Mitschrift: LSBTTI. Übertreiben wir’s mit der sexuellen Vielfalt? (Teil 2)

Zum Gespräch: LSBTTI. Übertreiben wir’s mit der sexuellen Vielfalt?


Reinbold 
Herr Mohr, wie ist es im Islam? Das Thema hatten wir hier bei „Religionen im Gespräch“ schon häufiger. In der Regel, wenn Muslime darauf antworten, sagen sie: „Das geht nicht. Das ist Sünde“. Oder aber. „Das gibt es gar nicht bei uns“. 

Mohr 
Meines Wissens sind mehr als 50 Prozent der Muslime in Deutschland für die „Homoehe“. Sie finden gleichgeschlechtliche Partnerschaften, auch eingetragene, durchaus o.k. Es ist nicht so, dass 85 Prozent der Christen das begrüßen und von den Muslimen nur 20 Prozent. Es sieht also, würde ich sagen, nicht ganz so schlimm aus, wie man denken könnte. Viele Muslime sind vielleicht auch nicht sehr religiös, oder sie haben nichts mit der Tradition zu tun oder mit einem muslimischen Verband. Wie immer es sei: Man sollte im Hinterkopf behalten, dass Muslime nicht nur konservative Leute sind, die sagen: „Alles schlimm, gehört bestraft, Steinigung usw.“

Jetzt zur Homosexualität: Die klassische oder orthodoxe Meinung im Islam ist die, dass sexuelle Akte nur in der Ehe erlaubt sind und dass alles andere verboten ist, haram und Sünde und sogar bestrafenswert.

Wenn man den Koran in die Hand nimmt und nach dieser Position sucht, wird man feststellen, dass es dort nicht ganz so steht. Im Koran heißt es, dass man keine „Unzucht“ treiben soll. In der Ehe ist Sex erlaubt und mit denen, die die „rechte Hand besitzt“. Das heißt, mit allem, was ein Mann besitzt, kann er sexuelle Beziehungen pflegen, etwa mit Sklaven und Sklavinnen. Ein Mann kann nach klassischer islamischer Auslegung also nicht nur mit seinen Ehefrauen Geschlechtsverkehr haben, sondern auch mit den Frauen, die unverheiratet in seinem Besitz sind, also mit Konkubinen. Die Kinder aus solchen Beziehungen waren legitime Kinder.

Nun kann man streiten, ob das im Koran ursprünglich so gemeint ist oder ob es nur eine Art Erlaubnis zur Not ist. Aber es ist unbestreitbar, dass es so verstanden wurde und dass das islamische Recht das in allen Rechtsschulen so sieht. Allerdings: fast kein Muslim heute weiß das überhaupt! Die allermeisten weisen das von sich. Sie sagen: „Das ist nicht wahr, das ist eine Lüge, das gibt es nicht!“ Ich sage. „Bitte, ihr könnt doch diese Bücher lesen. Ihr müsst Arabisch können, natürlich. Aber das ist wirklich so“.

All das gilt einseitig nur für Männer. In der modernen Zeit wurde gefragt: „Wie ist es denn für Frauen?“ Frauen können nach klassischem islamischen Recht Sklaven besitzen. Dürfen dann, so fragte man, Frauen mit männlichen Sklaven, die unverheiratet sind, auch sexuelle Beziehungen pflegen? Die Antwort darauf lautete: „Nein, natürlich nicht, das dürfen nur Männer.“

Heute ist all das obsolet. Der osmanische Sultan wurde 1923 entlassen, und die Eunuchen und die Haremsdamen waren arbeitslos, sie mussten Schaustellerei betreiben und so weiter. Selbst Saudi-Arabien hat in den 60er Jahren die Sklaverei abgeschafft. All das gibt es nicht mehr wirklich. Bis in die Neuzeit aber war es so, dass es neben der Ehe das Konkubinat gab, wenn auch nur für Männer, also nicht gleichberechtigt.

