Steger
Unterschiedlich. Es gibt Ärzte, die es begrüßen. Führende Fachvertretungen und Fachgemeinschaften begrüßen es nicht, ich gehöre auch dazu. Das Gesetz schafft ein Sonderrecht, das wir sonst in unserer ärztlichen Praxis nicht haben.
Das betrifft zum einen die stellvertretende Entscheidung der Eltern, die die Selbstbestimmung des Kindes nicht in ausreichendem Maße einbezieht. Wir fordern heutzutage sehr stark die Einbeziehung des Patienten, bei Erwachsenen und auch bei Kindern. Das ist hier nicht mehr möglich. Das ist das eine.
Das andere ist, Herr Germann hat auch darauf hingewiesen: Letztlich liegt die Verantwortung bei den Ärzten und ihrer ärztlichen Kunst, die beschworen wird. Ärzte müssen nicht beschneiden. Sie können es unterlassen, wenn sie nicht wollen. Kein Arzt kann dazu gezwungen werden. Das finde ich sehr schwierig, dass hier die Verantwortung auf die Ärzte übertragen wird.
Darüber hinaus werden einer bestimmten Berufsgruppe Sonderrechte eingeräumt. Das haben wir sonst nicht in unserer ärztlichen Praxis. Nur ein approbierter Arzt darf einen medizinischen Eingriff an einem Menschen durchführen, niemand sonst. Mit dieser Grundregel bricht das Gesetz, und zwar in einem höchst sensiblen Fall. Schließlich geht es ja um einen unumkehrbaren Eingriff in einer sehr sensiblen Körperregion. Ein Eingriff, der darüber hinaus schmerzfrei durchzuführen ist. Dafür sind nun wirklich hohe Kompetenzen erforderlich, gerade, was die Schmerzfreiheit angeht. Insofern begrüße ich das Gesetz nicht. Ich kann allerdings sehr gut nachvollziehen, dass es andere Meinungen hierzu gibt.
Reinbold
Verstehe ich Sie recht: Der entscheidende Punkt ist, dass das Gesetz die Tür öffnet für Leute, die keine Ärzte sind? Für Leute, die, zugespitzt gesagt, von der Sache im Grunde nichts verstehen?
Steger
„Nichts verstehen“ würde ich nicht sagen, weil ich weiß, dass es sehr wohl redliche Bemühungen gibt, eine ordentliche Qualifikation herbeizuführen. Ich möchte aber doch zu bedenken geben, dass es in keinem anderen ärztlichen Handlungsfeld eine solche Ausnahme gibt. Die Beschneidung minderjähriger Jungen ist das einzige Handlungsfeld, in dem ein Nicht-Arzt einen körperlichen Eingriff durchführen darf, und zwar bei einem Neugeborenen! Das ist schon etwas Besonderes. Das ist der eine Punkt. Der andere Punkt ist, dass das Selbstbestimmungsrecht des Kindes nicht vorkommt. Wir verlassen hiermit die internationale Diskussion der Medizinethik.
Germann
Ich denke, das berufsrechtliche Thema können wir in die zweite Reihe stellen. Ich glaube, dass das nicht der entscheidende Streitpunkt war. Da gab es Abstimmungen, um die nötige Kompetenz der Personen zu sichern, die, wie es das Gesetz formuliert, „besonders ausgebildet“ sind und „für die Durchführung der Beschneidung vergleichbar befähigt“. Es werden gut erprobte, bewährte Qualifikationen gefordert. Wie man diese Qualifikationen dann im Einzelnen beschreibt, ist eine Frage der Gestaltung. Der Gesetzgeber macht hier nicht die Tür auf zu Handlungen, die nicht verantwortbar wären.
Zum zweiten Thema, Selbstbestimmung. Das Thema „Selbstbestimmung“ ist ein juristisches Thema. Es ist mir wichtig, darauf hinzuweisen, dass die Selbstbestimmung des Kindes grundrechtlich aufgehoben ist in der Verantwortung der Eltern. Juristisch ist es so, dass die „Personensorgeberechtigten“, also typischerweise die Eltern, die Entscheidungen treffen, auch diejenigen Entscheidungen, die der Patientenautonomie zugerechnet werden. Von der rechtlichen Konstruktion her ist es hier sehr schwierig, von der „Selbstbestimmung“ und von einem „Selbstbestimmungsrecht des Kindes“ zu sprechen.
