Klausing
Es gibt eine Redewendung im Koran, die sehr oft und in verschiedenen Kombinationen vorkommt: Die Menschen werden dazu aufgerufen, zu glauben und Gutes zu tun. Das ist eine Grundaussage, die hinter vielen koranischen Geboten steht. Glauben und gute Werke tun.
Zu den akzeptierten Vieldeutigkeiten möchte ich noch ein Beispiel hinzufügen aus dem gottesdienstlichen Bereich. Es gibt eine Stelle, in der die rituelle Waschung beschrieben wird. Da ist unter anderem die Rede davon, wie diese Waschung vonstatten zu gehen hat, welcher Teil vom Arm benetzt werden soll und dass der Kopf benetzt werden soll. Dazu gibt es zwei Interpretationen, einmal die schafi‘itische, die besagt, dass es ausreicht, wenn der Haaransatz benetzt wird, und dann die hanafitische, die vorsieht, dass der ganze Kopf zu benetzen ist. Die beiden Rechtsschulen unterscheiden sich in der Auslegung, aber beides ist als gültig akzeptiert. Je nachdem welcher Rechtsschule man folgt, macht man das so oder so.
Reinbold
Herr Bauer, Sie führen in Ihrem Buch ein Beispiel für diese Vieldeutigkeit an, das mich sehr beeindruckt hat, nämlich den Beginn der 79. Sure, ein ganz schwieriger Text. Da streiten sich die Gelehrten, ob hier die Rede ist von Engeln, von Sternen, vom Tod, von Seelen oder von Pferden (79,4). Sie zitieren dazu einen Gelehrten aus dem 11. Jahrhundert: Er zitiert diese fünf Deutungen – und dann macht er nicht das, womit man vielleicht rechnen könnte, nämlich zu erklären, welche von den fünf Deutungen denn die beste ist. Sondern er lässt sie stehen und sagt: Ich habe aber noch eine sechste!
Bauer
Genau. Dass man diese Art der Auslegung heute so merkwürdig findet, das liegt einfach daran, dass man den Koran vielfach reduziert hat und ihn als normativen Text behandelt. Aber das ist er ja nicht nur. Er ist in vieler Hinsicht auch ein literarischer Text. Ich weiß nicht, ob Muslime diese Bezeichnung akzeptieren, aber es ist ein Text, der eine hohe literarische Qualität hat – und literarische Werke wollen immer interpretiert werden! Ein Drama von Shakespeare oder ein Gedicht von Goethe haben nicht einen eindeutigen Sinn, sondern eine Sinnbreite, sonst wird es uninteressant. Sonst würden wir uns Romeo und Julia von Shakespeare nicht mehr anschauen, weil das, worum es damals ging, für uns ja egal ist. Wir leben in ganz anderen Zeiten. Aber der Text bleibt lebendig, weil er unterschiedlich ausgelegt werden kann und weil ihm jeder seinen eigenen Sinn abgewinnen kann. Das gilt für viele Passagen des Korans auch.
Reinbold
Der Koran ist ein poetischer Text, ein Stück Dichtung?
Bauer
Ja. Der Koran reagiert damit sogar auf die zeitgenössische Dichtung. Wir haben einen großen Korpus an Dichtung, die in der Zeit entstanden ist, als der Koran offenbart wurde. Diese Dichtung liebt zum Beispiel Ersatzwörter, deren Zuordnung offen bleibt. Das wird im Koran wieder aufgenommen. Und da die muslimischen Gelehrten von Anfang an sprachwissenschaftlich ausgefuchst waren, da sie Dichtung kannten und in Rhetorik trainiert waren, fanden sie nichts besonderes dabei oder waren sie geradezu herausgefordert, möglichst spannende Interpretationen von solch schwer verständlichen oder im konkreten Fall fast unverständlichen Koranstellen zu finden.
Reinbold
Frau Klausing, der klassische Gelehrte freut sich, wenn er einen neuen Sinn im Koran entdeckt. Ist das heute eigentlich auch noch so? Würden Sie sagen: Ich beschäftige mich mit dieser Sure und finde noch eine siebte Deutung?
Klausing
Natürlich. Das letzte Jahrhundert hat viele neue literaturwissenschaftliche Wege gesehen, mit denen versucht wurde, den Koran zu interpretieren, insbesondere diese kurzen Suren, die am Ende des Korans stehen und die oft endzeitliche Themen haben. Da sind viele verschiedene Deutungen möglich, wahrscheinlich unendlich viele, denn es handelt sich ja um Phänomene, zu denen Menschen keinen Zugang haben, weil dort eine Endzeitvision beschrieben wird. Das ist etwas, was bei der Lektüre oder der Rezitation eines solchen Textes sofort zugänglich ist. Es geht in der betreffenden Sure um die Beschreibung der Wiederauferstehung der Menschen von den Toten. Das ist etwas, das ein Gläubiger sofort versteht, auch wenn die Bedeutung des von Ihnen angesprochenen Verses nicht eindeutig festgelegt werden kann.
Begriffsverwirrung: „mittelalterlicher“ Islam?
Reinbold
Herr Bauer, ich will noch einmal einen Punkt ansprechen, der in den Medien eine große Rolle spielt, nämlich das Stichwort „mittelalterlich“ im Zusammenhang mit dem Islam. Man hört oft in den Nachrichten – gerade jetzt wieder im Zusammenhang mit dem Terror in Mali –, dass gesagt wird: Das sind Gruppen, die den Islam in das Mittelalter zurückstürzen wollen. Sie schreiben in Ihrem Buch, dass die Begriffe „Mittelalter“ und „Islam“ überhaupt nicht zusammen passen.
