Dehne
Wir haben gerade eine Zahl gehört: von 45 vermeintlichen „Ehrenmorden“ bleiben danach 7, wenn man genauer hinsieht. Ich denke, wir müssen auf die Verhältnismäßigkeit achten. Es gibt Menschen, die furchtbare Dinge tun, aus den unterschiedlichsten Gründen – ich will jetzt keine Beispiele nennen, Sie kennen das alles. Wenn ich von „ernster Gefahr“ rede, muss das Ganze quantitativ ins Gewicht fallen …
Toprak
Entschuldigung: Eine ernste Gefahr für die betroffene Person schon.
Dehne
Natürlich, keine Frage. Ein Kind, das missbraucht wird, ist gezeichnet für das ganze Leben. Ich kann aber erst dann davon sprechen, dass, sagen wir, ein Fußballtrainer eine ernste Gefahr für Kinder ist, wenn ich nicht einen einzigen Fall habe, wo ein Fußballtrainer ein Kind vergewaltigt hat, sondern viele. Davor möchte ich warnen. Wir müssen schauen, wie verbreitet etwas ist, bevor wir es als „ernste Gefahr“ für die Gesellschaft bezeichnen.
Mansour
Überspitzung ist ebenso falsch wie Verharmlosung. Ehrenmord und Zwangsverheiratung sind die Spitze des Eisberges, was Unterdrückung im Namen der Ehre angeht. Ein Fall ist ein Fall zu viel. Eine Frau, die ermordet wurde, ist ein Fall zu viel. Da müssen wir als Gesellschaft handeln, bevor es so weit ist.
Jedes Jahr haben wir mehrere solche Tötungen. Vorher aber passieren unglaublich viele Unterdrückungen, die wir thematisieren müssen, über die wir reden müssen, wo Präventionsarbeit und Interventionsarbeit wichtig ist: Frauen, die eingesperrt werden; Gewalt gegenüber Frauen im Namen der Ehre; Frauen, die nicht studieren dürfen; Frauen, die keiner Arbeit nachgehen dürfen; Frauen, die ihrer Liebe nicht nachgehen dürfen; Frauen, die keinen Freund haben dürfen. Das sind alles Fälle, wo Männer im Namen der Ehre handeln und den Frauen ihr Recht einfach verweigern – ihr Recht auf Liebe, ihr Recht auf Leben, ihr Recht auf freie Partnerwahl. Das ist nicht ein Fall, das sind nicht zwei Fälle und nicht hundert Fälle. Gehen Sie einmal in die Frauenhäuser und sehen Sie, wie viele Frauen da im Namen der Ehre leiden!
Und ganz wichtig ist: Wenn wir darüber reden, dann bedeutet das nicht, dass jeder Migrant seine Frau oder Tochter schlecht behandelt. „Migrant“ ist übrigens sowieso ein Wort, das ich eigentlich ablehne. Das sind keine „Migranten“, das ist die dritte und vierte Generation! Das sind Menschen mit, meinetwegen, Einwanderungsgeschichten oder Einwanderungshintergrund. Aber es sind deutsche Frauen, die darunter leiden, und das ist ein deutsches Problem. Wir müssen dieses Problem als gesamtgesellschaftliches Problem betrachten. Wir können das nicht verharmlosen. Das ist genau das, was ich kritisiere.
Toprak
Ich gebe Ihnen vollkommen Recht. Jeder Fall ist ein Fall zu viel. Wir müssen die Frauen schützen, unabhängig davon, warum ihnen Gewalt angetan wird, ob wegen der Ehre oder wegen verletzter Eitelkeit oder warum auch immer, das ist mir relativ egal.
Mansour
Bei der Präventionsarbeit sind aber die Hintergründe sehr wichtig!
Toprak
Ich meinte die juristische Beurteilung.
Mansour
Da stimme ich zu.
Was kann zur Prävention getan werden?
Reinbold
Was kann man denn tun, um zu helfen? Was kann man tun, um solche Dinge schon im Ansatz zu verhindern?