Zwar ist es so, dass der Wille des Kindes auch rechtlich von Bedeutung ist. Im Paragraphen 1631d BGB ist das aufgehoben im Vorbehalt zugunsten des „Kindeswohls“ [„Dies gilt nicht, wenn durch die Beschneidung … das Kindeswohl gefährdet wird“; § 1631d, Absatz 1]. Hier fordert das Gesetz durchaus, einen Unterschied zu machen zwischen Kindern, die alt genug sind, um über ihren Körper Entscheidungen zu treffen, und Säuglingen, die ja auch sonst in der Medizinethik nicht zur „Selbstbestimmung“ aufgefordert sind.
Reinbold
Das heißt, wenn ich es einmal aus meiner laienhaften Sicht sagen darf: „Selbstbestimmungsrecht des Kindes“ heißt faktisch: Selbstbestimmungsrecht der Eltern über ihr Kind bis zu einem gewissen Alter.
Germann
„Für ihr Kind“, würde ich formulieren. „Selbstbestimmungsrecht der Eltern für ihr Kind“.
Reinbold
Kann man angeben, wann die Zeit endet, in der die Eltern dieses „Selbstbestimmungsrecht für ihr Kind“ haben? Oder, praktisch gefragt: Was passiert, wenn bei der Beschneidung eines muslimischen Jungen mit, sagen wir, 7 Jahren der Junge das Messer sieht und anfängt zu schreien, Zeter und Mordio? Macht sich der Arzt dann strafbar, wenn er weitermacht? Ab wann kann das Kind selbst entscheiden, was ihm gut tut und was nicht?
Germann
Es gibt keine feste Altersgrenze. Es wird immer mal wieder darüber nachgedacht, ob man eine feste Altersgrenze einführen könnte für verschiedene Bereiche, auch für medizinische Entscheidungen. Das hat sich aber nicht durchgesetzt – außer natürlich, das wissen wir alle, dass die Personensorge mit der Volljährigkeit endet.
Vor der Vollendung des 18. Lebensjahres wird im Einzelfall nach der Reife des Kindes unterschieden. Das ist, ganz klar, ein unbestimmtes Kriterium, und es ist sicherlich so, dass der Arzt in einem Fall wie dem von Ihnen beschriebenen tatsächlich die Verantwortung hat, im Zweifel auf Nummer sicher zu gehen. Das ist keine Überforderung der Ärzte. Das müssen sie bei allen medizinischen Eingriffen tun. Überall müssen sie beurteilen und auch Verantwortung dafür übernehmen, dass das Kindeswohl nicht beeinträchtigt wird. Diese Regelung fügt sich eigentlich ganz gut ein in die allgemeine Aufgabe der Ärzte. Der einzige Unterschied in den Fällen des neuen Paragraphen 1631d ist der, dass es keine medizinische Indikation gibt. Das ist der entscheidende Unterschied. Alles weitere, auch die Regeln der „Ärztlichen Kunst“, können wir so abbilden, wie wir es bei einer medizinisch indizierten Beschneidung kennen.
Steger
Ja, sie liefern genau das Stichwort: die nichtmedizinische Indikation. Es gibt dazu eine klare Stellungnahme der zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer. Darin wurde eindeutig festgelegt, und zwar im Konsens der Beteiligten, dass Risiko- und Gefahrenabwehr bei einer nicht medizinisch indizierten Beschneidung in besonderer Weise zu berücksichtigen sind.
Hier bin ich nicht Ihrer Meinung, Herr Germann. Es mag juristisch so sein, dass die Selbstbestimmung des Kindes nicht zu berücksichtigen ist. Das ist die Rechtskonstruktion. Ich sehe das anders, und mit mir viele Ärzte und Sozialpsychologen, die eine ganz andere Vorstellung von der Partizipation und Selbstbestimmung des Kindes haben, von Jugendlichen nicht zu reden. Hier sind Ethik und Recht offensichtlich verschieden voneinander. In den ethischen Positionen tritt das Kind wesentlich stärker in den Vordergrund.
