Mansour
Ich verstehe nicht, wieso wir immer die Religion schützen wollen. Die Religion sollte uns schützen, sie wird nicht untergehen, wenn wir sie kritisieren. Wenn wir über „Ehre“ reden, dann geht es darum zu verstehen, was „Ehre“ mit den Menschen im Alltag macht. Ich bin in einer Kultur aufgewachsen, in der Sex oder Sexualität als Tabu gesehen werden. Hat das mit Religion zu tun? Ja, es hat mit Religion zu tun. Ich nenne das nicht „Islam“, ich nenne es das Islamverständnis von manchen Menschen. Islam kann auch anders sein.
Ist Sexualität vor der Ehe Schmutz? Ist die Frau untergeordnet? Ich sage nicht, dass das im Koran so steht. Ich sage, dass viele das so verstehen. Sie meinen, dass den Männern die Macht dazu gegeben worden ist. Wenn die Jugendlichen ein solches Islamverständnis haben und darauf bauen, dann hat „Ehre“ mit ihrer Religion zu tun. Wenn wir die islamischen Verbände fragen, dann finden wir keinen einzigen, der sagt, dass Ehrenmorde oder Zwangsheirat mit Islam zu tun haben. Das lehnen alle zu einhundert Prozent ab, mit Recht. Aber die Leute, die so etwas tun, die argumentieren oft islamisch.
Reinbold
Stimmen Sie zu, Herr Dehne?
Dehne
Es gibt in der Tat verschiedene Islamverständnisse. Wenn man „Islam“ als Religion und Kultur eines Landes versteht, dann gibt es wahrscheinlich so viele Islamverständnisse wie es Kulturen gibt. Ich glaube, nicht immer steht hinter einer „islamischen“ Argumentation der Islam. Das Verständnis von „Ehre“ wird wesentlich durch die jeweilige Kultur geprägt. Ich glaube, oft können die Menschen das gar nicht trennen. Jugendliche schon gar nicht, oft auch ihre Eltern nicht.
Wenn ein Vater mit seiner Frau und dem Kind zum Elternsprechtag kommt und mir sagt, dass das Kind nicht bei der Klassenfahrt mitfahren darf, und ich frage, warum nicht, dann wird oft genauso argumentiert: „Bei uns ist das so.“ Das ist aber kein Argument. Das ist ein Totschlagargument. Es ist kein Argument, über das man diskutieren kann.
Ich versuche dann, weil ich die Argumente ja kenne, nachzufragen und herauszubekommen, woran es eigentlich liegt. Manchmal merke ich dann, dass die Eltern gar nicht näher benennen können, was das Problem ist. Andere Male höre ich Argumente, auf die ich eingehen kann. Zum Beispiel ist einem Elternteil wichtig, dass das Kind nichts Verbotenes isst. Dann kann ich ganz einfach beschreiben, wie wir das auf der Klassenfahrt gestalten. Schließlich fahren ja viele muslimische Kinder mit, so dass wir auf das Essen achten.
Manchmal löst sich das Problem auf diese Weise. Es kann aber auch sein, dass ich herausfinde, dass die Religion nur vorgeschoben wird und dass die Eltern in Wirklichkeit einfach das Geld für die Klassenfahrt nicht ausgeben wollen – weil es für Anderes ausgegeben werden soll oder weil es nicht da ist und der Vater nicht zugeben mag, dass er kein Geld hat. Das hat dann wieder etwas mit Ehre zu tun, es fällt schwer zuzugeben, dass ich es mir nicht leisten kann. Das merke ich auch dann, wenn ich finanzielle Unterstützung durch den Elternförderverein unserer Schule anbiete. Oft möchten die Väter das Geld nicht annehmen, aus Gründen der Ehre. Somit ist jeder Fall ein ganz spezieller.
Reinbold
Könnte man demjenigen, der sagt, dass die Religion die Klassenfahrt verbietet, nicht einfach sagen: „Das stimmt doch so gar nicht!“?
Dehne
Ich denke, die meisten Lehrer würden an dieser Stelle das Gespräch beenden, weil sie sagen: „Wenn der Vater sagt, dass ihm seine Religion das verbietet, dann kann ich als Lehrer nichts mehr machen“. Manche pochen darauf und verweisen auf das Schulkonzept oder darauf, dass das pädagogisch wichtig ist. Sie kommen damit aber nicht weiter, weil sie das Problem nicht identifizieren konnten. Erst wenn man herausbekommen hat, was die Eltern wirklich hindert, kann man versuchen, sie dafür zu gewinnen.