Dieser Punkt ist wichtig. Im Koran steht nirgends: „Sex nur in der Ehe“! Es gibt im Koran nicht einmal ein Wort für „Sex“. Weder für „Sex“ noch für „Sexualität“ noch für „Homosexualität“. All das sind moderne Begriffe. Im Koran gibt es Begriffe wie: „kommen zu jemandem“ oder: „schlafen mit jemandem“ oder: „Unzucht“. Legitimer Geschlechtsverkehr wird auf die wenigen Fälle beschränkt, die ich genannt habe. Alles andere gilt als „Unzucht“.

Homosexualität wird im Koran, wie gesagt, nicht erwähnt, jedenfalls nicht mit einem Begriff, der das Phänomen beschreiben würde. Was man zum Verbot der Homosexualität üblicherweise herbeizieht, ist die Geschichte von Lot. Wir kennen ihn aus der Bibel [1. Mose 18–19], im Koran heißt er „Lut“. Im Koran wird die Geschichte von Lot mehrmals erzählt, mal kürzer mal länger [Suren 7; 11; 15; 26; 27; 29; 54].

In einigen dieser Erzählungen tritt Lot auf und sagt: „Kommt ihr denn wahrlich zu Männern in Begierde anstatt zu den Frauen? Ihr seid ein ausschweifendes Volk!“ Und die Männer werden vernichtet [z.B. 7,80–84]. Es gibt allerdings auch Versionen der Lotgeschichte, in denen das gar nicht vorkommt. Das sind sie einfach nur „Sünder“ oder „Ungläubige“, Leute, die Lot bedrängen und umkommen, ohne dass explizit gesagt wird, dass sie Männer neben den Frauen begehren.

Man kann diese Geschichte so interpretieren, wie es auch im Christentum und im rabbinischen Judentum traditionell getan wurde, dass man sagt: „Diese Männer haben Analverkehr mit Männern getrieben“. Das sagen wir normalerweise nicht so deutlich, wir sind ja höflich. Aber die Korankommentatoren, die sagen das ganz deutlich. Sie lassen keinen Zweifel daran, dass sie glauben, dass die Sünde dieser Männer genau in diesem einen Akt bestanden habe. Im Koran aber steht das so nicht. Da steht bestenfalls: „Sie kommen zu ihnen in Begierde“.

Die Meinung, dass homosexuelle Akte ein Verbrechen sind, das bestraft werden muss, bezieht sich nicht so sehr auf den Koran, sondern auf die Überlieferungen, die Hadithe, die dem Propheten Mohammed zugeschrieben werden bzw. über ihn und seinen frühesten Gefährten berichtet werden. Von diesen Hadithen gibt es eine große Menge. Die meisten von ihnen gelten als relativ „schwach“, das heißt nicht gut begründet. Aber es gibt einige, die von den Rechtsgelehrten als maßgeblich betrachtet werden. Aufgrund dieser Hadithe glaubte man im islamischen Recht als Regel festlegen zu müssen: Wenn ein Mann mit einem Mann Analverkehr begeht, und wenn sie erwischt werden mit vier Zeugen, und wenn sie das dreimal vor einem Richter gestehen, dann sind sie des Todes schuldig oder der Auspeitschung.

Wichtig ist nun: Das klingt alles unglaublich antik und archaisch. Tatsächlich aber ist es keineswegs weit weg. Es spielt vielmehr heute eine große Rolle, im Iran und in manch anderen Ländern wie in Brunei, wo man in dieser Woche offensichtlich ein entsprechendes Gesetz eingeführt hat. Wenn es wirklich hart auf hart kommt, könnte ein Mensch dafür gesteinigt werden! Ich finde: Da kann man als Muslim nicht einfach sagen. „Ach, egal, das ist gerecht, es ist die Scharia, Gottes Gesetz“. Nein! Das muss einen berühren, einen aufregen! Man kann da als Muslim nicht einfach dasitzen und sagen: „Bismillah, im Namen Gottes des Erbarmers, des Barmherzigen“, wenn man zugleich mit ansehen muss, dass in manchen Ländern solche Gesetze existieren …

Reinbold 
… Sie würden sagen: Das ist unislamisch, und das muss man deutlich sagen?

