Mitschrift: Salafisten (Teil 1)

Zum Gespräch: Salafisten. Wie gefährlich sind sie?


Religionen im Gespräch 8, 2013

Gäste:
Claudia Dantschke, Zentrum für demokratische Kultur, Berlin
Moussa Al-Hassan Diaw, Universität Osnabrück
Moderation: Prof. Dr. Wolfgang Reinbold, Evangelisch-luth. Landeskirche Hannovers

Herzlich Willkommen zum achten Gespräch unserer Reihe „Religionen im Gespräch“, heute Abend mit dem Thema: Salafisten. Wie gefährlich sind sie?

Salafisten – das ist ein Wort, das vor zwei oder drei Jahren nur die Eingeweihten kannten. Heute ist es in aller Munde. Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht irgendetwas über Salafisten in der Zeitung steht. Und wenn Sie im Internet nachschlagen, dann stellen Sie fest, dass in einer Woche 18.000 neue Meldungen eingehen, in denen das Wort vorkommt.

Meistens sind es Meldungen wie diese:
In Nordrhein-Westfalen erklärt Innenminister Ralf Jäger (SPD), dass die Zahl der Salafisten in den letzten zwei Jahren besorgniserregend angestiegen ist, von 500 auf jetzt wahrscheinlich 1.500, eine Verdreifachung in zwei Jahren. Wahrscheinlich ist jeder zehnte von ihnen ein dschihadistischer, also ein potentiell gewalttätiger Salafist.

In Offenbach werden Fernsehjournalisten vor einer Moschee attackiert, man schlägt ihnen die Kameras aus der Hand.

In Nordrhein-Westfalen werden vier Männer festgenommen unter dem Verdacht, ein Attentat auf einen Politiker der anti-islamischen Partei „PRO-NRW“ geplant haben.

Und wir alle sind erschreckt worden von den grässlichen Bildern aus London, wo zwei Männer auf offener Straße einen britischen Soldaten mit einem Fleischermesser regelrecht geschlachtet haben und dann den Passanten, die das, wie es heute so geht, mit dem Handy gefilmt haben, zugerufen haben: „Wir schwören bei Allah dem Allmächtigen, dass wir nie aufhören werden, euch zu bekämpfen.“

Salafisten – was sind das für Leute? Wie gefährlich sind sie? Und wie viel hat das, was sie lehren und tun, mit dem ganz normalen Islam, mit dem Islam von Ali Normal-Muslim zu tun?

Das sind einige Fragen, die wir heute Abend diskutieren wollen, und ich freue mich, dass wir zwei ausgewiesene Experten zu Gast haben. Ich begrüße zu meiner Linken Claudia Dantschke aus Berlin. Sie haben in längst vergangener Zeit in der DDR Arabistik studiert, an der Universität Leipzig. Danach waren Sie einige Zeit bei einer Nachrichtenagentur tätig. Seit 20 Jahren sind Sie freischaffende Journalistin und seit 10 Jahren Mitarbeiterin im Zentrum für demokratische Kultur in Berlin. Dort haben Sie insbesondere zu tun mit „Islamismus und Ultranationalismus“. Die Beschäftigung mit dem Thema Salafismus ist für Sie Tagesgeschäft. Unter anderem haben Sie eine Beratungsstelle ins Leben gerufen, in der Angehörige Rat bekommen, deren Kinder in das salafistische Milieu abgedriftet sind. Herzlich Willkommen Frau Dantschke!

Ich begrüße herzlich Moussa Al-Hassan Diaw. Sie sind in Österreich geboren, haben Lehramt studiert mit den Fächern Politik, Religionspädagogik, Geschichte und Englisch. Ihre Masterarbeit haben Sie an der Universität Wien geschrieben über das Selbstverständnis von Muslimen in Europa heute. Seit einigen Jahren sind Sie am Institut für Islamische Theologie der Universität Osnabrück tätig und sitzen dort an einer Doktorarbeit über politischen Salafismus. Herzlich Willkommen Herr Diaw!

Mein Name ist Wolfgang Reinbold. Ich bin der Beauftragte für den christlich-muslimischen Dialog in der evangelischen Landeskirche Hannovers und heute Abend der Moderator.

„Salafisten“ – wer ist das?

Frau Dantschke, das Thema ist nach meinem Eindruck im vergangenen Jahr ganz groß geworden, als Salafisten erstmals fast überall in Deutschland in den Fußgängerzonen auftraten. Es gab seinerzeit eine riesige Aufmerksamkeit, tagelang war das Thema Aufmacher in den Tagesthemen, im Heute-Journal, in allen großen Zeitungen. Viele haben sich gefragt: Was sind das für Leute? Was wollen die? Und müssen wir das ertragen, dass die da in unseren Fußgängerzonen stehen und Korane verteilen? Fangen wir mit der ersten Frage an: Was sind das für Leute? Was denkt und tut ein deutscher Salafist? 