Mansour
Das Projekt „Heroes“, bei dem ich als Gruppenleiter arbeite, ist ein Beispiel. Junge Männer mit Einwanderungsgeschichten, die meisten Muslime, engagieren sich gegen ein falsches Verständnis von „Ehre“. Sie gehen nach einer einjährigen Ausbildung in die Schulen und sagen: „Wir sind Männer, wir haben Ehre, aber wir definieren unsere Ehre anders. Wir wollen unsere Frauen, unsere Schwestern nicht einsperren und nicht unterdrücken.“ Diese Vorbilder sind enorm wichtig in der Präventionsarbeit. Dazu brauchen wir, wie Herr Dehne vorhin mit Recht gesagt hat, neue pädagogische Konzepte. Alle Lehrer, die in den Schulen arbeiten, sollten so ausgebildet sein, dass sie mit solchen Phänomenen umgehen können.
Darüber hinaus, und ganz wichtig: Wir müssen die Wir-Ihr-Debatte abschaffen. Ich kann nicht diese Jugendlichen in ihren religiösen und kulturellen Hintergründen jahrelang ablehnen und nicht anerkennen – und dann mit ihnen plötzlich über Tabu-Themen reden wollen. Sie machen dann einfach zu und sagen: „Bei uns ist das so. Was verstehen Sie denn von unserer Kultur? Sie haben das jahrelang abgelehnt. Und jetzt wollen Sie mit uns über Ehre reden?“
Reinbold
Mit „Wir-Ihr-Debatte“ meinen Sie, dass die Jugendlichen sagen: „Bei uns ist das so. Ihr Deutschen macht es nicht so“?
Mansour
Genau – und umgekehrt. Die Lehrer erkennen diese Jugendlichen nicht an, sie lehnen sie ab, mit ihrem kulturellen und religiösen Hintergrund. Da entsteht kein Wir-Gefühl. Wir brauchen Vertrauen von beiden Seiten, um dieses Wir-Gefühl in den Schulen zu schaffen, und dann können wir über Tabu-Themen reden.
Wissen Sie, in jeder Familie wird zum Beispiel das Kind irgendwann einmal zu seinen Eltern gehen und sagen: „Papa oder Mama, wieso essen wir kein Schweinefleisch?“ Die Art und Weise, wie die Eltern diese Frage beantworten, entscheidet darüber, wie das Kind sich in der Mehrheitsgesellschaft verhält. Wenn ich mit dieser Antwort die anderen, die Schweinefleisch essen, abwerte, dann brauche ich mich nicht darüber zu wundern, wenn auch das Kind die anderen abwertet.
Andererseits: Wenn ich Lehrer frage, was für Schüler sie haben, dann höre ich oft: „90 Prozent Ausländer“. Dabei sind die Kinder vierte Generation! Das sind deutsche Kinder! Sie werden aber als „Ausländer“ bezeichnet. So schaffen wir kein Wir. Und wenn wir kein Wir-Gefühl schaffen, dann können wir mit diesen Jugendlichen nicht über Tabu-Themen reden.
Dehne
In dem Moment, wo man jemanden als „Ausländer“ bezeichnet, nimmt er das an. Das geht so weit, dass ich, wenn ich mit einem konvertierten Muslim spreche, manchmal höre, dass er plötzlich von „den Deutschen“ spricht. Da frage ich mich, in welches Abseits er sich da gerade gestellt hat – er gehört jetzt zu „den Muslimen“, und „die Muslime“ sind „Ausländer“, und deswegen sind da jetzt plötzlich „die Deutschen“. Das führt dann dazu, dass man sagen kann: „Ja, ich bin schlecht bewertet worden von dem Lehrer, von dem Deutschen, von der Kartoffel, weil ich Ausländer bin.“
Reinbold
Ist das das übliche Schimpfwort für „den Deutschen“, „die Kartoffel“?