Mohr 
Was heißt „unislamisch“? Für die traditionelle Richtung ist es das Richtige. Die Leute sagen. „Man soll es nicht übertreiben. Aber eigentlich ist das schon richtig“. Wenn ich in den sozialen Netzwerken diskutiere und sage, dass ich das ganz, ganz grausam finde, was da passiert, dass ich es unislamisch finde, unethisch, obsolet. Dann sagen mir die Leute manchmal: „Nein, das ist Allahs Gesetz! So muss so sein“.

Reinbold 
Ist das eine verbreitete Stimmung? 

Mohr 
Nein, es gibt junge Leute, die irgendwie in der Schule vor sich hin krebsen und die diesen Pierre Vogel toll finden. Die stilisieren solche Sachen irgendwie zu ihrem persönlichen Kult. Obwohl sie wahrscheinlich über die Details gar nichts wissen. Sie können kein Arabisch und gar nichts. Sie können auch kein Türkisch und kein Albanisch, also ihre Muttersprache können sie auch nicht. Aber sie finden es eben toll, den Fundi zu spielen. Da eine ruhige Stimme hineinzubringen, das ist wichtig. Es ist wichtig, ihnen zu sagen. „Also hör mal, im Koran selber ist da gar nicht so viel Klares dazu gesagt. Das islamische Recht, von dem du gehört hast, das ist eine Interpretation von Rechtsgelehrten, die sich über Jahrhunderte entfaltet hat. Das ist nicht einfach die Offenbarung selber!“ Das den Leuten überhaupt erst einmal klar zu machen, ist schon eine riesige Anstrengung.

Ich spreche oft über diese Lotgeschichten. Dass es dieser Geschichte nicht darum geht, dass Ahmed und Ali eine homosexuelle Lebensgemeinschaft eingegangen sind und glücklich miteinander leben, das sollte doch eigentlich jedem Idioten klar sein! Und viele der Hadithe, in denen dem Propheten Mohammed ein bestimmtes Wort zugeschrieben wird, sind wirklich grotesk und werden schon in klassischen Quellen verworfen. Da sagen dann die Gelehrten: „Schwach!, diese Überlieferung. Der Überlieferer Soundso ist ein Lügner.“ Man muss kritischer mit dem Thema umgehen und sich nicht von irgendeinem fundamentalistischen Prediger sagen lassen, dass Homosexualität des Teufels ist.

Reinbold 
Ist das eine Meinung, die nur von Fundamentalisten vertreten wird? Oder ist das die Mehrheitsmeinung?

Mohr 
Die Mehrheit würde sagen, dass es verboten ist und eigentlich nicht erlaubt und dass es Sünde ist.

Reinbold 
Der Erziehungswissenschaftler Ahmet Toprak, der bei einem der Gespräche im letzten Jahr zu Gast war, hat in einem seiner Bücher einen Vater zitiert. Als sein Sohn ihm gesagt hat, dass er schwul ist, hat er ihn erst einmal verprügelt und ist dann mit ihm zum Arzt gegangen. Dem Arzt hat er gesagt. „Mach ihn gesund!“ Als der Arzt gesagt hat, dass er das nicht kann, hat er auch den Arzt verprügelt. 

Mohr 
Ich habe das schon oft gehört in den letzten zehn, zwanzig Jahren von türkischen Menschen. Viele Leute kennen solche Fälle. Das ist wohl in der Türkei ganz üblich, dass Homosexualität als eine Krankheit angesehen wird, die Gott uns als schlimme Prüfung auferlegt hat. Die Meinung scheint verbreitet zu sein, dass Homosexualität psychische Ursachen hat und dass man was dagegen tun kann. Mütter, Väter oder auch Ehefrauen schleppen ihre Kinder bzw. ihre Männer zum Psychologen, oder sie wollen Medikamente haben, damit ihr Mann oder ihr Sohn wieder normal wird. 

