Mitschrift: Ehre ist das wichtigste (Teil 2)

Zum Gespräch: Ehre ist das wichtigste. Einwandererkinder zwischen Familie, Schule und Religion


„Ehrenmorde“

Reinbold
Bevor wir zu einem zweiten Begriff kommen, der eine zentrale Rolle spielt, müssen wir über das Thema „Ehrenmord“ sprechen, das für viele ganz eng mit unserem Thema zusammenhängt und dass oft auch in Verbindung mit dem Islam gebracht wird. Was steckt hinter solchen Ehrenmorden?

Toprak
Das ist ein sehr schwieriges Thema. Ich habe selbst mit einem so genannten „Ehrenmörder“ ein Interview durchgeführt, in einer Veröffentlichung aus dem Jahre 2007. Ich habe ich mit diesem jungen Mann drei Interviews geführt, dazu zwei Interviews mit der Schwester und mit den Eltern. In diesen Gesprächen habe ich festgestellt, dass das gar kein „Ehrenmord“ war, sondern der Vater hatte die eigene Tochter in der Kindheit missbraucht. Um diesen Missbrauch in der Kindheit zu vertuschen, hat er daraus einen „Ehrenmord“ gemacht.

Der Kollege Jan Kizilhan hat in einem Buch 45 Ehrenmorde analysiert („Ehrenmorde“, Berlin 2006). Er ist Psychotherapeut und hat in deutschen Gefängnissen mit diesen Ehrenmördern gesprochen. Er kommt zu dem Ergebnis, dass 38 der 45 Fälle überhaupt nichts mit „Ehre“ zu tun haben. Verletzte Ehre spielt zwar eine Rolle, aber oft geht es schlicht um die Eitelkeit des Mannes, der nicht von einer Frau verlassen werden will.

Vielfach trägt auch Druck von außen dazu bei, dass Männer morden, obwohl sie innerlich gar nicht dafür bereit sind und dazu stehen. Druck von vielen Seiten lastet auf ihren Schultern, so dass sie fast ersticken. Das ist auch der Grund, warum wir mit den Männern arbeiten müssen. Deshalb habe ich sehr viel Jugendarbeit und insbesondere Männerarbeit gemacht.

In der Türkei bekommen „Ehrenmorde“ mittlerweile keinen Rabatt mehr, sie werden als normale Tötungsdelikte bestraft. Aber in den Gefängnissen haben diese Männer ein hohes Ansehen, vor allem in den ländlichen Gebieten, wo die Moderne noch nicht angekommen ist. Wenn man da als Kinderschänder hineingeht, ist man fast tot. Geht man als „Ehrenmörder“ ins Gefängnis, dann ist man der Held. Anscheinend ist es unter den Gefangenen immer noch so, dass es als etwas ganz Besonderes gilt, wenn man einen „Ehrenmord“ begeht. Man bringt ja jemanden um, der einem nahe steht, die Ehefrau oder die Schwester etwa. Diese Männer werden laut einer türkischen Studie aus dem Jahr 2011 im Gefängnis gefeiert und beklatscht.

Übrigens ist das nicht nur in manchen muslimischen Milieus so. „Ehrenmorde“ gibt es auch in anderen Ländern, wie z.B. in Süditalien, in Sri Lanka, in Indien. Das kann man also nicht nur mit einer bestimmten Religion erklären, sondern mit starken patriarchalischen Strukturen, insbesondere dort, wo die juristische Infrastruktur wie Polizei, Justiz und so weiter nicht gut ausgeprägt sind.

Reinbold
Bei allen Differenzierungen, die nötig sind: Es bleibt ein hochgefährliches Konzept. Wenn der Täter von außen unter Druck gerät und eine so schwere Last auf seinen Schultern fühlt, dass er gar nicht anders kann als so zu handeln. Herr Mansour, Sie haben kürzlich in einem Artikel in der Frankfurter Allgemeinen mit harten Worten kritisiert, man könne in Deutschland nicht vernünftig über dieses Thema sprechen, weil es von allen Seiten tabuisiert werde. Steht es so schlimm um die Debatte?