Dantschke 
Da geht es schon los. Den Salafisten gibt es nicht. Sie haben es gerade so schön gesagt: Die Doktorarbeit von Herrn Diaw beschäftigt sich mit „politischem Salafismus“. Ich finde es wichtig, dass wir diesen Begriff verwenden. Wenn ich von dem Salafismus spreche, der uns Sorgen bereitet, dann spreche ich vom politischen Salafismus.

Darüber hinaus gibt es eine unbekannte Zahl von so genannten „puristischen“ Salafisten. Das sind Leute, die leben religiös, sehr, sehr konservativ, aber Sie haben nicht vor, diese Gesellschaft zu islamisieren. Sie werten andere Menschen deshalb auch nicht ab, wie es für den politischen Salafismus typisch ist. Sie sagen nicht: „Wir sind mehr wert, und die anderen als kuffar [= Ungläubige] sind weniger wert“. Der puristische Salafismus ist für diese Menschen eine sehr fundamentale, religiöse Lebensform. Diese Gruppe würde ich gerne herausnehmen aus der Frage, was uns Sorgen bereitet.

Der politische Salafismus teilt sich dann noch einmal auf in einen, der völlig gewaltlos ist, der missionieren will, der sagt: „Wir müssen alle Menschen zum Islam rufen, und dann wird sich diese Gesellschaft islamgemäß nach unseren Vorstellungen umgestalten“. Und es gibt die, die Gewalt propagieren.

Das ist das große Problem bei der Aktion mit den Koranverteilungen. Dass der Koran in den Städten verteilt wird, ist an sich kein Problem. Entscheidend ist, welche Gruppe hinter der Aktion steht. Es ist eine Gruppe, die sich „Die wahre Religion“ nennt. Diese Gruppe gehört in den Bereich des politischen Salafismus, in dem auch Gewalt legitimiert wird. Sie rufen zwar nicht direkt zum Dschihad auf, aber in ihrer gesamten Propaganda, in ihrer Ideologie, ist die Legitimation der Gewalt ein wichtiger Punkt.

Deswegen ist es problematisch, wenn sich junge Leute bei dieser Aktion engagieren. In Deutschland wissen viele nichts Genaues über den Koran. Manche Jugendliche haben die Hoffnung, dass sie durch die Verteilung der Korane den Nichtmuslimen den Islam näher bringen und helfen können, die Islamfeindlichkeit abzubauen. Das motiviert Jugendliche, sie möchten aktiv werden. Wenn sie dann aber weitere Fragen zu islamischen Normen und Werten haben, dann gehen sie nicht zu einem seriösen Imam in der Nachbarmoschee, sondern sie gehen zu den Akteuren der Gruppe, die die Aktion organisiert. Darin liegt das Problem. 

Reinbold 
Herr Diaw, die meisten Deutschen kennen Salafisten im Wesentlichen aus dem Fernsehen. Wenn man sie sieht, man hat einen verwirrenden doppelten Eindruck. Auf der einen Seite ist es eine sehr junge, eine sehr moderne Bewegung. Technik spielt eine große Rolle, Handys, Youtube, Internet, Twitter und was da alles ist. Auf der anderen Seite vermittelt schon die Kleidung den Eindruck, dass sie aus einer längst vergangenen Zeit stammen. Es ist ein zwiespältiger Eindruck. Einerseits: Wir sind im Grunde immer schon da, wird sind gewissermaßen der Urislam. Andererseits: Wir sind eine sehr moderne Bewegung. Wie alt ist der Salafismus, und wie viel ist dran an der Behauptung, das sei der „richtige“ Islam?

Diaw 
Da muss ich ein wenig ausholen. Die Bezeichnung salaf  steht im Islam für die Altvorderen, für die ersten drei Generationen im Islam, auf die sich alle Muslime beziehen, mit Ausnahme der Schia [= der Partei der Schiiten], die das etwas anders sieht. Aus diesen drei Generationen hat sich eine Lehrtradition entwickelt, die vier Rechtsschulen kennt, die wir in den normalen Moscheegemeinden meistens finden [= Hanafiten, Malikiten, Schafi’iten und Hanbaliten].