„Ja, ich bin Türkisch-Deutscher“
Dehne
Richtig. Man macht es den Kindern allerdings auch sehr einfach mit ihrer Abgrenzung von „den Deutschen“. Wenn man die Kinder in der fünften Klasse zum Beispiel fragt: „Herzlich Willkommen an der Schule, wo kommst du denn her?“ Ja, wo soll er denn herkommen? Aus der Nordstadt!, da kommt er her oder vielleicht aus Hannover. Aber nein, man meint ja etwas ganz Anderes, nämlich wo seine Urgroßeltern herkommen.
Oft fragen die Schüler mich dann: „Was bist du?“ Dann nehme ich sie immer erst einmal auf den Arm und sage „ein Mensch“, „ein Lehrer“, oder so. „Nein, nein“, sagen sie dann. Meist bekommen sie es überhaupt nicht hin, das in Worte zu fassen, wonach sie fragen wollen. Ich helfe ihnen irgendwann und sage: „Ich habe einen syrischen Vater und eine deutsche Mutter.“ Dann überlegen sie. „Ich bin Deutscher“, sage ich dann, „weil ich hier geboren bin, weil ich hier leben will, weil ich mich hier wohl fühle, ich fühle mich hier zu Hause.“ Dann frage ich: „Und was bist du?“ „Ja, ich bin Türke“, ist meist die Antwort. „Wann warst du das letzte Mal in der Türkei?“ „Ja, in den Sommerferien.“ „Was bist du in der Türkei, wie bezeichnen sie dich da?“ Meist als almancı, das heißt: „Deutsche“. In der Türkei sind die Kinder Deutsche und in Deutschland sind die Kinder Türken.
Toprak
Genau genommen, heißt es „Deutschländer“.
Dehne
Ja, nicht einmal richtige Deutsche, nur „Deutschländer“. Ich glaube, da fängt es an. Sie fragten vorhin, was wir tun können. Wir müssen ein paar Schritte zurückgehen, um diesen Kindern hier ein zu Hause zu geben. Wir müssen sagen: „Ihr seid hier gewollt mit eurem Migrationshintergrund. Das gehört zu Deutschland, das ganze wird bunt, wird ein bisschen aufregend, wird manchmal auch ein bisschen kompliziert. Aber ihr seid hier gewollt, ihr seid Deutsche.“ Ich glaube, Amerika hat es da einfacher. Die Amerikaner sind die Indianer, und alle anderen sind dazugekommen. In Deutschland ist das ein bisschen schwerer.
Wer ist denn ein „Deutscher“? Manche argumentieren dann in Richtung „arisch“. Wollen wir es jetzt so machen wie in der Nazizeit? Der Deutsche ist blauäugig und blond? Nein, das natürlich auch nicht. Dann versuche ich, Vorschläge zu machen, zum Beispiel zu sagen: „Ich bin syrisch-deutsch, das heißt, ich bin deutsch und habe etwas Syrisches. Und du könntest sagen, du bist türkisch-deutsch. Du musst das Türkische nicht negieren, das sollst du auch gar nicht. Das gehört zu dir. Wenn du diese Sprache lernst, dann ist es eine Bereicherung. Wenn du die Kultur kennst, ist das eine Bereicherung. Aber sag nicht: ‚Deutsch-Türke’.“ Dieses Wort kennen wir aus den Medien. Warum Deutsch-Türke? Das klingt so wie: Er ist noch ein Türke. Er hat zwar was Deutsches, aber er ist und bleibt ein Türke – und das in der vierten Generation!
Reinbold
Das ist ein neues Wort. Gewissermaßen das Plädoyer, die amerikanische Bindestrich-Identität des Italo-American einmal auf Deutsch zu formulieren: „türkisch-deutsch“, „syrisch-deutsch“, und so weiter. Funktioniert das in der Schule? Ist das etwas, das für die Kinder ein interessantes Konzept sein könnte?
