Mitschrift: Der Koran und seine Bedeutungen (Teil 2)

Zum Gespräch: Ein Text, ein Sinn? Der Koran und seine Bedeutungen


Reinbold
Frau Klausing, wie kommen die Gelehrten dazu, eine so milde und menschenfreundliche Art des Urteils zu vertreten, obwohl im Koran etwas Anderes steht?

Klausing
Das zeigt für mich, dass da eine gewisse Scheu da ist, ein koranisches Urteil zu fällen, das recht hart ist, ohne sich sicher zu sein, dass wirklich alle Bedingungen erfüllt sind. Es ist sozusagen eine gewisse Bescheidenheit, die dahinter steckt. Moderne islamische Staaten bzw. islamisch inspirierte Staaten wie zum Beispiel Ägypten haben in der Verfassung stehen, dass die Scharia die Quelle für die Gesetzgebung ist. Sie interpretieren die Bestrafung von Diebstahl zum Beispiel so: Dass dem Dieb die Hand abgehackt werden soll, das bedeutet für uns, dass wir den Dieb abhalten müssen, weitere Diebstähle zu begehen. Also verhängen wir eine Gefängnisstrafe. Ich weiß nicht, ob das milde ist gegenüber einem Straftäter ...

Reinbold
Milder als das Handabhacken jedenfalls, nach verbreiteter Überzeugung …

Klausing
Wie auch immer. Aber es ist keine Straflosigkeit, die damit einhergeht.

Bauer
Wobei man sagen muss: Das ist eine sehr typische Diskussion, die wir hier führen, weil wir schon wieder über solche Sachen diskutieren wie das Handabhacken. Das wäre so, als wenn man Christentum sofort mit Kreuzzügen in Verbindung bringt … 

Reinbold
Wobei die Kreuzzüge allerdings nicht in der Bibel stehen …

Bauer
Nein, nein. Aber das ist eine engführende Diskussion. Wie ich vorhin schon sagte, beschäftigt sich das islamische Recht fast ausschließlich mit anderen Fragen. Der Koran hat in erster Linie eine spirituelle Dimension. Die allerwenigsten Verse im Koran haben überhaupt irgendeine rechtliche Relevanz, sie können ohne Hinzuziehung von Überlieferungen von anderen Rechtsprinzipien kaum verwendet werden.

Mein Lieblingsbeispiel ist der Satz: „Euch ist Verendetes verboten“ (Sure 5,3). Mit „verendet“ sind Tiere gemeint, die nicht geschlachtet wurden, sondern von selber gestorben sind oder die verunglückt sind. Das klingt zunächst einmal ganz klar. Aber es gibt einen anderen Vers: „Euch sind eure Mütter verboten“ (Sure 4,23). Jetzt wird es schon schwierig. Mit toten Tieren macht man normalerweise andere Dinge als mit seinen Müttern. Also fragt man sich doch, welche Handlungen denn da verboten sind. Da sagt man: Bei verendeten Tieren ist es das Essen, und bei Müttern ist es das Heiraten. Gut. Aber das steht da ja nicht. Und hinzu kommt: Irgendetwas muss man ja auch mit verendeten Tieren machen dürfen. Dann entsteht sofort die Frage: Wie ist es denn mit dem Fell? Darf man das Leder von verendeten Tieren verwenden?

Da hilft uns der Koran überhaupt nicht weiter. Also: Es geht nicht ohne Interpretation. Selbst als Rechtstext ist der Koran extrem interpretationsbedürftig und sehr vage. Das allermeiste, was Menschen so umtreibt, wird im Koran überhaupt nicht geregelt. Was finden Sie zum Beispiel zum Mietrecht? Was zu Staat und Regierung? Nichts. Wenn man unbedingt will, kann man irgendetwas aus dem Begriff „Schura“, das heißt „Beratung“ oder ähnlich, herausziehen, aber man muss auch nicht unbedingt. Also: Es gibt keine Staatsform, es gibt keine Regierungsform, das steht alles nicht im Koran. Aber es gibt ganz viele Texte zur allgemeinen Moral, viel Erbauliches, Spirituelles.
 