Mansour
Was mich stört, was mich auch traurig macht, ist Folgendes: Oft wenn wir über das Thema „Ehrenmord“ reden, kommt jemand und sagt: „Ja, bei uns gibt es Ehrenmorde. Aber es gibt in Deutschland viele, viele Familiendramen – und da redet keiner darüber“.

Ich glaube, es gibt einen riesigen Unterschied zwischen dem deutschen Familiendrama und einem „Ehrenmord“. Beide sind Morde. Bei einem Familiendrama aber haben sie mit einer Person zu tun, die aus Not oder aus Eitelkeit oder aus welchen Gründen auch immer handelt. Hinter einem „Ehrenmord“ steht dagegen ein ganzes System. Das ist nicht nur eine Person, worauf Herr Toprak mit Recht hingewiesen hat. Sondern es ist der Druck von außen, von der Familie, von anderen männlichen Familienmitgliedern. Sie alle reden dem Mörder ein, handeln zu müssen.

Ich habe oft mit Jugendlichen zu tun gehabt, deren Schwester abgehauen ist oder deren Schwester einen Freund hat und mit ihm lebt. Eigentlich haben sie keine Lust, zu handeln. Sie wollen es nicht. Aber sie werden jahrelang beinahe tagtäglich gefragt, wie es steht, was sie gemacht haben, ob sie sie gesucht haben, ob sie sie gefunden haben. Diesen Druck halten manche Jugendliche nicht mehr aus und handeln dann – und in extremen Fällen morden sie im Namen der Ehre.

Reinbold
Also eine ernste Gefahr für die Gesellschaft? Oder gibt es Widerspruch?

Dehne
Wir haben gerade eine Zahl gehört: von 45 vermeintlichen „Ehrenmorden“ bleiben danach 7, wenn man genauer hinsieht. Ich denke, wir müssen auf die Verhältnismäßigkeit achten. Es gibt Menschen, die furchtbare Dinge tun, aus den unterschiedlichsten Gründen – ich will jetzt keine Beispiele nennen, Sie kennen das alles. Wenn ich von „ernster Gefahr“ rede, muss das Ganze quantitativ ins Gewicht fallen … 

Toprak
Entschuldigung: Eine ernste Gefahr für die betroffene Person schon.

Dehne
Natürlich, keine Frage. Ein Kind, das missbraucht wird, ist gezeichnet für das ganze Leben. Ich kann aber erst dann davon sprechen, dass, sagen wir, ein Fußballtrainer eine ernste Gefahr für Kinder ist, wenn ich nicht einen einzigen Fall habe, wo ein Fußballtrainer ein Kind vergewaltigt hat, sondern viele. Davor möchte ich warnen. Wir müssen schauen, wie verbreitet etwas ist, bevor wir es als „ernste Gefahr“ für die Gesellschaft bezeichnen.

Mansour
Überspitzung ist ebenso falsch wie Verharmlosung. Ehrenmord und Zwangsverheiratung sind die Spitze des Eisberges, was Unterdrückung im Namen der Ehre angeht. Ein Fall ist ein Fall zu viel. Eine Frau, die ermordet wurde, ist ein Fall zu viel. Da müssen wir als Gesellschaft handeln, bevor es so weit ist.

Jedes Jahr haben wir mehrere solche Tötungen. Vorher aber passieren unglaublich viele Unterdrückungen, die wir thematisieren müssen, über die wir reden müssen, wo Präventionsarbeit und Interventionsarbeit wichtig ist: Frauen, die eingesperrt werden; Gewalt gegenüber Frauen im Namen der Ehre; Frauen, die nicht studieren dürfen; Frauen, die keiner Arbeit nachgehen dürfen; Frauen, die ihrer Liebe nicht nachgehen dürfen; Frauen, die keinen Freund haben dürfen. Das sind alles Fälle, wo Männer im Namen der Ehre handeln und den Frauen ihr Recht einfach verweigern – ihr Recht auf Liebe, ihr Recht auf Leben, ihr Recht auf freie Partnerwahl. Das ist nicht ein Fall, das sind nicht zwei Fälle und nicht hundert Fälle. Gehen Sie einmal in die Frauenhäuser und sehen Sie, wie viele Frauen da im Namen der Ehre leiden!

