Wie ist der Koran entstanden?
Herr Bauer, ich möchte mit den Anfängen des Korans beginnen. Oft liest und hört man, der Koran sei etwa so entstanden: Da ist der Prophet Muhammad auf der arabischen Halbinsel, 7. Jahrhundert. Worte Gottes werden zu ihm herab gesandt. Er sagt sie auf, und seine Gefährten behalten sie, memorieren sie, können sie schließlich auswendig. Als der Prophet stirbt, sammelt man diese Worte, bindet sie schließlich zusammen in einem Buch. Als sich der Islam ausbreitet, verteilt man dieses Buch in den Zentren der islamischen Welt und kopiert es. Und so kommt es schließlich auf uns, so dass das, was am Anfang war, der ursprüngliche Koran, heute überall auf der Welt gelesen werden kann. Ist das so gewesen? Wie ist der Koran entstanden?
Bauer
Es gibt in der Forschung kaum ein so umstrittenes Thema wie die Frage nach den Anfängen des Korans. Viel Aufmerksamkeit haben gegenwärtig Ansätze bekommen, die sagen, dass es komplett anders war, dass etwa der Koran schon früher da war oder erst viel später entstanden ist.
Diese Ansätze sind allerdings deutlich in der Defensive. Es zeigt sich, dass die einfachste Hypothese – also die Vermutung, die am wenigsten Erklärungsaufwand erfordert – dass die einfachste Vermutung die ist, dass die traditionellen Überlieferungen über das Zustandekommen des Korans mehr oder weniger stimmen. Dabei ist Folgendes interessant: Gerade die islamischen Erzählungen über die Entstehung des Korans sehen ziemlich viel Menschenwerk vor. Der Koran kommt nicht auf eine sehr wunderbare Art und Weise zustande, sondern es sind ganz normale Menschen, die diese Texte hören, die diese Texte auswendig lernen und sie sammeln und zusammenstellen.
Die Fragen, die die traditionellen Überlieferungen übrig lassen, sind Fragen wie: Zu welchen Zeitpunkt war der Korantext mehr oder weniger so fertig, wie er heute da ist? Da glaube ich, dass das sogar ziemlich früh der Fall war. Viele sagen, dass der Koran schon beim Tod des Propheten im Wesentlichen in der Form da war, die wir haben. Dafür spricht einiges, vor allem die Tatsache, dass der Korantext – und das ist etwas, das vielen Muslimen gewisse Probleme bereitet –, dass der Korantext Varianten hat. Und zwar Varianten, die sogar von der klassischen islamischen Koranwissenschaft anerkannt werden.
Wenn wir uns diese Varianten des Korantextes anschauen, dann sehen wir, dass sich diese Varianten nicht ideologisch erklären lassen. Es ist ganz offensichtlich so, dass der Verursacher einer Variante nicht versucht hat, eine bestimmte Koranstelle in einer bestimmten Weise zu interpretieren, indem er den Text ändert, etwa durch Umpunktieren oder Umvokalisieren des Arabischen. Manche Koranvarianten sind sogar grammatisch hart. Am besten erklärbar sind diese Varianten, wenn man davon ausgeht, dass es alte Varianten sind, die schon die frühesten Koranleser so hatten. Das deutet darauf hin, dass der Korantext schon beim Tod des Propheten oder sehr kurz danach – etwa während des Kalifates des zweiten Kalifen Omar, das ist eine sehr sinnvolle Hypothese – etwa in der Form da ist, in der wir ihn heute haben.
Interessant ist, dass schon die alten Koranüberlieferer von Koranüberlieferungen sprechen, die sie als nicht so zuverlässig betrachtet haben. Auch das spricht dafür – und das sieht man im Moment in der Islamwissenschaft –, dass die wahrscheinlichste Hypothese zur Entstehung des Korans diese ist. Der Korantext war sehr früh fertig, in der Gestalt, in der er heute vorliegt, und er wurde mit Varianten überliefert. Allerdings bieten die heutigen gedruckten Koranexemplare diese Varianten nicht dar, sondern sie verbreiten den Text, der sich im Osmanischen Reich durchgesetzt hat und der vom Osmanischen Reich propagiert wurde, nämlich die so genannte Lesart Hafs von Asim. Heute wird diese Lesart von allen als der Koran akzeptiert. Diese Stellung hatte sie aber nicht immer.
Varianten und Lesarten des Korantexts
Reinbold
Das heißt: Ursprünglich ist der Korantext nicht einheitlich, sondern er enthält Varianten, und man kann ihn auf verschiedenerlei Weise lesen?