Der Koran als spirituelle Dichtung

Reinbold
Frau Klausing, es geht um spirituelle Dinge. Haben Sie einen Begriff für das, was der Kern des Korans ist?

Klausing
Es gibt eine Redewendung im Koran, die sehr oft und in verschiedenen Kombinationen vorkommt: Die Menschen werden dazu aufgerufen, zu glauben und Gutes zu tun. Das ist eine Grundaussage, die hinter vielen koranischen Geboten steht. Glauben und gute Werke tun.

Zu den akzeptierten Vieldeutigkeiten möchte ich noch ein Beispiel hinzufügen aus dem gottesdienstlichen Bereich. Es gibt eine Stelle, in der die rituelle Waschung beschrieben wird. Da ist unter anderem die Rede davon, wie diese Waschung vonstatten zu gehen hat, welcher Teil vom Arm benetzt werden soll und dass der Kopf benetzt werden soll. Dazu gibt es zwei Interpretationen, einmal die schafi‘itische, die besagt, dass es ausreicht, wenn der Haaransatz benetzt wird, und dann die hanafitische, die vorsieht, dass der ganze Kopf zu benetzen ist. Die beiden Rechtsschulen unterscheiden sich in der Auslegung, aber beides ist als gültig akzeptiert. Je nachdem welcher Rechtsschule man folgt, macht man das so oder so.

Reinbold
Herr Bauer, Sie führen in Ihrem Buch ein Beispiel für diese Vieldeutigkeit an, das mich sehr beeindruckt hat, nämlich den Beginn der 79. Sure, ein ganz schwieriger Text. Da streiten sich die Gelehrten, ob hier die Rede ist von Engeln, von Sternen, vom Tod, von Seelen oder von Pferden (79,4). Sie zitieren dazu einen Gelehrten aus dem 11. Jahrhundert: Er zitiert diese fünf Deutungen – und dann macht er nicht das, womit man vielleicht rechnen könnte, nämlich zu erklären, welche von den fünf Deutungen denn die beste ist. Sondern er lässt sie stehen und sagt: Ich habe aber noch eine sechste!

Bauer
Genau. Dass man diese Art der Auslegung heute so merkwürdig findet, das liegt einfach daran, dass man den Koran vielfach reduziert hat und ihn als normativen Text behandelt. Aber das ist er ja nicht nur. Er ist in vieler Hinsicht auch ein literarischer Text. Ich weiß nicht, ob Muslime diese Bezeichnung akzeptieren, aber es ist ein Text, der eine hohe literarische Qualität hat – und literarische Werke wollen immer interpretiert werden! Ein Drama von Shakespeare oder ein Gedicht von Goethe haben nicht einen eindeutigen Sinn, sondern eine Sinnbreite, sonst wird es uninteressant. Sonst würden wir uns Romeo und Julia von Shakespeare nicht mehr anschauen, weil das, worum es damals ging, für uns ja egal ist. Wir leben in ganz anderen Zeiten. Aber der Text bleibt lebendig, weil er unterschiedlich ausgelegt werden kann und weil ihm jeder seinen eigenen Sinn abgewinnen kann. Das gilt für viele Passagen des Korans auch.

Reinbold
Der Koran ist ein poetischer Text, ein Stück Dichtung?

Bauer
Ja. Der Koran reagiert damit sogar auf die zeitgenössische Dichtung. Wir haben einen großen Korpus an Dichtung, die in der Zeit entstanden ist, als der Koran offenbart wurde. Diese Dichtung liebt zum Beispiel Ersatzwörter, deren Zuordnung offen bleibt. Das wird im Koran wieder aufgenommen. Und da die muslimischen Gelehrten von Anfang an sprachwissenschaftlich ausgefuchst waren, da sie Dichtung kannten und in Rhetorik trainiert waren, fanden sie nichts besonderes dabei oder waren sie geradezu herausgefordert, möglichst spannende Interpretationen von solch schwer verständlichen oder im konkreten Fall fast unverständlichen Koranstellen zu finden. 