Und ganz wichtig ist: Wenn wir darüber reden, dann bedeutet das nicht, dass jeder Migrant seine Frau oder Tochter schlecht behandelt. „Migrant“ ist übrigens sowieso ein Wort, das ich eigentlich ablehne. Das sind keine „Migranten“, das ist die dritte und vierte Generation! Das sind Menschen mit, meinetwegen, Einwanderungsgeschichten oder Einwanderungshintergrund. Aber es sind deutsche Frauen, die darunter leiden, und das ist ein deutsches Problem. Wir müssen dieses Problem als gesamtgesellschaftliches Problem betrachten. Wir können das nicht verharmlosen. Das ist genau das, was ich kritisiere.

Toprak
Ich gebe Ihnen vollkommen Recht. Jeder Fall ist ein Fall zu viel. Wir müssen die Frauen schützen, unabhängig davon, warum ihnen Gewalt angetan wird, ob wegen der Ehre oder wegen verletzter Eitelkeit oder warum auch immer, das ist mir relativ egal.

Mansour
Bei der Präventionsarbeit sind aber die Hintergründe sehr wichtig!

Toprak
Ich meinte die juristische Beurteilung.

Mansour 
Da stimme ich zu.

 

Was kann zur Prävention getan werden?

Reinbold
Was kann man denn tun, um zu helfen? Was kann man tun, um solche Dinge schon im Ansatz zu verhindern?

Mansour
Das Projekt „Heroes“, bei dem ich als Gruppenleiter arbeite, ist ein Beispiel. Junge Männer mit Einwanderungsgeschichten, die meisten Muslime, engagieren sich gegen ein falsches Verständnis von „Ehre“. Sie gehen nach einer einjährigen Ausbildung in die Schulen und sagen: „Wir sind Männer, wir haben Ehre, aber wir definieren unsere Ehre anders. Wir wollen unsere Frauen, unsere Schwestern nicht einsperren und nicht unterdrücken.“ Diese Vorbilder sind enorm wichtig in der Präventionsarbeit. Dazu brauchen wir, wie Herr Dehne vorhin mit Recht gesagt hat, neue pädagogische Konzepte. Alle Lehrer, die in den Schulen arbeiten, sollten so ausgebildet sein, dass sie mit solchen Phänomenen umgehen können.

Darüber hinaus, und ganz wichtig: Wir müssen die Wir-Ihr-Debatte abschaffen. Ich kann nicht diese Jugendlichen in ihren religiösen und kulturellen Hintergründen jahrelang ablehnen und nicht anerkennen – und dann mit ihnen plötzlich über Tabu-Themen reden wollen. Sie machen dann einfach zu und sagen: „Bei uns ist das so. Was verstehen Sie denn von unserer Kultur? Sie haben das jahrelang abgelehnt. Und jetzt wollen Sie mit uns über Ehre reden?“

Reinbold
Mit „Wir-Ihr-Debatte“ meinen Sie, dass die Jugendlichen sagen: „Bei uns ist das so. Ihr Deutschen macht es nicht so“?

Mansour
Genau – und umgekehrt. Die Lehrer erkennen diese Jugendlichen nicht an, sie lehnen sie ab, mit ihrem kulturellen und religiösen Hintergrund. Da entsteht kein Wir-Gefühl. Wir brauchen Vertrauen von beiden Seiten, um dieses Wir-Gefühl in den Schulen zu schaffen, und dann können wir über Tabu-Themen reden.

Wissen Sie, in jeder Familie wird zum Beispiel das Kind irgendwann einmal zu seinen Eltern gehen und sagen: „Papa oder Mama, wieso essen wir kein Schweinefleisch?“ Die Art und Weise, wie die Eltern diese Frage beantworten, entscheidet darüber, wie das Kind sich in der Mehrheitsgesellschaft verhält. Wenn ich mit dieser Antwort die anderen, die Schweinefleisch essen, abwerte, dann brauche ich mich nicht darüber zu wundern, wenn auch das Kind die anderen abwertet.