Bauer
Ja, das ist eine von vielen Begriffsverwirrungen, unter denen wir leiden. Als sich die Taliban in Afghanistan ausbreiteten und es in der Presse hieß, dass sie Afghanistan ins Mittelalter zurückbringen, da habe ich zynisch gesagt: Ja, denen kann doch gar nichts Besseres passieren! Herat war blühend in der Zeit, in der bei uns Mittelalter war. Da ging es den Leuten viel, viel besser als heute.
Aber den Zynismus beiseite: Das Konzept Mittelalter ist historisch nicht korrekt. Das „Mittelalter“ ist eine Erfindung der Renaissance, die sich gegen die Jahrhunderte zuvor absetzen wollte. Man sagte: Da gab es die Antike, die war toll. Und danach gab es das finstere Zeitalter. Und jetzt knüpfen wir wieder an die Antike an.
Aber diesen Untergang der Antike hat es im östlichen Mittelmeerraum nicht gegeben (die Frage, ob es ihn im Westen gegeben hat, lassen wir jetzt einmal beiseite; das sehen Mittelalterhistoriker auch anders). Im Osten wurde weiterhin mit Stein gebaut, die Leute gingen weiterhin ins Bad, man bezahlte mit Münzen. Die ganze Alltagskultur hat sich nicht verändert. Es gab Schulen, die Leute konnten lesen und schreiben, und so weiter. Einen Bruch zwischen „Antike“ und „Mittelalter“ hat es im ganzen Osten nicht gegeben, auch in der islamischen Welt nicht. Die antike Kultur ist einfach transformiert worden. Teil dieses Transformationsprozesses war die Übersetzung der griechischen Philosophie und der Naturwissenschaft ins Arabische. Und das, was herauskam, ist eigentlich die natürliche, kontinuierliche Fortsetzung der Antike.
Die Geschichte hat also in der arabisch-islamischen Welt einen anderen Lauf genommen. Das Wort Mittelalter, das mit Konnotationen behaftet ist wie „finster“ und „düster“, „lauter Analphabeten machten grausame Dinge“ – diese Konnotationen sind einfach für die islamische Geschichte falsch. So etwas passiert, wenn man bei den Begriffen nicht aufpasst.
Es gibt viele solche Begriffe, ich will nur noch einen nennen, auf den ich inzwischen einen besonderen Hass entwickelt habe, und das ist der Begriff „Islamist“. Neulich stand in einer unserer großen, seriösen Tageszeitungen ein Bericht über die „Islamisten“ in Mali und darunter einer über den „Islamisten“ Mursi in Ägypten. Herr Mursi von den Moslembrüdern und diese Terrorgruppen in Mali unter einer Überschrift, unter einem Begriff – das ist ungefähr so, als würde man Peer Steinbrück und Kim Jong-un von Nordkorea unter eine Überschrift setzen, denn beide gehen letzten Endes historisch auf den Sozialismus zurück. Dass Herr Steinbrück mit dem nordkoreanischen Kommunistenführer nichts zu tun hat, leuchtet jedem ein. Dass aber die Terroristen in Mali, die gerade das islamische Erbe zerstören, mit Herrn Mursi auch nichts zu tun haben, das müsste man eigentlich begreifen. Dann wird man sehen, wie leichtfertig solche Begriffe oft verwendet werden.
Reinbold
In den arabischen Kulturen gibt es kein Mittelalter, weil die Antike gewissermaßen niemals endet, sondern umgeformt wird – bedeutet das, dass im Grunde das gesamte kulturelle Bild, das wir Deutschen, wir Europäer uns von uns haben, neu gedacht werden muss und wir die arabische Kultur eigentlich einbauen müssten in ein normales mitteleuropäisches Selbstverständnis? Wie sehen Sie das, Frau Klausing?
Islam und Europa
Klausing
Mit „Selbstverständnis“ haben Sie das richtige Stichwort gegeben. Es geht ja nicht nur um eine korrekte geschichtliche Sichtweise. In der Wissenschaft ist dieser Ausschluss des Islams bzw. der Araber aus der Europäischen Geschichte bzw. der Europäischen Geschichtsschreibung ja längst entlarvt und als falsch dargestellt. Wichtig ist vor allem, dass wir von diesem Feindbild bzw. von diesem Gegenbild ablassen. Ich denke, es ist nicht nur eine simple Geschichtsschreibungssache, die man ändern müsste, sondern dieses Gegenbild Islam/Osten/Orient hier und „der Westen“ da – das erfüllt eine bestimmte Funktion für das Selbstbild, das wir als „Europa“ konstruiert haben. Wenn ich sage: Der Islam bzw. der Orient sind „mittelalterlich“, dann bin ich das nicht mehr. Viele Jahrhunderte lang war der Islam das Sinnbild für exzessive, amoralische Sexualität (das hat sich jetzt verändert), dazu für Blutrünstigkeit, Unfriedlichkeit, und so weiter. Das bedeutet im Umkehrschluss: Ich als Europäer bin das Gegenteil davon, ich bin friedlich. Das Gegenbild erfüllt eine psychologische Funktion. Von dieser Art und Weise der eigenen Identitätskonstruktion müsste man ablassen und die eigene Identität nicht auf ein Gegenbild stützen, sondern auf etwas Positives stützen. Und das ist in der Vergangenheit ja auch manchmal passiert. Wenn man sich zum Beispiel auf Goethe oder Lessing konzentrieren würde, dann könnte man das islamische Erbe sehr gut inkorporieren.
Reinbold
Herr Bauer, ist das in der Wissenschaft inzwischen selbstverständlich, dass wir unser europäisches Selbstbild ergänzen müssen um einen Bereich, den wir, jedenfalls ich, in der Schule nicht gelernt haben?