Reinbold
Frau Klausing, der klassische Gelehrte freut sich, wenn er einen neuen Sinn im Koran entdeckt. Ist das heute eigentlich auch noch so? Würden Sie sagen: Ich beschäftige mich mit dieser Sure und finde noch eine siebte Deutung?

Klausing
Natürlich. Das letzte Jahrhundert hat viele neue literaturwissenschaftliche Wege gesehen, mit denen versucht wurde, den Koran zu interpretieren, insbesondere diese kurzen Suren, die am Ende des Korans stehen und die oft endzeitliche Themen haben. Da sind viele verschiedene Deutungen möglich, wahrscheinlich unendlich viele, denn es handelt sich ja um Phänomene, zu denen Menschen keinen Zugang haben, weil dort eine Endzeitvision beschrieben wird. Das ist etwas, was bei der Lektüre oder der Rezitation eines solchen Textes sofort zugänglich ist. Es geht in der betreffenden Sure um die Beschreibung der Wiederauferstehung der Menschen von den Toten. Das ist etwas, das ein Gläubiger sofort versteht, auch wenn die Bedeutung des von Ihnen angesprochenen Verses nicht eindeutig festgelegt werden kann.
 

Begriffsverwirrung: „mittelalterlicher“ Islam?

Reinbold
Herr Bauer, ich will noch einmal einen Punkt ansprechen, der in den Medien eine große Rolle spielt, nämlich das Stichwort „mittelalterlich“ im Zusammenhang mit dem Islam. Man hört oft in den Nachrichten – gerade jetzt wieder im Zusammenhang mit dem Terror in Mali –, dass gesagt wird: Das sind Gruppen, die den Islam in das Mittelalter zurückstürzen wollen. Sie schreiben in Ihrem Buch, dass die Begriffe „Mittelalter“ und „Islam“ überhaupt nicht zusammen passen.

Bauer
Ja, das ist eine von vielen Begriffsverwirrungen, unter denen wir leiden. Als sich die Taliban in Afghanistan ausbreiteten und es in der Presse hieß, dass sie Afghanistan ins Mittelalter zurückbringen, da habe ich zynisch gesagt: Ja, denen kann doch gar nichts Besseres passieren! Herat war blühend in der Zeit, in der bei uns Mittelalter war. Da ging es den Leuten viel, viel besser als heute.

Aber den Zynismus beiseite: Das Konzept Mittelalter ist historisch nicht korrekt. Das „Mittelalter“ ist eine Erfindung der Renaissance, die sich gegen die Jahrhunderte zuvor absetzen wollte. Man sagte: Da gab es die Antike, die war toll. Und danach gab es das finstere Zeitalter. Und jetzt knüpfen wir wieder an die Antike an.

Aber diesen Untergang der Antike hat es im östlichen Mittelmeerraum nicht gegeben (die Frage, ob es ihn im Westen gegeben hat, lassen wir jetzt einmal beiseite; das sehen Mittelalterhistoriker auch anders). Im Osten wurde weiterhin mit Stein gebaut, die Leute gingen weiterhin ins Bad, man bezahlte mit Münzen. Die ganze Alltagskultur hat sich nicht verändert. Es gab Schulen, die Leute konnten lesen und schreiben, und so weiter. Einen Bruch zwischen „Antike“ und „Mittelalter“ hat es im ganzen Osten nicht gegeben, auch in der islamischen Welt nicht. Die antike Kultur ist einfach transformiert worden. Teil dieses Transformationsprozesses war die Übersetzung der griechischen Philosophie und der Naturwissenschaft ins Arabische. Und das, was herauskam, ist eigentlich die natürliche, kontinuierliche Fortsetzung der Antike.

