Höcker
Das bringt gar nichts, das führt nicht weiter. Sicher, wenn man diesen Mann, der das geschrieben hat, fragen würde: „Meinen Sie denn, dass Liebe nur legitim ist, wenn Fortpflanzung im Spiel ist?“ Dann würde er das mit Sicherheit schon relativieren. Denn sonst müsste man ja auch die kinderlose Ehe zum Defizitmodell erklären, Ehen von nicht zeugungsfähigen Personen strengstens verbieten und vieles mehr. Das wäre dann ja die natürliche Konsequenz. Ich würde da gar nicht rational argumentieren, das führt ins Absurde.
Meine Erfahrung ist: Wenn ich mit Menschen diskutiere, die solche Positionen vertreten, führt das Gespräch schnell in Sackgassen, in Aporien. Das hilft nicht weiter. Es hilft aber weiter zu fragen: Was ist denn die Angst, die dahinter steckt? Da gibt es oft eine Verunsicherung der eigenen sexuellen Identität. Viele, auch Ältere, waren in einem Lebensraum gefangen, der ihnen nicht entsprach, der aufgrund des gesellschaftlichen Drucks nicht aufgelöst werden konnte oder den aufzulösen sie sich nicht getraut haben, aus was für Gründen auch immer. Und wenn das jetzt scheinbar relativiert wird, dann bricht ein Lebensentwurf auseinander.
Meine Erfahrung in den Diskussionen ist, gerade auch mit evangelikalen Menschen: Die Grenze ist da, wo man sagt: „Homosexualität ist Sünde“. Wenn das so ist, dann darf man keine Segnung machen, dann darf man nicht im Pfarrhaus leben, dann muss man massiv das Lebenspartnerschaftsgesetz bekämpfen, dann müsste die evangelische Kirche dem ganz klar einen Riegel vorschieben, so wie wir es bei anderen Themen auch machen, wo es von der Heiligen Schrift her geboten ist, massiv Widerstand leisten. Es ist nie ein Problem der Schriftexegese. Nach meiner Erfahrung ist es immer ein Problem eigener Ängste.
Reinbold
Es gibt aber doch eine Menge Leute, die das einfach richtig finden, ohne dass sie irgendwovor Angst hätten. Sie sagen: „Das steht so in der Bibel, und der katholische Weltkatechismus sagt es auch, und ich finde das auch. Das ist meine Grundlage“, zum Beispiel als katholischer Christ.
Höcker
Da müssten Sie die katholischen Christen fragen. Das ist eine andere Schrifthermeneutik. Denn wenn Sie sagen, dass die Auslegung Roms die verbindliche Auslegung der Heiligen Schrift ist und dass Rom das so auslegt, dann ist das nach katholischem Verständnis wahr. Aber wir Protestanten haben eine andere Schriftauslegung und einen anderen Wahrnehmungszugriff auf die Heilige Schrift. Die aufgeschlossenen katholischen Schriftausleger würden ja auch spätestens seit Beginn der historisch-kritischen Auslegung nicht mehr aufrechterhalten können, dass das so dasteht. Es ist halt durch die Tradition geheiligt, und die Tradition ist katholischerseits eine Erkenntnisquelle, und das Naturrecht zählt dazu. Es ist ein in sich geschlossenes System. Evangelischerseits aber können Sie das heute nicht mehr vertreten. Da ist die Auslegungswissenschaft der Heiligen Schrift wirklich viel weiter. Es steht einfach nicht da. Und es nützt nichts zu sagen: „Das steht da!“, wenn‘s in Wirklichkeit nicht dasteht.
Reinbold
Es steht schon da, aber Sie interpretieren es so, dass es nichts mit heutigem homosexuellen Leben zu tun hat …
Höcker
Nein, es steht so nicht da! Man liest es hinein, gibt sich der Illusion hin, der Begriff in der Bibel meine sicher das, was ich darunter verstehe. Aber wenn Sie genau hinschauen, steht es eben nicht da. Deswegen verteidige ich so das lutherische Prinzip: Es gilt der Wortsinn, und diesen müssen wir präzise erfassen …
Reinbold
… das heißt, Sie wären nur überzeugt, wenn wirklich „Homosexualität“ oder irgendetwas in der Art im Bibeltext stünde?