Dehne
Wir Lehrer prägen ja die Sprache der Kinder, wir erweitern ihren Wortschatz. Ich finde: Wir sollten das nutzen, damit sie sich irgendwann daran gewöhnen und es selber benutzen. Wir bringen ihnen ja auch ganz andere Worte bei. Wir sollten ihnen auch dieses Wort beibringen, so dass sie sich in ihm wiederfinden und irgendwann sagen: „Ja, ich bin TürkischDeutscher“.
Ich kann ihnen ja nicht sagen. „Du bist ein Deutscher, du bist hier geboren“. Dann geht der Schüler nach Hause und sagt: „Papa, ich bin Deutscher“, und der Vater fragt: „Wie bitte?“ Wenn er aber sagt: „Papa, ich bin Türkisch-Deutscher“, ist es etwas anderes. Der Vater ist ja nach Deutschland gekommen. Natürlich hat er Kinder, die etwas Deutsches an sich haben. Der Begriff hat auch den Vorteil, dass man den Schwerpunkt hierhin oder dahin legen kann. Der eine ist türkisch-deutsch mit ganz großem Türkisch und ein bisschen Deutsch. Der andere sieht sich mehr deutsch und ein bisschen türkisch. Bevor wir anfangen, solche Worte hier einzuführen, muss die Gesellschaft sich allerdings fragen: Will ich das?
Mansour
Für meine Diplomarbeit habe ich einen Fragebogen für Schüler entwickelt. Ganz am Ende habe ich zwei Fragen gestellt: „Sehen sie sich als deutsch?“, mit einer Skala von 0 – 10. „Sehen sie sich als ..........?“, da konnten die Schüler frei etwas eintragen, auch auf einer Skala von 0 – 10.
Die „Deutschen“ haben bei der ersten Frage Werte zwischen 0 und 4 angekreuzt, sie haben ein Problem damit, deutsch zu sein. Die Menschen mit Einwanderungsgeschichten haben auch Werte zwischen 0 und 4 angekreuzt. Keiner will deutsch sein. Die „Deutschen“ haben bei der zweiten Frage dann „Europäer, global, Mensch“ oder so etwas geschrieben. Die Menschen mit Einwanderungsgeschichte haben ihre Heimatländer hingeschrieben, Türke, Araber usw.
Ich glaube, es ist wichtig, diesen Jugendlichen beizubringen, dass ihre Identität mehrdimensional ist, türkisch und deutsch, arabisch und deutsch, und so weiter. In den Familien sind damit ja viele Ängste verbunden. Die Eltern wollen, dass ihre Kinder von ihnen etwas mitnehmen. Sie sind vor vierzig Jahren nach Deutschland gekommen, um zu arbeiten. Auf einmal merken sie, dass ihre Kinder nicht einmal ihre Muttersprache gut sprechen, und sie verhalten sich anders, kleiden sich anders. Es gibt Generationenkonflikte. Diese Ängste müssen wir erkennen und mit den Eltern daran arbeiten. Es ist nicht so schlimm, wenn die Kinder zum Beispiel mehrsprachig aufwachsen …
Reinbold
Man könnte doch auch sagen: es ist gut!
Mansour
Ja, es ist gut. Wichtig ist, dass Identität nicht eindimensional gesehen wird. Ich kann Türke sein, ich kann gleichzeitig Deutscher sein, ich kann Berliner sein, ich kann Europäer sein, ich kann alles Mögliche sein, Moslem noch dazu. Bei vielen Jugendlichen ist die Identität eindimensional. Wenn ich deutsch bin, kann ich nicht noch Türke sein und überhaupt nicht Moslem, und so weiter.
Dehne
Genau. Wenn ich sage: „Ich bin Deutscher“. Dann wird meist erwidert: „Sie sind aber doch Moslem“ – von Schülern!
Reinbold
Dieses Schema ist ganz fest in den Köpfen vorhanden: Die Muslime. Die Deutschen?
Dehne
Ich glaube, dass kommt daher, wie wir in der Gesellschaft darüber reden.