Reinbold 
Herr Höcker, demgegenüber verläuft die Diskussion in der Mehrheitsgesellschaft ganz anders, nämlich in Richtung LSBTTI. Ich habe zuletzt manchmal den Eindruck gewonnen: Wer immer sich gegen diese Richtung äußert, auf den wird mit der Keule draufgeschlagen. Man sagt, er oder sie sei „homophob“ oder „intolerant“. Wenn jemand sagt, schwule Liebe sei defizitär, weil sie keine Kinder hervorbringen könne – so geschehen kürzlich in einem Artikel in der „Welt“ –, dann heißt es oft: „Der Mann ist intolerant, das ist indiskutabel, da müssen wir uns gar nicht mit abgeben“. Finden Sie das richtig, mit den Kritikern so umzugehen, sie oft auch gleich in die rechte Ecke zu stellen? 

Höcker 
Das bringt gar nichts, das führt nicht weiter. Sicher, wenn man diesen Mann, der das geschrieben hat, fragen würde: „Meinen Sie denn, dass Liebe nur legitim ist, wenn Fortpflanzung im Spiel ist?“ Dann würde er das mit Sicherheit schon relativieren. Denn sonst müsste man ja auch die kinderlose Ehe zum Defizitmodell erklären, Ehen von nicht zeugungsfähigen Personen strengstens verbieten und vieles mehr. Das wäre dann ja die natürliche Konsequenz. Ich würde da gar nicht rational argumentieren, das führt ins Absurde.

Meine Erfahrung ist: Wenn ich mit Menschen diskutiere, die solche Positionen vertreten, führt das Gespräch schnell in Sackgassen, in Aporien. Das hilft nicht weiter. Es hilft aber weiter zu fragen: Was ist denn die Angst, die dahinter steckt? Da gibt es oft eine Verunsicherung der eigenen sexuellen Identität. Viele, auch Ältere, waren in einem Lebensraum gefangen, der ihnen nicht entsprach, der aufgrund des gesellschaftlichen Drucks nicht aufgelöst werden konnte oder den aufzulösen sie sich nicht getraut haben, aus was für Gründen auch immer. Und wenn das jetzt scheinbar relativiert wird, dann bricht ein Lebensentwurf auseinander.

Meine Erfahrung in den Diskussionen ist, gerade auch mit evangelikalen Menschen: Die Grenze ist da, wo man sagt: „Homosexualität ist Sünde“. Wenn das so ist, dann darf man keine Segnung machen, dann darf man nicht im Pfarrhaus leben, dann muss man massiv das Lebenspartnerschaftsgesetz bekämpfen, dann müsste die evangelische Kirche dem ganz klar einen Riegel vorschieben, so wie wir es bei anderen Themen auch machen, wo es von der Heiligen Schrift her geboten ist, massiv Widerstand leisten. Es ist nie ein Problem der Schriftexegese. Nach meiner Erfahrung ist es immer ein Problem eigener Ängste.

Reinbold 
Es gibt aber doch eine Menge Leute, die das einfach richtig finden, ohne dass sie irgendwovor Angst hätten. Sie sagen: „Das steht so in der Bibel, und der katholische Weltkatechismus sagt es auch, und ich finde das auch. Das ist meine Grundlage“, zum Beispiel als katholischer Christ. 

Höcker 
Da müssten Sie die katholischen Christen fragen. Das ist eine andere Schrifthermeneutik. Denn wenn Sie sagen, dass die Auslegung Roms die verbindliche Auslegung der Heiligen Schrift ist und dass Rom das so auslegt, dann ist das nach katholischem Verständnis wahr. Aber wir Protestanten haben eine andere Schriftauslegung und einen anderen Wahrnehmungszugriff auf die Heilige Schrift. Die aufgeschlossenen katholischen Schriftausleger würden ja auch spätestens seit Beginn der historisch-kritischen Auslegung nicht mehr aufrechterhalten können, dass das so dasteht. Es ist halt durch die Tradition geheiligt, und die Tradition ist katholischerseits eine Erkenntnisquelle, und das Naturrecht zählt dazu. Es ist ein in sich geschlossenes System. Evangelischerseits aber können Sie das heute nicht mehr vertreten. Da ist die Auslegungswissenschaft der Heiligen Schrift wirklich viel weiter. Es steht einfach nicht da. Und es nützt nichts zu sagen: „Das steht da!“, wenn‘s in Wirklichkeit nicht dasteht. 