Höcker
Wenn es um das ginge, was wir heute darunter verstehen. Wenn das klar wäre, dass das da stünde. Dann müssten wir das als evangelische Kirche tatsächlich bekämpfen. Es steht aber nicht da. Es steht schlichtweg nicht da.
Reinbold
Noch ein Punkt: Sie haben gesagt, dass wir nach der Angst fragen müssen, um einen Zugang zur Frage zu bekommen. Ich habe in der Vorbereitung auf das Gespräch heute Abend viel gelesen. Mein Eindruck ist: Die Debatte wird immer härter. Inzwischen werden schon Leute, die öffentlich sagen, dass sie der Überzeugung sind, dass die Ehe von Mann und Frau höher geschätzt werden sollte, dass sie unter Umständen auch steuerrechtlich anders bewertet werden sollte als eine gleichgeschlechtliche Beziehung, als „Rassisten“ bezeichnet. Man sagt ihnen, dass sie gegen die Menschenrechte verstoßen. Wie finden Sie das?
Höcker
Homosexualität und Rassismus haben nichts miteinander zu tun.
Reinbold
Manche sagen: „Ihr greift das Menschenrecht an von Menschen, die eine andere Sexualität haben. Das ist ein klarer Verstoß gegen die UNO-Menschenrechtskonvention und letztlich so etwas wie Rassismus.“ Und ich habe den Eindruck: Viele Leute scheuen sich, konservative Positionen zu vertreten, weil sie Sorge haben, in eine bestimmte Ecke gestellt zu werden.
Höcker
Ja, das ist aber nicht nur bei diesem Thema so. Das ist beim Thema „Flüchtlinge“ auch so. Da wird plötzlich die christliche Nächstenliebe zurückgeführt auf archaische Formen. Nur der eigene Stamm ist irgendwie gut, und die von außen kommen, sind nicht der eigene Stamm und müssen deshalb irgendwie abgewehrt werden. Das finde ich, ist schlimm, was wir da an täglichem Rassismus erleben. Das ist noch schlimmer angstgesteuert. Aber es sind dieselben Mechanismen, ob es nun um Schwule geht, um Flüchtlinge oder bestimmte andere Gruppen. Es sind immer die gleichen Strukturen.
Reinbold
Verstehe ich Sie recht, dass Sie zu einem weiten Herz ermutigen und davor warnen, große Parolen zu schwingen? Das ist nach meinem Eindruck allerdings das, was zurzeit passiert.
Höcker
Ja, aber das hilft doch nicht weiter! Das einzige, was weiterhilft, ist tatsächlich, über die eigenen Ängste zu sprechen. Es sind vielfach Identitätsfragen. Durch verschiedene ökonomische und soziale Entwicklungen sind viele in ihrer Identität verunsichert, weil die alten Antworten nicht mehr stimmen. Wenn man da nicht sehr gefestigt ist, löst das wirklich Ängste aus. Aber an denen kann man ja arbeiten.
Reinbold
Einmal zugespitzt gefragt: Ist die Kritik am EKD-Familienpapier aus Ihrer Sicht legitim?
Höcker
Ich halte sie in Teilen nicht für seriös, weil sie nie sagt, worin das Papier denn nun unseriös ist. Stimmt die Schrifthermeneutik nicht? Es wird immer nur gesagt. „Ja, es ist alles irgendwie schlecht!“ Aber es wird nie gesagt, dass die theologische Begründung nicht stimmt. Ich habe noch keine Kritik gehört, die sagt, dass die theologische Begründung nicht stimmig ist. Manche haben gesagt, dass sie nicht ausführlich genug ist. Ich selbst würde die Ehe auch ganz anders begründen aus der Heiligen Schrift. Die kann man daraus sehr gut begründen! Aber nicht mit dem, was man früher dazu gesagt hat. Da müssen wir andere Stellen heranziehen. Das würde ich lieber offensiv und attraktiv vertreten als immer wieder die Fragen des 19. Jahrhunderts zu diskutieren. Wie vieles hat man schon mit der Heiligen Schrift begründet! Den ganzen Unsinn, den wir an Verbrechen begangen haben in unserer eigenen Geschichte. All das hat man ja auch mit der Heiligen Schrift begründet! Deswegen bin ich da sehr vorsichtig. Ich verlange immer eine Begründung, und da habe ich bisher noch kein Argument gesehen, das den Argumentationszusammenhang des EKD-Papiers ausgehebelt hätte.