Einer dieser vier Gelehrten, die der Ursprung der Rechtsschulen sind (fiqh), ist Ahmad ibn Hanbal. Er hat ein spezielles Verständnis der Interpretation der Schriften, das in Opposition zu einer sehr rationalistischen Schule steht, der so genannten Mu’tazila. An diese Schule knüpfte später Ibn Taimiyya (1263–1328) an, zu einem Zeitpunkt als das islamische Reich durch Einfälle von den Mongolen bedroht wurde und einige der Mongolen den Islam annahmen. Unter anderem erließ er ein sehr bekanntes Rechtsgutachten (fatwa), in dem er einigen der neu bekehrten Muslime den Islam abgesprochen hat. Auch lehnte er die beiden sich entwickelnden theologischen islamischen Schulen ab, die so genannte Maturidiyya und die Aschariyya.

Später dann auf der arabischen Halbinsel – und damit kommen wir zu dem, was man heute meistens mit Salafismus bzw. Salafiyya verbindet – trat ein Gelehrter auf, der sich gegen die Zustände auf der Halbinsel wehrte, Muhammad ibn Abd al-Wahhab (1703–1792). Es gab seinerzeit viele Formen von Magie, von Gräberanbetung und ähnlichem mehr. Er wollte diese Dinge loswerden, den Islam reinigen, ein Puritanismus entstand. Abd al-Wahhab wandte sich gegen den Traditionalismus der Rechtsschulen. Er stand in politischer und religiöser Opposition zum damals herrschenden Osmanischen Reich, das von der hanafitischen Rechtsschule geprägt war und zur maturidischen theologischen Schule gehörte.

Bekannt wurden die nach ihm benannten Wahhabiten dadurch, dass sie den Koran wörtlich verstanden und die islamische Rechtsschultradition ablehnten. Sie hatten ein schriftfundamentalistisches Verständnis, wollten sozusagen dem einen Gott glauben, der herrschte. Das ist die eine Gruppe, die wichtig ist und die wir heute sehen. Sie kleiden sich so, wie es nach ihrem Textverständnis richtig ist, mit kurzen Hosen und so weiter.

Hinzu kommt eine zweite Gruppe, die man nicht übersehen darf, die wichtig ist für die politische Salafiyya. Das ist die Reform-Salafiyya, die im 19. Jahrhundert entsteht. Sie ist anders als die Salafiyya auf der arabischen Halbinsel eine modernistische Salafiyya. Wichtige Gelehrte sind Dschamal ad-Din al-Afghani (1838–1897) und Mohammad Abduh (1849–1905). Aus dieser Tradition entwickeln sich weitere Gruppen, unter anderem die Muslimbruderschaft.

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts findet dann eine Vermengung mit den Vorstellungen der arabischen Halbinsel statt, die politische Salafiyya entsteht und mit ihr dschihadistische Strömungen. Wichtige Namen sind Muhammad Abd al-Salam Faradsch (1954–1982) und Sayyid Qutb (1906–1966), der aus der Muslimbruderschaft kommt und dann das prägt, was uns heute Probleme macht: Er sagt, dass jede Regierungsform, die nicht vom Islam abgeleitet ist, eine Form des Nichtbezeugens des Eingottglaubens ist. Deshalb muss sie bekämpft werden. Wer das nicht tut, der ist vom Islam abgefallen.

Wenn heute von Salafismus bzw. Salafiyya die Rede ist, geht es also um ein sehr breites Spektrum. Meist denken wir an Leute, die aus der arabischen Halbinsel kommen, traditionell gekleidet sind und denen es darum geht, ein zurückgezogenes Leben als Ultraorthodoxe zu führen. Aber es gibt eben unterschiedliche Schattierungen, die Gruppierungen wechseln ständig, weitere Ideologien werden angenommen, so dass das Ganze dann irgendwann kaum noch zu überblicken ist.

Auch die Bündnisse wechseln, man kann das in den Youtube-Videos verfolgen. Was beide Grundformen des Salafismus gemeinsam haben, ist, dass sie die Rechtsschultradition, die Orthodoxie, ablehnen und sagen: „Wir wollen zurück zu einem gereinigten Islam. Wir haben das rechte Verständnis und müssen viele Dinge von Neuerungen reinigen.“

Reinbold 
Das klingt kompliziert. Ich fasse kurz zusammen: Anders als es häufig geschieht, können wir im Grunde nicht von „den Salafisten“ reden, sondern wir müssen Unterschiede machen und fragen: Um welche Gruppen geht es? Von wem reden wir eigentlich? Je nach dem fällt das Urteil aus. 