Andererseits: Wenn ich Lehrer frage, was für Schüler sie haben, dann höre ich oft: „90 Prozent Ausländer“. Dabei sind die Kinder vierte Generation! Das sind deutsche Kinder! Sie werden aber als „Ausländer“ bezeichnet. So schaffen wir kein Wir. Und wenn wir kein Wir-Gefühl schaffen, dann können wir mit diesen Jugendlichen nicht über Tabu-Themen reden.

Dehne
In dem Moment, wo man jemanden als „Ausländer“ bezeichnet, nimmt er das an. Das geht so weit, dass ich, wenn ich mit einem konvertierten Muslim spreche, manchmal höre, dass er plötzlich von „den Deutschen“ spricht. Da frage ich mich, in welches Abseits er sich da gerade gestellt hat – er gehört jetzt zu „den Muslimen“, und „die Muslime“ sind „Ausländer“, und deswegen sind da jetzt plötzlich „die Deutschen“. Das führt dann dazu, dass man sagen kann: „Ja, ich bin schlecht bewertet worden von dem Lehrer, von dem Deutschen, von der Kartoffel, weil ich Ausländer bin.“

Reinbold
Ist das das übliche Schimpfwort für „den Deutschen“, „die Kartoffel“?

 

„Ja, ich bin Türkisch-Deutscher“

Dehne
Richtig. Man macht es den Kindern allerdings auch sehr einfach mit ihrer Abgrenzung von „den Deutschen“. Wenn man die Kinder in der fünften Klasse zum Beispiel fragt: „Herzlich Willkommen an der Schule, wo kommst du denn her?“ Ja, wo soll er denn herkommen? Aus der Nordstadt!, da kommt er her oder vielleicht aus Hannover. Aber nein, man meint ja etwas ganz Anderes, nämlich wo seine Urgroßeltern herkommen.

Oft fragen die Schüler mich dann: „Was bist du?“ Dann nehme ich sie immer erst einmal auf den Arm und sage „ein Mensch“, „ein Lehrer“, oder so. „Nein, nein“, sagen sie dann. Meist bekommen sie es überhaupt nicht hin, das in Worte zu fassen, wonach sie fragen wollen. Ich helfe ihnen irgendwann und sage: „Ich habe einen syrischen Vater und eine deutsche Mutter.“ Dann überlegen sie. „Ich bin Deutscher“, sage ich dann, „weil ich hier geboren bin, weil ich hier leben will, weil ich mich hier wohl fühle, ich fühle mich hier zu Hause.“ Dann frage ich: „Und was bist du?“ „Ja, ich bin Türke“, ist meist die Antwort. „Wann warst du das letzte Mal in der Türkei?“ „Ja, in den Sommerferien.“ „Was bist du in der Türkei, wie bezeichnen sie dich da?“ Meist als almancı, das heißt: „Deutsche“. In der Türkei sind die Kinder Deutsche und in Deutschland sind die Kinder Türken.

Toprak
Genau genommen, heißt es „Deutschländer“.

Dehne
Ja, nicht einmal richtige Deutsche, nur „Deutschländer“. Ich glaube, da fängt es an. Sie fragten vorhin, was wir tun können. Wir müssen ein paar Schritte zurückgehen, um diesen Kindern hier ein zu Hause zu geben. Wir müssen sagen: „Ihr seid hier gewollt mit eurem Migrationshintergrund. Das gehört zu Deutschland, das ganze wird bunt, wird ein bisschen aufregend, wird manchmal auch ein bisschen kompliziert. Aber ihr seid hier gewollt, ihr seid Deutsche.“ Ich glaube, Amerika hat es da einfacher. Die Amerikaner sind die Indianer, und alle anderen sind dazugekommen. In Deutschland ist das ein bisschen schwerer.