Reinbold
Lassen Sie uns in den letzten Minuten noch einen Schritt weiter gehen und auf die Gender-Frage zu sprechen kommen, die im Hintergrund der Diskussion eine Rolle spielt. In der Gender-Forschung wird vielfach die Kategorie des „Geschlechts“ an sich hinterfragt. Man sagt: „Es wird immer so getan, als sei ‚Geschlecht‘ eine biologische Kategorie. In Wirklichkeit aber ist das Geschlecht eine soziale Konstruktion.
Höcker
Das ist ja auch so. Es zählt zu den Stärken des evangelischen Menschenbildes, dass es einen Menschen nicht auf seine biologische Funktion reduziert. Was Mannsein und Frausein ausmachte, wurde noch vor 30 oder 20 Jahren ganz anders definiert. Da hat man die Gewissen durch Dinge belastet, die wir heute als absurd beschreiben würden. Die Genderforschung ist da wirklich eine Erlösung! Es führt weiter, wenn gefragt wird: Was macht denn alles meine Identität jenseits der Biologie aus? Selbst die Biologie hat doch schon erwiesen, dass ihr Wahrnehmungszugriff auch zu einseitig war. Was haben die Biologen nicht alles erfunden, warum die Frau dem Mann biologisch unterstellt sein müsste!
Reinbold
Gewiss, aber es gibt heute eine Menge Wissenschaftler, die der Auffassung sind, dass sie eindeutig zeigen können, dass Jungen und Mädchen anders ticken, und zwar vor aller Erziehung, einfach aufgrund ihrer natürlichen Anlagen
Höcker
Ja, und das ist doch schon ein Ergebnis der Genderforschung, wenn wir sagen: „Das liegt an der Biologie“. Dann ist doch wirklich in Gender zu fragen: „Müssen dann Jungs immer Blaues angezogen kriegen und mit Feuerwehrautos spielen? Und dürfen nicht auch mal die Mädchen Blaues tragen und einen Werkzeugkasten kriegen?“ Das ist noch nicht Konsens, selbst in Berlin noch nicht.
Reinbold
Aber diejenigen, die behaupten, es gebe diese Unterschiede gar nicht, sondern …
Höcker
… die gibt es aber. Das hat die Genderforschung gerade erwiesen.
Reinbold
Auf die Frage, warum die Männer beim Marathon schneller laufen, hat eine Genderforscherin einmal geantwortet: Das habe kulturelle Gründe.
Höcker
Das finde ich nun auch wieder ein bisschen grenzwertig.
Reinbold
Herr Mohr, das ist der Punkt, an dem Muslime nach meiner Wahrnehmung oft sagen: Was soll das, diese Debatte, ob es „Männer“ gibt und „Frauen“?
Mohr
Die meisten würden sagen: „Es ist ganz klar. Es gibt Männer und Frauen. Sie haben getrennte Rollen. Die Frau ist auch ein bisschen dem Mann zum Gehorsam verpflichtet.“ Das ist klassisches islamisches Denken. Wenn man sagt: „Ja, aber es gibt doch auch Personen, die nicht so ganz eindeutig sind.“ Dann sagen die Leute: „Im Koran steht: ‚wir‘, also Gott, ‚wir haben euch erschaffen als männlich und weiblich‘.“ Das ist richtig und steht so im Koran.
Allerdings muss man auch sehen, dass gerade die islamische Überlieferung und Tradition ein sehr großes Interesse an Hermaphroditen hat, an Zwittern, an Weibmännern, an allen möglichen Arten von Gestalten, die zwischen Mann und Frau liegen. Selbst aus dem Leben des Propheten werden solche Geschichten berichtet, über Weib-Männer und Menschen, die zwischen den Geschlechtern stehen, die zu den Frauengemächern Zugang hatten, und ähnliches mehr. Das Thema fasziniert die Gelehrten, es gibt eine ganze Menge Stoff darüber.