Bauer
Ja, er enthält Varianten, von denen einige als gut überliefert gelten, und dazu gibt es sehr viele Varianten, die als weniger gut überliefert gelten bzw. auch als Fehler gelten. Man sollte das allerdings auch nicht übertreiben: Es ist nicht so, dass es zahllose Varianten gibt, die eine völlig andere Interpretation des Korans nahe legen.
Das eigentlich Entscheidende ist Folgendes: In einer Hebräischen Bibel oder einer wissenschaftlichen Ausgabe des Neuen Testaments haben Sie unter dem Text Fußnoten mit sehr vielen Varianten (viel mehr, als es zum Koran gibt). Aber der Status dieser Varianten ist ein anderer. Ein westlicher Philologe glaubt immer, dass es einen einheitlichen Ursprungstext gibt, der auf verschiedene Weise „verderbt“ ist, wie der Philologe sagt, das heißt, in den sich Fehler eingeschlichen haben. Ein klassischer Koranwissenschaftler würde das nicht so sagen. Er sagt: Solche verderbten Varianten gibt es natürlich auch. Aber es gibt auch Varianten, die gleichermaßen authentisch sind. Das ist sozusagen die List Gottes. Gott offenbart seinen Text sozusagen mit Fußnoten. Verschiedene Lesarten des Korans gelten als gleichermaßen authentisch, und es ist Gottes Planung gewesen, den Koran genau auf diese Art und Weise zu offenbaren. Das ist übrigens etwas, das viele Muslime heute gar nicht wissen.
Reinbold
Frau Klausing, lernt man das bei Ihnen in Osnabrück an der Universität auch so? Der Koran ist ein Text, der bewusst und von Anfang an vieldeutig ist, ein Text mit Fußnoten?
Klausing
Was Herr Bauer gesagt hat, bezieht sich vor allen Dingen auf die schriftliche Form des Korans, also auf den sogenannten Mushaf. Die Sichtweise der islamischen Gelehrsamkeit auf die Entstehung des Korans hat allerdings auch ein zweites Standbein, das viel wichtiger ist, und das ist die mündliche Überlieferung. Korantexte sind vor allen Dingen in der Anfangszeit des Islams eine Unterstützung für die Rezitation dessen, was man auswendig kann. Es geht darum, dass man sich erinnert. Der erste Kodex des Osman, den Sie angesprochen haben, wird in der islamischen Geschichtsschreibung als ein Kodex angesehen, der diese verschiedenen Lesarten zugelassen hat, der aber falsche Lesarten mehr oder weniger eliminiert hat. Die traditionelle Sichtweise besteht darauf, dass es eine mündliche Überlieferung gibt, die lückenlos ist. Sie geht zurück auf die Zeit des Propheten, und sie umfasst Varianten.
Man sagt allgemein, dass es sieben anerkannte Lesarten des Korans gibt. Die Bekannteste und gängigste wurde eben schon genannt, das ist die Lesart Hafs. Über all diese verbreiteten Lesarten unterrichten wir in Osnabrück, auch über Varianten, die nicht in den Kanon eingegangen sind. Das ist für unsere Studenten nichts Neues. Vielleicht ist eine einzelne Variante etwas, was sie noch nie gehört haben. Die Lesart bzw. Rezitationsart Warsch, die in Marokko bzw. in Nordafrika verbreitet ist, kennen viele unserer Studenten und gebrauchen sie zum Teil im Gebet. Aber andere, weniger bekannte Lesarten wie z.B. die im Sudan gebräuchliche kennen nicht alle Studenten. Das heißt allerdings nicht, dass sie darüber schockiert wären, dass es diese Lesart gibt. In der Theorie ist das klar. Ob man mit dieser Lesart vertraut ist, ist dann noch einmal eine andere Sache.
Alle Varianten des Korantexts gelten als ursprünglich
Reinbold
Herr Bauer, der Ausgangstext ist also vielgestaltig. Es gibt verschiedene Versionen, nicht den einen Urtext, der im Nachhinein verderbt worden wäre. Nun schreiben Sie in Ihrem Buch etwas, das für meine Ohren eigentümlich klingt: Der Kalif hätte den Text eindeutig machen können, indem er ihn punktiert, indem er all die Zeichen, die im Arabischen nicht geschrieben werden, hinzu setzt. Genau das aber macht er nicht. Er verzichtet auf die Punkte, um die Vielgestalt der Überlieferung nicht einzuschränken. Könnten Sie das bitte noch einmal erläutern. Was steckt da für ein Gedanke dahinter?