Dantschke 
Deswegen ist es besser, von „salafistischen Strömungen“ oder von „politischem Salafismus“ zu sprechen. Auch der Verfassungsschutz beobachtet ja keineswegs alle „Salafisten“. Die Zahlen, die Sie genannt haben, sind sehr fragwürdige Zahlen. Wenn der Verfassungsschutz sagt, dass es in Deutschland 4.500 Salafisten gibt, dann sind die Puristen dabei überhaupt nicht mitgezählt, weil sie nicht beobachtet werden, weil sie auch gar nicht zu beobachten sind, denn sie haben nichts Verfassungsfeindliches vor.

Diese Zahlen sind alle nicht wissenschaftlich belegt. Auch die Frage, ob die Zahlen gestiegen sind oder nicht. Im Grunde genommen hat man beim Verfassungsschutz überlegt, wie groß die Zahl in etwa sein könnte, und ein Jahr später hat man dann gemerkt, dass das vielleicht ein bisschen zu niedrig geschätzt war, und so hat man jetzt eben noch einmal neu geschätzt.

Die einzige Zahl, die wir wirklich relativ sicher wissen, ist die Zahl der Personen, die zum militanten Spektrum gehören, denn sie stehen unter ständiger Beobachtung. Diese Zahl beträgt für Gesamtdeutschland 850 Personen. Das sind diejenigen, denen man Gewalt zutraut. 139 von ihnen bezeichnet man als „Gefährder“. Das sind Leute, die entweder eine paramilitärische Ausbildung haben, die in einem Dschihad-Camp waren und wieder zurück gekommen sind, oder es sind Leute, denen man aufgrund ihrer Netzwerke zutraut, in irgendeiner Form gewalttätig zu werden. Das sind die einzigen Zahlen, die relativ gesichert sind. Aber ansonsten sind das alles Spekulationen. Wie viele Menschen sich zum politischen Salafismus bekennen, wie viele puristische Salafisten wir haben, das wissen wir eigentlich nicht. 

Reinbold 
Herr Diaw, das macht es sehr unübersichtlich, wie Sie schon sagten. Nun gibt es Muslime, die sagen, dass die Salafisten nicht mehr auf dem Boden des Islams stehen, weil sie die Rechtsschulen ablehnen. Kann man das so sagen?

Diaw 
Der Mainstream der Muslime folgt den traditionellen Rechtsschulen. Es ist ein Zeichen religiös-fundamentalistischer Gruppen, dass sie diese gewachsene Tradition ablehnen, dass sie eine Art Reinigung machen wollen. So ähnlich, wie wir es in Deutschland vielleicht von evangelikalen Freikirchen kennen, die die traditionelle Bibelexegese ablehnen und eher ein schriftfundamentalistisches Verständnis der Bibel haben.

So ähnlich müssen wir das auch bei den verschiedenen Gruppen der Salafiyya sehen. Sie sagen: „Diese Interpretationen, diese Normen, diese Orthopraxie, die sich entwickelt hat – das ist ein falsch gewachsenes Verständnis. Wir wollen deswegen zurück zum Ursprung und das richtige Verständnis auf der Grundlage der uns vorliegenden Schriften wieder herstellen. Wir wollen das rechte Verständnis vom Islam wieder herstellen.“ Das ist ihr Anspruch, und sie meinen natürlich, dass sie das rechte Verständnis haben und dass diejenigen, die den Fiqh-Schulen, den Rechtsschulen folgen, teilweise einem Irrtum aufsitzen.

Die gleiche Auseinandersetzung haben wir auch da, wo es um die theologischen Schulen geht, etwa um das Verständnis der Einheit Gottes. Da gibt es große Diskussionen, zum Beispiel was die Interpretation der Eigenschaften Gottes anbetrifft. Sind sie genau so zu verstehen, wie sie dargestellt werden? Die „Hand Gottes“ ist eine Hand Gottes? Oder ist die „Hand Gottes“ als Metapher zu verstehen? Salafisten sagen: „Nein, hier ist der Text, und auf diesen Text berufen wir uns. Alles, was danach an Auslegung gekommen ist, hat vom rechten Verständnis weggeführt, beeinflusst durch Philosophie.“ 

Der Mainstream der Muslime lehnt diese Art der Auslegung ab. Die türkischsprachigen Moscheegemeinden etwa sind Teil der sunnitischen, hanafitischen, teilweise mystisch geprägten Tradition. Das ist auch der Grund dafür, dass man Leute, die aus dem salafistischen Spektrum kommen, in diesen Moscheen nicht finden wird. Man lädt sie dort nicht ein. Oft gibt es sogar ausgesprochene Verbote, dass Salafisten nicht kommen dürfen.