Im Koran wird das Thema nur angedeutet. Es gibt eine Stelle, wo es heißt, dass sich die Frauen bedecken sollen vor Fremden, außer vor der engeren Familie, außer vor ihren Vätern und Brüdern, vor Kindern, die die Geschlechtsreife noch nicht erreicht haben, und vor denjenigen von ihren Dienern, „die keinen Trieb haben“ [Sure 24,31]. So wird es meistens übersetzt. Und wenn man die Kommentare nachschlägt, was das denn heißen soll, was das denn für Personen seien sollen „ohne Trieb“, dann findet man viele Meinungen. Etwa: Es geht um alte Männer, die kein Interesse mehr an Frauen haben. Oder: es geht um Geisteskranke. Und manche sagen: Es geht um Weib-Männer, um effeminierte Männer, die nicht so richtig Männer und nicht so richtig Frauen sind. Das ist ein wichtiges Thema im klassischen Recht, im Erbrecht und Eherecht zum Beispiel. In jedem größeren islamischen Handbuch über Fiqh, also Rechtswissenschaft, gibt es ein Kapitel über das Erbrecht des Zwitters. Der Zwitter ist nicht Mann, und er ist nicht Frau. Also stellt sich die Frage: Wie erbt er denn?
Das Erbrecht des Zwitters ist ein großes Thema, und es wird ganz sachlich diskutiert, nicht mit Flüchen, Gesetzen oder Strafen versehen. In den meisten Fällen erbt die Tochter die Hälfte eines Sohnes. Also angenommen, ich sterbe, und ich hätte eine Tochter und einen Sohn und ich würde 3.000 Euro hinterlassen. Dann würde der Sohn 2.000 und die Tochter 1.000 Euro bekommen. Was aber, wenn ich einen Sohn hätte und eine Tochter und einen Zwitter? Dann würde der Zwitter so zwischendrin erben.
Reinbold
Das heißt, einmal zugespitzt gesagt: Die Rechtslage, die wir in Deutschland erst seit kurzem haben, dass man das Geschlecht bei der Geburt des Kindes nicht mehr unbedingt als „männlich“ oder „weiblich“ angeben muss. Dieses Recht kennt das islamische Recht seit langem?
Mohr
Ja, es gibt schon vor tausend Jahren Überlegungen, wie man so eine Person behandelt. Im Erbrecht zählt die Person halb als Mädchen bzw. Frau und halb als Mann. Und bei Neugeborenen schaut man, aus welchem Geschlechtsteil das Kind uriniert, und so weiter. Und aus diesen ganz praktischen Überlegungen zieht man dann den Schluss, dass es als Mädchen oder als Junge gilt.
Reinbold
Ein sehr trockener Umgang mit diesen Fragen …
Mohr
Ja, eigentlich ja. Daran merkt man, dass ein echtes Interesse da ist. Die Weibmänner spielen in der Kultur und in der Kunst eine große Rolle. Von daher sind Leute, die sich mit islamischer Tradition auskennen und mit den alten, historischen Quellen vielleicht nicht so überrascht, dass es heute bei uns einen Begriff wie „Transgender“ gibt.
Reinbold
Also auch hier, wie vorhin bei Herrn Höcker: Was uns weiterbringt, ist die Auslegung der heiligen Schriften im Originaltext, im Arabischen, im Griechischen, im Hebräischen. Was hilft, ist die Auslegung der Schrift und die kritische Sichtung der Tradition, um dann womöglich zu neuen Bildern zu kommen und nicht in Fallen zu tappen. So verstehe ich Sie beide. Und so, dass Sie sagen: Diskutiert diese Fragen sachlich, fragt nach den Ängsten, und schlagt nicht mit den politischen Keulen drauf, wie es in den Zeitungen und insbesondere im Internet oft der Fall ist. Herzlichen Dank für das Gespräch!
(Redaktion: Wolfgang Reinbold)