Der zweite Punkt, der sehr wichtig ist, ist der folgende: Die Beschneidung ist eine medizinisch nicht notwendige Maßnahme. Deshalb ist das Kind in besonderer Weise schutzbedürftig. Die Unversehrtheit des Kindes ist zu berücksichtigen, und die Abwägung ist im Zweifelsfall für das Kind zu fällen. Ich sehe aus medizinischer Sicht keinen Vorteil für das Neugeborene durch die Beschneidung. Natürlich weiß ich, dass viele sagen, dass es solche Vorteile gibt. Dann sollte man das mit dem Kind besprechen und es einbeziehen in den Entscheidungsfindungsprozess. Das ist das, was ich fordere und heute hier vertrete, stellvertretend für sehr viele Ärztinnen und Ärzte.
Reinbold
Heißt das, dass Sie der jüdischen Seite also sagen: „Wartet, bis die Kinder 18 Jahre alt sind, dann sollen sie selbst entscheiden?“
Steger
Nein, es geht nicht um Volljährigkeit im rechtlichen Sinn. In der Medizin beziehen wir Kinder bei vielen Entscheidungsfindungsprozessen sehr viel früher ein. Denken Sie an schwer kranke Kinder auf der Krebsstation. Sie sind sehr fit, wenn es um ihre körperliche Erkrankung geht. Da muss nicht erst die Volljährigkeit erreicht sein. Das geht auch bei kleineren Kindern. In den ersten Lebenstagen allerdings geht es nicht, das bedarf aus medizinischer Sicht keiner Begründung. Und noch eins: Ich weiß sehr wohl, dass die jüdische Perspektive eine ganz andere ist. Deshalb habe ich deutlich gemacht, dass das ein ärztlicher Blick ist und eine medizinethische Abwägung.
Sievers
Ich finde das problematisch, weil man da als Vertreter der Religion immer ziemlich schlecht aussieht. Man sieht so aus, als ob man eine archaische Position vertreten würde, die mit Recht und Rechtsstaatlichkeit nichts zu tun hat. Das wurde uns ja vorgeworfen: Wir würden nicht auf dem Boden des Grundgesetzes stehen. Für jemanden, der sich als Verfassungspatrioten bezeichnen würde, war das schon ein harter Schlag.
Ich glaube, Ihre Argumente stechen nicht ganz. Es ist ja nicht zum Nachteil des Kindes, wenn es im jungen Alter beschnitten wird. Das Kind wird auf diese Weise in die Religionsgemeinschaft integriert. Selbst wenn Sie sagen, dass es in dem jungen Alter noch keine Vorteile gibt – es gibt aber auch keine Nachteile. Ich treffe ja den ein oder anderen Juden, der als Kind beschnitten wurde, ohne gefragt zu werden. Ich kann nicht ausmachen, dass sie alle zum Urologen rennen mussten, um irgendwelche Korrekturen vorzunehmen, weil die Beschneidung schlampig durchgeführt wurde. Oder dass sie in großer Zahl an irgendwelchen Störungen leiden, die ihr späteres Leben beeinträchtigen. Das alles sehe ich nicht.
Ich finde es ein schwieriges Thema. Bei den Hauptvertretern Ihrer Richtung, bei Herrn Putzke und Herrn Herzberg, ist es ja so, dass es nicht nur um körperliche Unversehrtheit geht, sondern auch um die seelische Unversehrtheit, die sie durch den Artikel 2 Grundgesetz geschützt sehen wollen. Dann aber stellt sich die Frage, ob wir als Eltern unsere Kinder überhaupt noch in irgendeiner Religion erziehen und sie so vorprägen dürfen, ob wir ihnen noch Werte vermitteln dürfen. Die Beschneidung an sich bewirkt ja nicht, dass man sich später von der Religionsgemeinschaft nicht auch wieder entfernen könnte. Selbstverständlich geht das. Ich hatte eingangs ja gesagt: ich kenne viele Juden und auch Muslime, die beschnitten sind, aber nicht religiös. Ihre Argumente überzeugen mich daher nicht so richtig.