Reinbold 
Es steht schon da, aber Sie interpretieren es so, dass es nichts mit heutigem homosexuellen Leben zu tun hat …

Höcker 
Nein, es steht so nicht da! Man liest es hinein, gibt sich der Illusion hin, der Begriff in der Bibel meine sicher das, was ich darunter verstehe. Aber wenn Sie genau hinschauen, steht es eben nicht da. Deswegen verteidige ich so das lutherische Prinzip: Es gilt der Wortsinn, und diesen müssen wir präzise erfassen …

Reinbold
… das heißt, Sie wären nur überzeugt, wenn wirklich „Homosexualität“ oder irgendetwas in der Art im Bibeltext stünde?

Höcker 
Wenn es um das ginge, was wir heute darunter verstehen. Wenn das klar wäre, dass das da stünde. Dann müssten wir das als evangelische Kirche tatsächlich bekämpfen. Es steht aber nicht da. Es steht schlichtweg nicht da. 

Reinbold 
Noch ein Punkt: Sie haben gesagt, dass wir nach der Angst fragen müssen, um einen Zugang zur Frage zu bekommen. Ich habe in der Vorbereitung auf das Gespräch heute Abend viel gelesen. Mein Eindruck ist: Die Debatte wird immer härter. Inzwischen werden schon Leute, die öffentlich sagen, dass sie der Überzeugung sind, dass die Ehe von Mann und Frau höher geschätzt werden sollte, dass sie unter Umständen auch steuerrechtlich anders bewertet werden sollte als eine gleichgeschlechtliche Beziehung, als „Rassisten“ bezeichnet. Man sagt ihnen, dass sie gegen die Menschenrechte verstoßen. Wie finden Sie das?

Höcker 
Homosexualität und Rassismus haben nichts miteinander zu tun.  

Reinbold 
Manche sagen: „Ihr greift das Menschenrecht an von Menschen, die eine andere Sexualität haben. Das ist ein klarer Verstoß gegen die UNO-Menschenrechtskonvention und letztlich so etwas wie Rassismus.“ Und ich habe den Eindruck: Viele Leute scheuen sich, konservative Positionen zu vertreten, weil sie Sorge haben, in eine bestimmte Ecke gestellt zu werden.

Höcker 
Ja, das ist aber nicht nur bei diesem Thema so. Das ist beim Thema „Flüchtlinge“ auch so. Da wird plötzlich die christliche Nächstenliebe zurückgeführt auf archaische Formen. Nur der eigene Stamm ist irgendwie gut, und die von außen kommen, sind nicht der eigene Stamm und müssen deshalb irgendwie abgewehrt werden. Das finde ich, ist schlimm, was wir da an täglichem Rassismus erleben. Das ist noch schlimmer angstgesteuert. Aber es sind dieselben Mechanismen, ob es nun um Schwule geht, um Flüchtlinge oder bestimmte andere Gruppen. Es sind immer die gleichen Strukturen. 

Reinbold 
Verstehe ich Sie recht, dass Sie zu einem weiten Herz ermutigen und davor warnen, große Parolen zu schwingen? Das ist nach meinem Eindruck allerdings das, was zurzeit passiert.

Höcker 
Ja, aber das hilft doch nicht weiter! Das einzige, was weiterhilft, ist tatsächlich, über die eigenen Ängste zu sprechen. Es sind vielfach Identitätsfragen. Durch verschiedene ökonomische und soziale Entwicklungen sind viele in ihrer Identität verunsichert, weil die alten Antworten nicht mehr stimmen. Wenn man da nicht sehr gefestigt ist, löst das wirklich Ängste aus. Aber an denen kann man ja arbeiten.  

Reinbold 
Einmal zugespitzt gefragt: Ist die Kritik am EKD-Familienpapier aus Ihrer Sicht legitim?

