufig so, dass wir die Leute nach ihrem sogenannten „Heimatrecht“ beurteilt haben. Wohl wissend, dass diese Heimatrechte sich inhaltlich unterscheiden von dem, was das deutsche Recht vorschreibt. Warum tun wir so etwas, warum lassen wir fremdes Recht rein? Dazu ist zunächst wichtig zu sagen: Wir lassen es rein. Unser Recht öffnet die Tür. Es ist nicht das fremde Recht, das sich reindrängt, sondern es ist das deutsche Recht, das die Tür öffnet.

Der Grund dafür ist der Folgende: Es gibt internationale Rechtsverhältnisse. Leute leben mal hier, mal da. Es kommt darauf an, dass sie sich auf das verlassen können, was sie einmal rechtlich erworben haben, dass sie es nicht verlieren, wenn sie eine Rechtsgrenze überschreiten. Wenn ich eine Uhr in Frankreich kaufe, verliere ich sie nicht, wenn ich nach Deutschland komme. Das ist eine Form von Bestandsschutz. So ist es in bestimmtem Umfang auch in Familienverhältnissen. Allerdings wissen wir sehr wohl, dass eine Rechtsordnung vor allem auch eine Friedensordnung sein muss. Der Bestandsschutz kann daher nicht alles sein. Wenn wir fremdes Recht anwenden würden und diese Anwendung zu einem Ergebnis führen würde, das zu unseren grundlegenden Überzeugungen im Widerspruch steht, dann greift der sogenannte „Ordre public“ ein, mit dem Ergebnis, dass wir das Recht dann nicht anwenden. Also: Wir halten unsere Maßstäbe aufrecht, sind aber in diesen internationalen Fällen in gewissen Grenzen flexibel, weil wir unsere rechtsprinzipiellen Diskussionen nicht auf dem Rücken betroffener Personen austragen wollen. Es geht hier – und wir reden hier wohlgemerkt nur über private Rechtsverhältnisse, wir reden nicht über Strafrecht, wir reden nicht über öffentliches Recht –, es geht um ein gewisses Maß an Verlässlichkeit in diesen privaten Angelegenheiten. Das ist ein Prinzip, das international seit vielen Jahrzehnten, ja Jahrhunderten praktiziert wird.

Reinbold 
Um beim Thema Ehe zu bleiben: Es hat in Frankfurt einen Fall gegeben, der für viel Aufregung gesorgt hat. Eine aus Marokko stammende Frau ist regelmäßig von ihrem Mann geprügelt worden. Sie ist dann vor das deutsche Gericht gezogen und hat gesagt: „Ich will mich scheiden lassen, und zwar ohne Trennungsjahr, sofort“. Die Richterin hat den Antrag abgelehnt und die Entscheidung begründet mit dem Hinweis, es sei ja schließlich so, dass in Marokko in gewissem Umfang die Scharia gelte, nach der es erlaubt und üblich sei, dass der Mann die Frau schlage. Herr Salama, ist das aus Ihrer Sicht ein richtiges Urteil? 

Salama 
Es ist ein beschämendes Urteil. Die Richterin hat verkannt, dass unser Internationales Privatrecht sich auf das im Lande geltende Recht bezieht und nicht auf das, was im Koran steht – auch wenn man auch das noch einmal diskutieren müsste: Was im Koran wirklich steht, welche Auslegung es zurzeit gibt, ob man nach dem Koran wirklich schlagen darf, ich lasse das einmal dahingestellt. – Der Hauptfehler war: Die Entscheidung hat das deutsche Recht nicht beachtet, und sie hat sogar das marokkanische Recht nicht beachtet. Für mich als Muslim sind solche Entscheidungen eigentlich Provokationen.