Wer ist denn ein „Deutscher“? Manche argumentieren dann in Richtung „arisch“. Wollen wir es jetzt so machen wie in der Nazizeit? Der Deutsche ist blauäugig und blond? Nein, das natürlich auch nicht. Dann versuche ich, Vorschläge zu machen, zum Beispiel zu sagen: „Ich bin syrisch-deutsch, das heißt, ich bin deutsch und habe etwas Syrisches. Und du könntest sagen, du bist türkisch-deutsch. Du musst das Türkische nicht negieren, das sollst du auch gar nicht. Das gehört zu dir. Wenn du diese Sprache lernst, dann ist es eine Bereicherung. Wenn du die Kultur kennst, ist das eine Bereicherung. Aber sag nicht: ‚Deutsch-Türke’.“ Dieses Wort kennen wir aus den Medien. Warum Deutsch-Türke? Das klingt so wie: Er ist noch ein Türke. Er hat zwar was Deutsches, aber er ist und bleibt ein Türke – und das in der vierten Generation!

Reinbold
Das ist ein neues Wort. Gewissermaßen das Plädoyer, die amerikanische Bindestrich-Identität des Italo-American einmal auf Deutsch zu formulieren: „türkisch-deutsch“, „syrisch-deutsch“, und so weiter. Funktioniert das in der Schule? Ist das etwas, das für die Kinder ein interessantes Konzept sein könnte?

Dehne
Wir Lehrer prägen ja die Sprache der Kinder, wir erweitern ihren Wortschatz. Ich finde: Wir sollten das nutzen, damit sie sich irgendwann daran gewöhnen und es selber benutzen. Wir bringen ihnen ja auch ganz andere Worte bei. Wir sollten ihnen auch dieses Wort beibringen, so dass sie sich in ihm wiederfinden und irgendwann sagen: „Ja, ich bin TürkischDeutscher“.

Ich kann ihnen ja nicht sagen. „Du bist ein Deutscher, du bist hier geboren“. Dann geht der Schüler nach Hause und sagt: „Papa, ich bin Deutscher“, und der Vater fragt: „Wie bitte?“ Wenn er aber sagt: „Papa, ich bin Türkisch-Deutscher“, ist es etwas anderes. Der Vater ist ja nach Deutschland gekommen. Natürlich hat er Kinder, die etwas Deutsches an sich haben. Der Begriff hat auch den Vorteil, dass man den Schwerpunkt hierhin oder dahin legen kann. Der eine ist türkisch-deutsch mit ganz großem Türkisch und ein bisschen Deutsch. Der andere sieht sich mehr deutsch und ein bisschen türkisch. Bevor wir anfangen, solche Worte hier einzuführen, muss die Gesellschaft sich allerdings fragen: Will ich das?

Mansour
Für meine Diplomarbeit habe ich einen Fragebogen für Schüler entwickelt. Ganz am Ende habe ich zwei Fragen gestellt: „Sehen sie sich als deutsch?“, mit einer Skala von 0 – 10. „Sehen sie sich als ..........?“, da konnten die Schüler frei etwas eintragen, auch auf einer Skala von 0 – 10.

Die „Deutschen“ haben bei der ersten Frage Werte zwischen 0 und 4 angekreuzt, sie haben ein Problem damit, deutsch zu sein. Die Menschen mit Einwanderungsgeschichten haben auch Werte zwischen 0 und 4 angekreuzt. Keiner will deutsch sein. Die „Deutschen“ haben bei der zweiten Frage dann „Europäer, global, Mensch“ oder so etwas geschrieben. Die Menschen mit Einwanderungsgeschichte haben ihre Heimatländer hingeschrieben, Türke, Araber usw.

Ich glaube, es ist wichtig, diesen Jugendlichen beizubringen, dass ihre Identität mehrdimensional ist, türkisch und deutsch, arabisch und deutsch, und so weiter. In den Familien sind damit ja viele Ängste verbunden. Die Eltern wollen, dass ihre Kinder von ihnen etwas mitnehmen. Sie sind vor vierzig Jahren nach Deutschland gekommen, um zu arbeiten. Auf einmal merken sie, dass ihre Kinder nicht einmal ihre Muttersprache gut sprechen, und sie verhalten sich anders, kleiden sich anders. Es gibt Generationenkonflikte. Diese Ängste müssen wir erkennen und mit den Eltern daran arbeiten. Es ist nicht so schlimm, wenn die Kinder zum Beispiel mehrsprachig aufwachsen …

Reinbold
Man könnte doch auch sagen: es ist gut!