Höcker 
Ich halte sie in Teilen nicht für seriös, weil sie nie sagt, worin das Papier denn nun unseriös ist. Stimmt die Schrifthermeneutik nicht? Es wird immer nur gesagt. „Ja, es ist alles irgendwie schlecht!“ Aber es wird nie gesagt, dass die theologische Begründung nicht stimmt. Ich habe noch keine Kritik gehört, die sagt, dass die theologische Begründung nicht stimmig ist. Manche haben gesagt, dass sie nicht ausführlich genug ist. Ich selbst würde die Ehe auch ganz anders begründen aus der Heiligen Schrift. Die kann man daraus sehr gut begründen! Aber nicht mit dem, was man früher dazu gesagt hat. Da müssen wir andere Stellen heranziehen. Das würde ich lieber offensiv und attraktiv vertreten als immer wieder die Fragen des 19. Jahrhunderts zu diskutieren. Wie vieles hat man schon mit der Heiligen Schrift begründet! Den ganzen Unsinn, den wir an Verbrechen begangen haben in unserer eigenen Geschichte. All das hat man ja auch mit der Heiligen Schrift begründet! Deswegen bin ich da sehr vorsichtig. Ich verlange immer eine Begründung, und da habe ich bisher noch kein Argument gesehen, das den Argumentationszusammenhang des EKD-Papiers ausgehebelt hätte.

Reinbold 
Lassen Sie uns in den letzten Minuten noch einen Schritt weiter gehen und auf die Gender-Frage zu sprechen kommen, die im Hintergrund der Diskussion eine Rolle spielt. In der Gender-Forschung wird vielfach die Kategorie des „Geschlechts“ an sich hinterfragt. Man sagt: „Es wird immer so getan, als sei ‚Geschlecht‘ eine biologische Kategorie. In Wirklichkeit aber ist das Geschlecht eine soziale Konstruktion.

Höcker 
Das ist ja auch so. Es zählt zu den Stärken des evangelischen Menschenbildes, dass es einen Menschen nicht auf seine biologische Funktion reduziert. Was Mannsein und Frausein ausmachte, wurde noch vor 30 oder 20 Jahren ganz anders definiert. Da hat man die Gewissen durch Dinge belastet, die wir heute als absurd beschreiben würden. Die Genderforschung ist da wirklich eine Erlösung! Es führt weiter, wenn gefragt wird: Was macht denn alles meine Identität jenseits der Biologie aus? Selbst die Biologie hat doch schon erwiesen, dass ihr Wahrnehmungszugriff auch zu einseitig war. Was haben die Biologen nicht alles erfunden, warum die Frau dem Mann biologisch unterstellt sein müsste!

Reinbold 
Gewiss, aber es gibt heute eine Menge Wissenschaftler, die der Auffassung sind, dass sie eindeutig zeigen können, dass Jungen und Mädchen anders ticken, und zwar vor aller Erziehung, einfach aufgrund ihrer natürlichen Anlagen 

Höcker 
Ja, und das ist doch schon ein Ergebnis der Genderforschung, wenn wir sagen: „Das liegt an der Biologie“. Dann ist doch wirklich in Gender zu fragen: „Müssen dann Jungs immer Blaues angezogen kriegen und mit Feuerwehrautos spielen? Und dürfen nicht auch mal die Mädchen Blaues tragen und einen Werkzeugkasten kriegen?“ Das ist noch nicht Konsens, selbst in Berlin noch nicht. 

Reinbold 
Aber diejenigen, die behaupten, es gebe diese Unterschiede gar nicht, sondern … 

Höcker 
… die gibt es aber. Das hat die Genderforschung gerade erwiesen.  

Reinbold 
Auf die Frage, warum die Männer beim Marathon schneller laufen, hat eine Genderforscherin einmal geantwortet: Das habe kulturelle Gründe. 

Höcker 
Das finde ich nun auch wieder ein bisschen grenzwertig. 