Die Geschichte hat also in der arabisch-islamischen Welt einen anderen Lauf genommen. Das Wort Mittelalter, das mit Konnotationen behaftet ist wie „finster“ und „düster“, „lauter Analphabeten machten grausame Dinge“ – diese Konnotationen sind einfach für die islamische Geschichte falsch. So etwas passiert, wenn man bei den Begriffen nicht aufpasst.

Es gibt viele solche Begriffe, ich will nur noch einen nennen, auf den ich inzwischen einen besonderen Hass entwickelt habe, und das ist der Begriff „Islamist“. Neulich stand in einer unserer großen, seriösen Tageszeitungen ein Bericht über die „Islamisten“ in Mali und darunter einer über den „Islamisten“ Mursi in Ägypten. Herr Mursi von den Moslembrüdern und diese Terrorgruppen in Mali unter einer Überschrift, unter einem Begriff – das ist ungefähr so, als würde man Peer Steinbrück und Kim Jong-un von Nordkorea unter eine Überschrift setzen, denn beide gehen letzten Endes historisch auf den Sozialismus zurück. Dass Herr Steinbrück mit dem nordkoreanischen Kommunistenführer nichts zu tun hat, leuchtet jedem ein. Dass aber die Terroristen in Mali, die gerade das islamische Erbe zerstören, mit Herrn Mursi auch nichts zu tun haben, das müsste man eigentlich begreifen. Dann wird man sehen, wie leichtfertig solche Begriffe oft verwendet werden.

Reinbold
In den arabischen Kulturen gibt es kein Mittelalter, weil die Antike gewissermaßen niemals endet, sondern umgeformt wird – bedeutet das, dass im Grunde das gesamte kulturelle Bild, das wir Deutschen, wir Europäer uns von uns haben, neu gedacht werden muss und wir die arabische Kultur eigentlich einbauen müssten in ein normales mitteleuropäisches Selbstverständnis? Wie sehen Sie das, Frau Klausing?
 

Islam und Europa

Klausing
Mit „Selbstverständnis“ haben Sie das richtige Stichwort gegeben. Es geht ja nicht nur um eine korrekte geschichtliche Sichtweise. In der Wissenschaft ist dieser Ausschluss des Islams bzw. der Araber aus der Europäischen Geschichte bzw. der Europäischen Geschichtsschreibung ja längst entlarvt und als falsch dargestellt. Wichtig ist vor allem, dass wir von diesem Feindbild bzw. von diesem Gegenbild ablassen. Ich denke, es ist nicht nur eine simple Geschichtsschreibungssache, die man ändern müsste, sondern dieses Gegenbild Islam/Osten/Orient hier und „der Westen“ da – das erfüllt eine bestimmte Funktion für das Selbstbild, das wir als „Europa“ konstruiert haben. Wenn ich sage: Der Islam bzw. der Orient sind „mittelalterlich“, dann bin ich das nicht mehr. Viele Jahrhunderte lang war der Islam das Sinnbild für exzessive, amoralische Sexualität (das hat sich jetzt verändert), dazu für Blutrünstigkeit, Unfriedlichkeit, und so weiter. Das bedeutet im Umkehrschluss: Ich als Europäer bin das Gegenteil davon, ich bin friedlich. Das Gegenbild erfüllt eine psychologische Funktion. Von dieser Art und Weise der eigenen Identitätskonstruktion müsste man ablassen und die eigene Identität nicht auf ein Gegenbild stützen, sondern auf etwas Positives stützen. Und das ist in der Vergangenheit ja auch manchmal passiert. Wenn man sich zum Beispiel auf Goethe oder Lessing konzentrieren würde, dann könnte man das islamische Erbe sehr gut inkorporieren.

Reinbold
Herr Bauer, ist das in der Wissenschaft inzwischen selbstverständlich, dass wir unser europäisches Selbstbild ergänzen müssen um einen Bereich, den wir, jedenfalls ich, in der Schule nicht gelernt haben?