Mansour
Ja, es ist gut. Wichtig ist, dass Identität nicht eindimensional gesehen wird. Ich kann Türke sein, ich kann gleichzeitig Deutscher sein, ich kann Berliner sein, ich kann Europäer sein, ich kann alles Mögliche sein, Moslem noch dazu. Bei vielen Jugendlichen ist die Identität eindimensional. Wenn ich deutsch bin, kann ich nicht noch Türke sein und überhaupt nicht Moslem, und so weiter.

Dehne
Genau. Wenn ich sage: „Ich bin Deutscher“. Dann wird meist erwidert: „Sie sind aber doch Moslem“ – von Schülern!

Reinbold
Dieses Schema ist ganz fest in den Köpfen vorhanden: Die Muslime. Die Deutschen?

Dehne
Ich glaube, dass kommt daher, wie wir in der Gesellschaft darüber reden.

Toprak
Es gibt eine Trennlinie, und diese Trennlinie wird von der Mehrheitsgesellschaft gezogen. Es ist eine Trennlinie zwischen den minderwertigen Migranten und Migrantinnen und dem „Wir“ der Mehrheitsgesellschaft. Das sagt man so natürlich nicht. Aber dieses Gefühl kommt bei den Migrantinnen und Migranten bzw. bei den Menschen mit Migrations- und Einwanderungsgeschichten an.

Das ist der Grund, warum die Jungs so reagieren. Wenn jemand das Gefühl hat, er gehört nicht dazu, dann sagt er: „Ich bin Türke.“ Ich frage dann manchmal provokativ: „Was ist das denn überhaupt, Türke?“ Dann merke ich, dass er keine Ahnung von der Türkei hat, aber er sagt, er ist Türke. Sie haben vollkommen Recht. Das schlimmste, was man sagen kann, ist, Deutscher zu sein. Ich weiß nicht warum. Das ist ein no-go bei Migranten und Migrantinnen. Man darf allerdings nicht jedes Wort der Jugendlichen auf die Goldwaage legen. Es ist manchmal auch einfach uncool, über bestimmte Dinge zu reden.

 

Unterschiedliche Erziehungsvorstellungen in Schule und Familie

Reinbold
Herr Toprak, es gibt ja noch einen anderen Effekt, den Sie in Ihren Büchern beschreiben. Die Kinder lernen zu Hause, dass sie respektvoll sein müssen, dass sie die Eltern nicht kritisieren dürfen. In der Schule fordert der Lehrer sie auf, sich eine eigene Meinung zu bilden und sich in ein kritisches Verhältnis zu diesem und jenen zu setzen. Wie bringt man das zusammen?

Toprak
Meine These ist, dass zwei Drittel der Kinder und Jugendlichen mit unterschiedlichen Erziehungsvorstellungen in Schule und Familie gut zurechtkommen. Im Elternhaus wird dies und jenes verlangt, im Schulkontext oder in der Bildungseinrichtung wird etwas anderes verlangt, und sie können sich zwischen beiden Konzepten gut arrangieren. Das schaffen mindestens zwei Drittel ganz gut.

Dann gibt es eine Minderheit, die das nicht immer hinbekommt. In der Schule wird Kritikfähigkeit verlangt, es wird Offenheit verlangt, man darf auch dem Lehrer oder anderen Personen Fragen stellen, auch kritische Fragen. Einige verwechseln diese Kritik mit Unverschämtheit. Sie meinen, wenn sie kritisch sein können, dann können sie jemandem auch etwas Böses sagen. Im Elternhaus haben sie gelernt, dass sie in Anwesenheit des Vaters den Mund halten sollen. Dann denken sie: In der Schule ist Kritik erlaubt, also muss ich, wenn der Lehrer da ist, nicht den Mund halten.