Dafür braucht man eine Vertrauensbasis. Wir haben an unserer Schule den Vorteil, dass wir die Kinder von der 5. bis zur 10. Klasse begleiten, sechs Jahre lang, und dass wir mehrmals im Jahr mit den Eltern sprechen. Wir haben zwei Klassenlehrer, einen Mann und eine Frau, und wir versuchen, solche Dinge früh anzusprechen. Gleich beim ersten Elternsprechtag fragen wir die Eltern, wie es aussieht mit der Klassenfahrt, damit wir, wenn ein Problem besteht, noch die Zeit haben, darauf hinzuarbeiten, dass das Kind mit kann. Ich hatte in der 5. Klasse ein Kind, das durfte nicht mit. In der 6. Klasse, ein Jahr später, durfte es mit. Da war das Vertrauen gewachsen. Jeder Fall ist anders.
Reinbold
Ist es das, was Sie auch anderen Schulen empfehlen würden, die mit solchen Dingen Schwierigkeiten haben: Offensiv und frühzeitig damit umgehen, und dann den Einzelfall anschauen?
Dehne
Ja. Das Problem ist allerdings, dass man dafür mehr braucht als ein Lehrerstudium. Wir haben so viele Kinder mit Migrationshintergrund, die wir integrieren müssen, sie sind die Zukunft unseres Landes. Wir müssen in diese Kinder investieren, nicht nur mit Mathelehrern, sondern auch mit Leuten, die interkulturelle Kompetenz haben und vermitteln können.
Und mit „vermitteln“ meine ich nicht übersetzen – das brauchen wir auch –, sondern zwischen den Kulturen vermitteln. Die den Eltern erklären, was der Lehrer von ihnen will. Die ihnen erklären, dass der Lehrer nicht darauf pochen will, dass das Kind mit muss, sondern dass es darum geht, dass die Klassenfahrt einen Wert für das Kind hat, für die Klassengemeinschaft und den Anschluss des Kindes an die Klasse. Und die umgekehrt den Lehrern erklären können, was dahinter steckt, wenn die Eltern sagen, dass sie das nicht wollen.
Manchmal müssen erst Barrieren aufgebrochen werden, etwa indem ein paar muslimische Kinder mitgenommen werden, die eigentlich nicht durften. Dann ziehen vielleicht auch andere Eltern nach. Allerdings kann es auch andersherum gehen. Ich hatte einmal Eltern, die hatten kein Problem mit der Klassenfahrt. Alles war super. Einige Zeit später aber hieß es dann: „Unser Kind fährt doch nicht mit, und wir wollen darüber auch nicht mehr reden.“ Schuld waren Bekannte und Verwandte, bei denen das nicht gut ankam. Da hatte ich es nun nicht erreicht. Man muss geduldig sein. Wandel ist nur schrittweise möglich.
Toprak
Sie haben vollkommen Recht. Lassen Sie mich noch zwei Punkte hinzufügen: Die Eltern fragen oft nach der Nützlichkeit. Was bringt das meinem Kind, eine Klassenfahrt, was nützt das? Kann er dadurch besser Deutsch, Mathematik, Englisch? Nein, kann er nicht. Soziale Kompetenzen sind für die Eltern eher von untergeordneter Bedeutung.
Der andere Grund ist, dass sie traditionell aus ihren Heimatländern Klassenfahrten nicht kennen. Vielleicht kennen sie Klassentagesausflüge, aber dass die Kinder eine ganze Woche wegfahren sollen und danach nicht einmal besser Deutsch können, sondern bestenfalls Kompetenzen lernen, die aus ihrer Sicht nicht so wichtig sind, das leuchtet ihnen nicht ein. Ich habe auch die Erfahrung gemacht, dass die Religion manchmal vorgeschoben wird, um finanzielle Engpässe zu überspielen. Ich sage provokativ: Manche Eltern und Kinder missbrauchen ihre Religion und Kultur, um in der Gesellschaft besser dazustehen. Sie machen ihre eigene Kultur und Religion schlecht, um dann in der Außenwelt zu sagen: „Ich kann das nicht“. Das ist oft der Knackpunkt, wo ich denke: Das kann ja wohl nicht sein!