Bauer
Die Wissenschaft und die allgemeine Wahrnehmung klaffen hier deutlich auseinander. Wir führen zum Teil merkwürdige Debatten, mit falsch formulierten Fragen, etwa: „Gehört der Islam zu Deutschland?“ Als Wissenschaftler kann man da nur mit den Schultern zucken: Die Frage ist absurd.

Das fängt schon mit der Einengung der Frage auf Deutschland an. Deutschland ist Teil Europas. Europa war in seiner ganzen Geschichte immer wieder auf irgendeine Weise vom Islam geprägt. Es hat sich allerdings oft auch selbst konstruiert über ein Gegenbild des Islams. Der Islam ist wichtig gewesen für die Identitätskonstruktionen europäischer Völker. Aber gerade deshalb gehört der Islam dazu. Das, womit wir uns auseinandersetzen, ist ja Teil von uns. „Europa“ und „Islam“, das ist immer ein sehr kompliziertes Wechselspiel von Übernahme, Faszination, Abgrenzung und Abstoßung gewesen. Das war äußerst dynamisch.
In der modernisierten Moderne ist das allerdings keine sinnvolle Herangehensweise mehr. Dass es so war, ist geschichtlich wichtig gewesen. Aber in der globalisierten Moderne ist die Feststellung der Zugehörigkeit des Islam zu Europa einfach banal.

Klausing
Da gehört der Islam zu Deutschland, weil hier Muslime leben, ganz einfach. Der Buddhismus gehört ja auch zu Deutschland.

Reinbold
Heißt das, dass auch die Rede von der nötigen „Aufklärung“ des Islam im Grunde völlig schief ist, weil die Rede von einer „Aufklärung“ ja voraussetzt, dass davor eine unaufgeklärte Geschichte war, etwa das Mittelalter? Wie gehen Sie damit um, wenn Ihnen jemand sagt, der Islam brauche eine Aufklärung?

Klausing
Aus der historischen Perspektive ist das ein besonders interessanter Fall. Denn man könnte das ja auch so sehen, dass die arabische Produktion von Übersetzungen der griechischen Klassiker und von Kommentaren zu philosophischen Texten geradezu ein Beschleuniger des Prozesses der Aufklärung war. Aber generell ist das wieder so eine Gegenbildgeschichte, die sich da abspielt. Wenn ich sage: „Der Islam braucht eine Aufklärung“, dann setze ich einen Gegensatz voraus, nämlich, dass „Aufklärung“ im Islam noch nicht passiert ist und dass „die“ das gar nicht können. Fragen wie die, ob der Islam eine Aufklärung braucht, sind sehr schwer zu beantworten, denn schon in der Frage selbst steckt ja ein Problem, weil sie einen Gegensatz konstruiert.

Reinbold
Schon die Frage ist also falsch?

Klausing
Ich würde sagen, die Frage ist falsch.

Reinbold
Würden Sie auch sagen: Wir brauchen das nicht, wir haben das schon?

Klausing
Nein, so plakativ würde ich das nicht sagen. Muslimische Gelehrsamkeit hat immer wieder Krisen erfahren, und dann wurde die Gelehrsamkeit wiederbelebt, und so weiter. Ich denke, dass im Anknüpfen an die Traditionen sehr viel Positives steckt. Die Tradition war ja – wir haben viel darüber gesprochen – eine diskursive Tradition. Sie hat versucht, durch Argumente zu überzeugen, sie hat sehr viel gesammelt, sie hat etwa bei den Lesarten nicht harmonisiert, um den späteren Generationen wissenschaftlichen Fortschritt zu ermöglichen.
 

Salafismus als moderne Ideologie

Reinbold
Herr Bauer, nun gibt es mit der Vielgestalt der Überlieferung allerdings ein Problem, das ich zum Schluss wenigstens noch kurz ansprechen möchte. Die sogenannten Salafisten, die im letzten Jahr durch die Verteilung von Koranen in Fußgängerzonen großen Aufruhr erzeugt haben, behaupten ja, dass sie zurückgehen zu der einen, ursprünglichen Tradition. Nach all dem, was wir bisher diskutiert haben, ist das grundfalsch.