Rohe 
Auch die Justiz ist nicht unfehlbar. Wir haben es kürzlich wieder im Urteil des Landgerichts Köln zur Frage der Beschneidung gesehen, das jetzt wieder zurechtgerückt wurde. Im Frankfurter Fall ging es um eine Prozesskostenhilfeentscheidung. Es ging gar nicht um ein Urteil, sondern nur um die Frage: Bekommt die Frau für ihren Scheidungsantrag Prozesskostenhilfe? Hier sind drei Fehler auf einmal gemacht worden.

Erstens, wie Herr Salama sagt, hätte die Richterin das deutsche Internationale Privatrecht anwenden müssen. Damit kommt man in das marokkanische Recht. Das marokkanische Recht hat im Artikel 98 seit dem Jahr 2004 eine Bestimmung, die es einer Ehefrau ermöglicht, die Scheidung zu beantragen, wenn ihr „Schaden“ zugefügt wird. Die Kommentarliteratur dazu sagt: Schwere Misshandlungen sind solch ein „Schaden“, da gibt es keine Trennungsfrist. Schon deshalb hätte die Frau durchkommen können und müssen.

Zweitens: Wenn das marokkanische Recht anders wäre und das Schlagen zulassen würde – es ist nicht so, wohlgemerkt –, dann hätten wir doch um Gottes Willen unseren Ordre public anwenden und sagen müssen: Es zählt zu den Grundfesten des deutschen Rechts, dass eine Ehefrau, die schwer misshandelt wird, sich nicht formal am Eheband festhalten lassen muss. Das ist eine feststehende Rechtsprechung unserer Oberlandeskirche. Man hätte hier eingreifen müssen mit dem Ordre public.

Drittens, wie Herr Salama schon sagte: Wir sollten uns dringend davor hüten, uns als säkularstaatliche Richter zu Auslegern des Korans aufzuschwingen. Weder die Bibel noch der Talmud noch der Koran sind irgendwo geltendes Recht.

Reinbold 
Sie sagen, es ist ein Fehlurteil in dreierlei Hinsicht. Nicht wenige Leute sorgen sich allerdings, dass solche Fehlurteile in deutschen Gerichten zunehmen. Ist dem so?

Rohe
Es gibt nicht sehr viele Urteile in diesen Bereichen, die ich nicht kenne, soweit sie publiziert wurden. Das ist unser Spezialgebiet am Institut für Islam und Recht in Europa an der Universität. Das Frankfurter Urteil ist ein absoluter Ausreißer. So etwas passiert, wenn man mal einen schlechten Tag hat. Zur Verteidigung der Richterin muss man sagen: Sie hatte der geschädigten Ehefrau zuvor geholfen, indem sie gegen den Mann ein Umgangsverbot verhängt hat. Er durfte sich ihr nicht nähern und Ähnliches mehr. Ich habe die Vermutung, dass es so gewesen sein könnte, dass die Richterin dann gesagt hat: „Jetzt sollen wir das Ganze auch noch mit einer Prozesskostenhilfe finanzieren. Irgendwo wird es zu viel“. So oder so: Man ist als Richter und Richterin vielleicht nicht völlig gefeit vor allgemeinen Stimmungen und Trends. Umso wichtiger ist es, sich sehr getreu ans Gesetz zu halten, in nüchterner Sachlichkeit. Insgesamt muss ich trotz mancher Fehlentscheidung sagen: Man kann der deutschen Justiz insgesamt ein gutes Zeugnis ausstellen. Die haben die Sache ganz gut im Griff.
 

Schwimmunterricht

Reinbold 
Lassen Sie uns zum nächsten heißen Eisen kommen, dem Thema Schwimmunterricht in der Schule. Vor ein paar Wochen zog eine Familie in Niedersachsen vor Gericht und sagte: „Wir können unsere Tochter nicht in den Schwimmunterricht gehen lassen. Der Islam verbietet das“. Das Gericht hat das zurückgewiesen. Ist das ein richtiges Urteil, Herr Salama?

Salama 
Es kommt darauf an, in welchem Alter der Vater den Antrag gestellt hat. 