Ich habe gerade eben, als ich zum Taxi wollte an der FH Dortmund, zwei Studenten getroffen, die älter sind als ich. Sie studieren im zweiten Semester Soziale Arbeit. Ich habe sie auf Türkisch angesprochen, wie die Klausur war – und beide haben, obwohl sie älter sind als ich, sofort die Zigarette nach hinten versteckt, wegen des Respekts. Nicht weil ich älter bin, sondern weil ich der Professor bin. Ich habe gesagt, sie können ruhig rauchen, wenn sie eine Zigarette übrig haben, können sie mir auch eine geben. Und beide sagten: „Sie können gern rauchen, wir rauchen jetzt nicht“. Da habe ich noch einmal gesagt: „Ihr könnt ruhig rauchen“. Antwort: „Herr Lehrer, wir haben das so gelernt. Wir können jetzt nicht auf einmal rauchen.“ Das ist ein schönes Beispiel für das, worum es geht. Es ist nicht immer einfach, zwischen den Kulturen hin und her zu schalten.

Aber ich bin da entspannt. Zwei Drittel bekommen es hin. Mein Sohn zum Beispiel, der ist 4 1/2 Jahre alt. Zu Hause räumt er nie auf, weil wir immer aufräumen. Neulich waren wir im Kindergarten putzen und sauber machen, wir sind in einer Elterninitiative. Dann hat unser Sohn gespielt, und es lag alles auf dem Boden. Als wir gehen wollten, hat er seine Jacke angezogen, und ich wollte hingehen und aufräumen. Und da war alles aufgeräumt! Ich habe zu ihm gesagt: „Wieso räumst du hier auf?“ Und er hat geantwortet: „Ja, in der Kita muss man aufräumen, sonst gibt es Ärger!“ Aber zu Hause eben nicht. Kontextgebunden agieren, das können schon 4-jährige – und so auch die meisten Erwachsenen.

Reinbold
Ich wollte noch einen Punkt ansprechen. Sie haben in einem Buch als Fazit formuliert: „Die Schüler wollen keinen Kumpel-Lehrer, sondern eine Autoritätsperson.“

 

„Die Schüler wollen keinen Kumpel-Lehrer, sondern eine Autoritätsperson“

Toprak
Ja, Schüler wollen Autoritätspersonen. Sie wollen keine Freunde, sie haben ihre Freunde. Sie wollen mit den Lehrern nicht befreundet sein, sondern sie wollen, dass es Lehrerinnen und Lehrer gibt, die ihnen Orientierung geben, die auch in der Lage sind, den Jugendlichen unangenehme Sachen zu sagen, die den Jugendlichen signalisieren: „Ich bin hart, aber ich habe Interesse an dir. Ich möchte zum Beispiel nicht, dass du diesen Quatsch noch einmal machst. Ich nehme mir Zeit, um mich mit dir auseinanderzusetzen.“ Wenn ich jemanden auf seine Fehler verweise, nehme ich ihn ernst. Es kommt ganz auf die Ansprache an. Schüler wollen keine Freunde und keine Kumpel haben, davon bin ich überzeugt. Sie wollen jemanden, der ihnen Orientierung gibt, der den Weg zeigt, der seine Erfahrungen mitgibt und der, wenn es sein muss, auch mal auf den Tisch haut. Das wollen die Jungs …

Dehne
und die Mädchen auch!

Reinbold
Die Mädchen auch?

Dehne
Natürlich! Alle Schüler wollen das. Sie wollen Lehrer, an denen man sich reiben kann, gerade in der Pubertät. Nur wenn es klare Regeln gibt, weiß man, woran man ist. Nur wenn eingefordert wird, dass die Regeln eingehalten werden, haben die Schüler einen Schutzraum, weil diese Regeln ja für alle gelten. Dann wissen die Schüler und Schülerinnen, wie es funktioniert.

Reinbold
Es wird ja oft in den Medien berichtet, dass insbesondere Lehrerinnen Probleme haben mit einer bestimmten Sorte von Jungs, die sagen. „Auf Frauen höre ich nicht.“ Ist das ein Klischee? Oder ist das Realität, und, wenn ja, wie geht man damit um?