Bauer
Zunächst: Religiöse Reformen geschehen sehr oft in der Form, dass man versucht, zurück zu den Ursprüngen zu gehen. Das hat auch Luther nicht anders gesehen.

Reinbold
Gewiss, aber die Frage ist: Ist der Anspruch berechtigt oder nicht?

Bauer
Was wir bei den Salafisten haben, ist, dass eine moderne Ideologie konstruiert wird, die die gesamte eigene Geschichte negiert. Der Salafismus kommt ja nicht aus der traditionellen Gelehrsamkeit. Die wird im Gegenteil als Irrtum betrachtet. Man will die eigene Geschichte sozusagen durchstreichen.

Die Salafisten wollen auch nicht zurück ins 7. Jahrhundert. Aber sie glauben, dass man da unmittelbar anknüpfen kann. Das aber hätte schon ein Gelehrter des 8. Jahrhunderts nicht geglaubt, weil er wusste, dass man den Korantext interpretieren muss, dass man vieles nicht mehr weiß, dass es Hadithe – also Überlieferungen vom Propheten – gibt, die unterschiedlich zuverlässig sind, die teilweise echt sind, teilweise gefälscht, so dass man nur durch wissenschaftliche Tätigkeit weiterkommen kann und nicht durch einen Kurzschluss bzw. einen eingebildeten Kurzschluss zum Propheten oder zu seiner Zeit.

Reinbold
Sie sprechen in ihrem Buch davon, der Salafismus sei eine oder gar die gefährlichste Ketzerei des Islam.

Bauer
Ich habe das nicht gesagt. Das ist ein Zitat eines syrischen Gelehrten.

Reinbold
Aber Sie stimmen mit ihm überein?

Bauer
Ich bin nicht befugt zu sagen, was eine Ketzerei ist und was nicht. Es ist eine Ideologie entstanden, die etwas macht, das es im Islam eigentlich nicht gibt, nämlich zu sagen: „Wer anderer Meinung ist als wir, der ist kein Muslim mehr!“ Üblicherweise hat man das Verketzern von Muslimen, die in bestimmten Bereichen anderer Meinung waren, als unislamisch betrachtet. Man hat immer versucht, möglichst viele unter einen Hut zu bringen. Man hat gesagt: „Die haben zwar nicht wirklich recht, aber gut, es sind auch Muslime.“

Das Verketzern der anderen Muslime fängt mit den Wahhabiten an. Das war die erste auch politisch mächtige Bewegung, die sagte: „Alle, die anders sind als wir, sind gar keine Muslime“. Das war auch der Grund dafür, dass die Wahhabiten sehr gewalttätig waren. Von Anfang an gab es zahllose Rechtsgutachten von Muslimen aller Richtungen und aus allen Teilen der Welt, die sagten, dass der Wahhabismus nicht auf den Boden des Islams steht. Wenn also heute viele Leute glauben, dass das, was in Saudi-Arabien ist, der „richtige Islam“ ist, dann ist das gegen die Mehrheit der Muslime.

Reinbold
Frau Klausing, was kann gegen die Ausbreitung des Salafismus helfen – seriöse muslimische Gelehrsamkeit, Studien an der Universität?

Klausing
Ja, natürlich. Bis wir hier in Deutschland soweit sind, dass wir wirklich an die islamische Gelehrsamkeit anknüpfen können, wird das wohl noch ein bisschen dauern, und die Zeit müssen wir uns nehmen. Aber ich denke schon, dass das der richtige Weg ist. Eine Auseinandersetzung mit den Traditionen im Sinne eines Anknüpfens an diese Diskurse ist auf jeden Fall etwas, was angestrebt werden sollte. Und ich sehe dafür eine ganz große Resonanz unter unseren Studierenden und den Muslimen in Deutschland.

Reinbold
Vielen Dank.

(Redaktion: Wolfgang Reinbold)