Reinbold 
Das Mädchen war zehn Jahre alt, 5. Klasse Gymnasium. 

Salama 
Das Bundesverwaltungsgericht hat entschieden, dass es im Alter von zwölf bis dreizehn Jahren möglich ist, eine Befreiung zu beantragen, das heißt ab der Geschlechtsreife. Wenn wir andere Bundesländer betrachten, so ist es so, dass gemeinschaftlicher Schwimmunterricht zum Beispiel in Bayern und in Baden-Württemberg nur selten angeboten wird. Ich glaube, in Bayern werden die Geschlechter zu 93 % getrennt, in Baden-Württemberg zu 73 % (hier in Niedersachsen zu 50 %). Manchmal verstehe ich nicht, warum wir auf dem gemischtgeschlechtlichen Sportunterricht beharren, wenn die Leute sich auf ihre Religionsfreiheit berufen. Auf der anderen Seite habe ich in meiner Doktorarbeit ein Urteil des Oberverwaltungsgerichts Niedersachsen scharf kritisiert, wo die Kinder acht oder neun Jahre alt waren und das Gericht dem Antrag auf Befreiung vom Sportunterricht dennoch stattgegeben hat. Das ist für mich unakzeptabel. 

Reinbold 
Es ist unakzeptabel in jungen Jahren, aber ab der Pubertät akzeptabel. Sehen Sie das genauso, Herr Rohe?

Rohe 
Die Grenzziehung ist in der Tat wichtig. Wir haben das auch bei der deutschen Islamkonferenz debattiert und ein entsprechendes Papier verabschiedet, wie Schulen mit solchen Dingen umgehen können unter den Rahmenbedingungen des geltenden Rechts. In der Tat ist es so, dass ab einem gewissen Alter der gemischtgeschlechtliche Sport- und Schwimmunterricht problematisch werden kann. Ich selbst bin in Stuttgart zur Schule gegangen, da war der Unterricht seinerzeit auch getrennt. Ich sage einmal: Es könnte ja sein, dass in dem Alter die primären Unterrichtsziele etwas aus den Blickfeld geraten, wenn Jungs und Mädchen zusammen sind, egal welcher Religion sie angehören. Also könnte eine Trennung möglicherweise sinnvoll sein.

Auf der anderen Seite können wir gerade in diesem Bereich eine interessante Entwicklung beobachten. Seit 1993, seit der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts, hat sich etwas getan. Bis dahin fielen Entscheidungen von Anträgen muslimischer Eltern manchmal ganz anders aus als Entscheidungen von Anträgen christlicher Eltern. Man hat Muslimen manche Konzessionen gemacht, die man Christen nicht gemacht hat, sei es im Sexualkundeunterricht oder anderen Fächern. Man kann sich fragen: Wie kommt das?

Meine Erklärung ist, dass man die Betroffenen unterschiedlich gesehen hat. Man hat gesagt: Die Christen gehören hier dazu, der staatliche Bildungsauftrag ist wichtig, diese Leute bleiben hier und müssen das erzieherische Minimum mitbekommen. Die muslimischen Kinder hat man demgegenüber als Gastarbeiterkinder gesehen. Man hat gedacht: Die gehen wieder, die bekommen muttersprachlichen Ergänzungsunterricht, sie sollen ihrer eigentlichen Heimat nicht entfremdet werden. Ich will das nicht kritisieren, im Nachhinein ist man immer klüger. So war eben das Bewusstsein: Die Muslime sind kein Problem auf Dauer für unsere Gesellschaft, sie können kulturell machen, was sie wollen. Das ändert sich jetzt. Seither haben wir eine ganze Serie von Gerichtsentscheidungen, die den staatlichen Erziehungs- und Bildungsauftrag auch bei Muslimen höher hängen. Ich halte das für richtig. Es kommt jetzt zu einer Gleichbehandlung von christlichen und muslimischen Anliegen.