Dehne
Ich habe im Vorfeld einmal ein paar Kolleginnen gefragt. Dann sagte mir eine zum Beispiel: „Wie, Frau? Ich bin geschlechtslos als Lehrer! Ich bin da nicht Mann oder Frau. Es interessiert mich nicht, als was das Kind mich sieht. Ich bin Lehrer und habe hier eine Rolle, und die nehme ich ein.“ Eine andere Lehrerin kam ins Grübeln, dachte sehr lange nach, kam aber zu keinem Ergebnis. Am Anfang eines Schuljahrs hatte sie Probleme mit einigen Kindern mit Migrationshintergrund. Das ist immer so am Anfang eines Schuljahrs. Man muss erst einmal die Grenzen abstecken, und die Schüler probieren aus, wie weit sie gehen können. Sie hat sich gefragt, ob es damit zu tun hat, dass sie eine Frau ist und ob es anders gewesen wäre, wenn sie ein Mann wäre. Aber sie war sich unsicher.

Grundsätzlich glaube ich: Es ist wahrscheinlich einfacher, eine Opferhaltung einzunehmen, für Lehrer und für Schüler. Wenn ein Lehrer schwierige Schüler hat, Schüler, die nie richtig sprechen, die von ihren Eltern wenig mitbekommen haben, und er dann sagt: „Diese Ausländerkinder respektieren mich nicht“, dann hat er eine Erklärung – obwohl es in Wirklichkeit um soziale Fragen geht.

Genauso falsch ist es, wenn Kinder mit Migrationshintergrund ihre Lehrer abwerten und sagen: „Die behandeln mich nicht fair, weil ich Migrant bin.“ Es ist viel einfacher, den Fehler beim anderen zu suchen als bei sich selbst. Lehrer haben einen harten Job. Jeder Tag ist anders, jeder Tag ist neu. Es ist unheimlich schwer, fair zu sein, zu so vielen Kindern gleichzeitig, insbesondere wenn man angespannt und müde ist. Kinder haben ein sehr feines Gefühl für Fairness. Sie wollen nicht bloßgestellt, nicht beleidigt werden. Ein Lehrer ist sehr mächtig in der Klasse. Er kann alle Normen einhalten und ein Kind doch bloßstellen. Es genügt manchmal schon, wie er das Kind ansieht. Wenn ein Lehrer Probleme mit einem Kind hat, weil es Migrationshintergrund hat, spürt das Kind das sofort. Ein Lehrer muss alle Kinder gleich annehmen. Aber ein Lehrer ist auch nur ein Mensch.

Reinbold
Letzte Frage: Herr Mansour, haben Sie einen Wunsch an die deutsche Mehrheitsgesellschaft? Gibt es etwas, was alle tun können, um es den Jugendlichen, mit denen Sie im Projekt „Heroes“ zu tun haben, leichter zu machen, ihren Weg zu gehen?

Mansour
Zuerst einmal ist wichtig: Wir müssen offen über die Probleme reden. Wir dürfen nicht verharmlosen. Wir dürfen die Probleme nicht in einem Kulturrelativismus verstecken oder einfach schweigen, wie es in vielen Städten passiert. Die Probleme sind da, die Lehrer kennen sie, wir müssen offen darüber reden.

Ganz wichtig scheint mir darüber hinaus die Erziehung zum kritischen Denken. Das ist einer der wichtigsten Aspekte für die Erhaltung unserer Demokratie. Wenn die jugendlichen Heranwachsenden nicht kritisch denken, nicht hinterfragen, dann haben wir nicht nur mit „Ehre“ ein Problem, sondern wir werden mit Radikalisierung zu tun haben. Jugendliche, die lernen zu hinterfragen, werden immun gegen alle möglichen Radikalisierungsformen. Leider sehe ich in vielen Familien, dass Gehorsam eine große Rolle spielt, eine größere Rolle als die Fähigkeit zur Kritik. Die Schule als Sozialisationsinstrument versagt da ab und zu und erreicht diese Jugendlichen nicht, sie schafft es nicht, ihnen kritisches Denken beizubringen.

Reinbold
Das Erlernen des kritischen Denkens ist eines der Fundamente der demokratischen Kultur. Zustimmung?

Dehne, Toprak
Zustimmung.

Reinbold
Vielen Dank!

(Redaktion: Wolfgang Reinbold)

Ehre ist das wichtigste. Einwandererkinder zwischen Familie, Schule und Religion

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