Im Übrigen rate ich auch hier dazu, genau hinzuschauen. Manchmal melden Eltern ihre Töchter bzw. ihre Kinder – wir hatten auch schon den Fall eines Jungen – nicht aus wirklich religiösen Gründen ab, sondern weil es in der Schule keine Umkleidekabinen gibt, in denen man sich allein umziehen kann. Wir dürfen nicht vergessen: Wer in einer orientalischen Kultur sozialisiert ist, zeigt sich nicht nackt vor anderen, auch nicht vor Geschlechtsgenossen, auch nicht in jungen Jahren, wie es in Deutschland inzwischen sehr verbreitet ist, etwa im Sportverein. Für Menschen, die in einer orientalischen Kultur erzogen sind, ist das ein Problem. Man kann es oft durch schlichte Maßnahmen entschärfen, etwa dass die Kinder sich vielleicht zeitlich gestaffelt umziehen können oder dass man dafür sorgt, dass es kleine, eigene Umkleidekabinen gibt. Aber noch einmal: Die Grenzziehung zwischen Vor- und Nachpubertät, das ist in der Tat etwas, was vermutlich in dieser Weise erhalten bleiben wird.

Reinbold 
Nehmen wir einmal an, all diese Dinge würden von der Schule veranlasst, einzelne Umkleidekabinen und so weiter. Hätte eine Familie, die dennoch sagt, dass sie nicht möchte, dass ihr Kind am Unterricht teilnimmt, ein Recht, es abzumelden?

Rohe 
Das ist nicht mehr gesagt. Es gibt ja jetzt schon Entscheidungen zum sogenannten Burkini und ähnlichen Dingen mehr. Man muss sich selbst nicht entblößen, wenn man es nicht möchte. Es gibt eine Entscheidung, die ich auch für klug halte, die besagt: Den nackten Oberleib eines gleichaltrigen Jungen muss ein Mädchen halt aushalten. Sie muss ja auch nicht direkt hingucken, sondern kann vielleicht ein bisschen zur Seite schauen. In extremen Einzelfällen – ich glaube, den meisten Muslimen ist das auch peinlich –, haben Muslime beantragt, dass die Fenster des Bades verhängt werden müssen, damit von außen kein unzüchtiger Blick hinein geworfen werden kann. Da sagt das Recht sinngemäß: Man kann es auch übertreiben. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit muss gewahrt werden. Religiöse Anliegen haben ihr Gewicht, aber es gibt auch gegenläufige andere Anliegen. Wenn wir jedes dieser Anliegen durchsetzen wollten, hätten wir kein Geld mehr und keine Ressourcen mehr für irgendetwas anderes. Das kann es sicher nicht sein. 

Rohe
Das ist ein sehr seriöser Dienst, was er sagt, stimmt. Die religiösen Vorschriften der Scharia genießen in den Grenzen, die die deutsche Verfassung zieht, den Schutz der Religionsfreiheit. Das ist eine wichtige Aussage. Nach meinem Eindruck ist diese Botschaft in vielen Teilen der Bevölkerung noch nicht so recht angekommen. Religionsfreiheit gilt für alle gleichermaßen, für die Mehrheit ebenso wie für größere oder kleinere Minderheiten. In einer repräsentativen Aussage noch vor Sarrazins Zeiten haben fast 58 % der Deutschen gesagt, sie hielten es für richtig, die religiösen Rechte von Muslimen hierzulande spürbar einzuschränken. Das ist eine Haltung, die man mit dieser Angst erklären kann, mit dieser abstrakten Angst vor dem Islam. Sie ist aber nicht vereinbar mit unseren Verfassungsgrundlagen.

Die deutsche Verfassung kennt keine fremde oder einheimische Religion. Das ist ja gerade der Charme des säkularen Staates, dass er keinen bevorzugt oder benachteiligt. Das ist der Grundsatz unseres Rechtes. Wenn Muslime versuchen, ihre Rechte vor unseren Gerichten durchzusetzen, dann haben sie da übrigens insgesamt sehr verlässliche Verbündete. Ich weiß von verschiedenen Gerichtspräsidenten, dass sie gelegentlich hässliche Post bekommen, wenn Entscheidungen unter normaler Anwendung des Rechts zugunsten muslimischer Parteien gefällt werden. Viele scheinen damit nicht so recht einverstanden zu sein. Neu ist, dass diese hässliche Post auch unterschrieben wird mit Namen, gelegentlich sogar mit akademischen Titeln, und oft in einem Duktus, der mitteleuropäischen Kommunikationsformen nicht entspricht. Man sieht daran, dass es eine gewisse Diskrepanz gibt zwischen der bestehenden Rechtsordnung und der Wahrnehmung der Sachlage in der Bevölkerung, die zu erheblichen Teilen von Ängsten geplagt ist.

Reinbold 
Lassen Sie uns auf die praktischen Beispiele zu sprechen kommen. Wenn eine Moschee gebaut werden soll, gibt es fast regelmäßig Ärger und Demonstrationen, wir haben es in Köln und andernorts gesehen. Dann kommen Fragen auf wie: Darf die Moschee ein Minarett haben? Darf man von dort zum Gebet rufen? Wenn ja: Wie laut darf man dort rufen? Herr Salama, sind das Fragen, wo man nach dem, was Herr Rohe gesagt hat, im Grunde gar nicht diskutieren müsste, weil all das in Deutschland erlaubt sein muss? 

Salama 
Nein, es ist nicht völlig klar, dass es erlaubt sein muss. Der Bau einer Moschee ist genau wie der Bau einer Kirche zu behandeln. Er unterliegt unserem Baurichtliniengesetz. Das heißt, die Moschee muss sich in den Ort einfügen, sie muss in das Bild der Umgebung passen. Ein Minarett ist seitens des Islam nicht zwingend vorgeschrieben. Wenn eine muslimische Gemeinde darauf besteht, ein Minarett haben zu wollen, dann muss sie sich an die Vorgaben des Baurechts halten, etwa, was die Höhe des Minaretts anbetrifft. In der Frühzeit des Islam war ein Minarett notwendig, damit die Stimme des Muezzins, des Gebetsrufers, alle Menschen erreicht. Heute ist das nicht mehr notwendig. Heute hat jeder ein Handy oder einen Wecker oder Ähnliches zu Hause und weiß genau, wann zum Gebet gerufen wird. Außerdem hat der Gebetsruf keine missionarische Funktion im Islam. Muslime müssen die Leute nicht belästigen, nicht missionieren. Die Debatte um Minarette ist eigentlich eine oberflächliche Debatte. Im Blick auf die islamischen Grundlagen ist sie nicht notwendig. 

Reinbold 
Ich konstruiere einmal: Eine Gemeinde kommt und sagt: Wir hätten gern ein Minarett. Das soll so hoch sein wie der Kirchturm nebenan. Und vom Minarett soll so laut gerufen werden wie von den Glocken nebenan – und die sind ja nach Meinung vieler Leute schrecklich laut. Herr Rohe, ist das etwas, das nach deutschem Recht möglich sein müsste?

Rohe 
Da kommt es sehr auf die Umstände des Einzelfalls an: Wo ist diese Moschee genau angesiedelt? – Wir haben ja immer noch das Phänomen, dass viele Moscheen in Industriegebieten oder Mischgebieten untergebracht sind. Das ist eigentlich nicht der vom Baurecht vorgesehene Ort. Diese Standorte haben zu tun mit der Entwicklung des Islam als einer Gastarbeiterreligion. Man hat zunächst versucht, an den billigsten Orten unterzukommen.

Also: Wo ist diese Moschee genau angesiedelt? Gibt es dort im Umfeld eine Wohnbevölkerung? Und ähnliche Dinge mehr. Ich finde es gut und wichtig, was Herr Salama gesagt hat, nämlich, dass Muslime in der Regel einen Gebetsruf gar nicht brauchen und wollen. In einem Land, in dem auch das Kirchengeläut morgens um 6 Uhr schon Anstände macht, ist es wahrscheinlich auch nicht klug, so etwas zu forcieren. In manchen Städten wird gelegentlich zum Freitagsgebet gerufen, das um die Mittagszeit stattfindet. Das hat einen gewissen Symbolcharakter und wird in der Regel die Umgebung nicht stören.

Was das Minarett angeht, hat Herr Salama das richtige Stichwort genannt. Es muss sich einfügen in die Umgebung, in Höhe und Breite und so weiter. Wichtig dabei ist: Es gibt keinen rechtskulturellen Bestandsschutz in Deutschland, in dem Sinne, dass man sagen könnte: Kirchen gab es schon immer, und also darf man auch weiterhin Kirchtürme bauen. Moscheen hingegen sind etwas Neues, sie fügen sich nicht ein. So geht es nicht, das hat eine Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Koblenz sehr deutlich gemacht im Zusammenhang mit einem Urteil zu einem Minarett in einem kleineren Ort in der Eifel. Wir müssen das Recht auch hier dynamisch lesen. Wir haben mittlerweile eine Bevölkerungsgruppe von schätzungsweise 4 Millionen Muslimen, die zum größten Teil auf Dauer in Deutschland leben werden, und es ist das natürlichste von der Welt, dass sie sich eine religiöse Infrastruktur geben.

Wichtig ist mir zu betonen, dass wir allerdings die Ebene des Rechts nicht überschätzen sollten. Gott sei Dank sind die meisten Moscheebauten nicht vor Gericht gelandet. Wir müssen vor allem die soziale Ebene in den Blick nehmen. Es gibt eine ganze Anzahl erfolgreicher Moscheebauprojekte, wo muslimische Vereine frühzeitig auf Verwaltungen und Stadtgesellschaften zugegangen sind, wo sie offen gelegt haben, wer sie sind und was sie möchten, wo sie versucht haben, Verbündete zu finden – die Kirchen sind da oft sehr verlässliche Partner. Das ist der richtige Weg. Wer erst einmal gar nichts sagt, der löst möglicherweise Ängste aus. Die Leute fragen sich: Wer ist denn das? Ist es ein Gebetshaus, oder ist es ein Terroristennest? Und dann geht es plötzlich um Fragen wie die der Autostellplätze.

Besser ist es, von vornherein aufeinander zuzugehen und zu klären, was geht und was nicht geht. Es gibt ja Städte, die den Leuten helfen, ein Grundstück zu finden – und oft genug ist das Grundstücksproblem das entscheidende. Das Recht hat seine Grenzen. Wer in einer Stadtgesellschaft abgelehnt wird, der wird nicht viel davon haben, wenn er versucht, irgendetwas vor Gericht durchzusetzen. Mein dringender Rat an dieser Stelle ist, ein offenes Gespräch mit allen Beteiligten zu führen. Man muss schauen, wo was am besten passt. Mittlerweile haben wir ja Städte, die auf ihre Moscheebauten stolz sind. Denken Sie an die Moschee in Penzberg, wo sogar Architekturstudenten hinpilgern und sich die Sache anschauen. Islam auf postmodern, das scheint irgendwie reinzupassen. 

Salama
Ich stimme völlig zu. Es gibt eine Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts aus dem Jahr 1990, das die Weichen zum Moscheebau gestellt hat und die Frage der Gleichbehandlung von Moscheebauten und Kirchbauten geklärt hat. Das Gericht hat angeordnet, dass die Moscheegemeinden so behandelt werden müssen, als ob sie eine Kirche sind – auch wenn die muslimischen Gemeinden nicht denselben Status haben wie die Kirchen. Wenn eine Moschee ein Grundstück sucht, dann muss die Kommune den Muslimen dabei helfen, eins zu finden.