Reinbold 
Herr Mohr, das ist der Punkt, an dem Muslime nach meiner Wahrnehmung oft sagen: Was soll das, diese Debatte, ob es „Männer“ gibt und „Frauen“?

Mohr 
Die meisten würden sagen: „Es ist ganz klar. Es gibt Männer und Frauen. Sie haben getrennte Rollen. Die Frau ist auch ein bisschen dem Mann zum Gehorsam verpflichtet.“ Das ist klassisches islamisches Denken. Wenn man sagt: „Ja, aber es gibt doch auch Personen, die nicht so ganz eindeutig sind.“ Dann sagen die Leute: „Im Koran steht: ‚wir‘, also Gott, ‚wir haben euch erschaffen als männlich und weiblich‘.“ Das ist richtig und steht so im Koran.

Allerdings muss man auch sehen, dass gerade die islamische Überlieferung und Tradition ein sehr großes Interesse an Hermaphroditen hat, an Zwittern, an Weibmännern, an allen möglichen Arten von Gestalten, die zwischen Mann und Frau liegen. Selbst aus dem Leben des Propheten werden solche Geschichten berichtet, über Weib-Männer und Menschen, die zwischen den Geschlechtern stehen, die zu den Frauengemächern Zugang hatten, und ähnliches mehr. Das Thema fasziniert die Gelehrten, es gibt eine ganze Menge Stoff darüber.

Im Koran wird das Thema nur angedeutet. Es gibt eine Stelle, wo es heißt, dass sich die Frauen bedecken sollen vor Fremden, außer vor der engeren Familie, außer vor ihren Vätern und Brüdern, vor Kindern, die die Geschlechtsreife noch nicht erreicht haben, und vor denjenigen von ihren Dienern, „die keinen Trieb haben“ [Sure 24,31]. So wird es meistens übersetzt. Und wenn man die Kommentare nachschlägt, was das denn heißen soll, was das denn für Personen seien sollen „ohne Trieb“, dann findet man viele Meinungen. Etwa: Es geht um alte Männer, die kein Interesse mehr an Frauen haben. Oder: es geht um Geisteskranke. Und manche sagen: Es geht um Weib-Männer, um effeminierte Männer, die nicht so richtig Männer und nicht so richtig Frauen sind. Das ist ein wichtiges Thema im klassischen Recht, im Erbrecht und Eherecht zum Beispiel. In jedem größeren islamischen Handbuch über Fiqh, also Rechtswissenschaft, gibt es ein Kapitel über das Erbrecht des Zwitters. Der Zwitter ist nicht Mann, und er ist nicht Frau. Also stellt sich die Frage: Wie erbt er denn? 

Das Erbrecht des Zwitters ist ein großes Thema, und es wird ganz sachlich diskutiert, nicht mit Flüchen, Gesetzen oder Strafen versehen. In den meisten Fällen erbt die Tochter die Hälfte eines Sohnes. Also angenommen, ich sterbe, und ich hätte eine Tochter und einen Sohn und ich würde 3.000 Euro hinterlassen. Dann würde der Sohn 2.000 und die Tochter 1.000 Euro bekommen. Was aber, wenn ich einen Sohn hätte und eine Tochter und einen Zwitter? Dann würde der Zwitter so zwischendrin erben.

Reinbold 
Das heißt, einmal zugespitzt gesagt: Die Rechtslage, die wir in Deutschland erst seit kurzem haben, dass man das Geschlecht bei der Geburt des Kindes nicht mehr unbedingt als „männlich“ oder „weiblich“ angeben muss. Dieses Recht kennt das islamische Recht seit langem?

Mohr 
Ja, es gibt schon vor tausend Jahren Überlegungen, wie man so eine Person behandelt. Im Erbrecht zählt die Person halb als Mädchen bzw. Frau und halb als Mann. Und bei Neugeborenen schaut man, aus welchem Geschlechtsteil das Kind uriniert, und so weiter. Und aus diesen ganz praktischen Überlegungen zieht man dann den Schluss, dass es als Mädchen oder als Junge gilt. 

Reinbold 
Ein sehr trockener Umgang mit diesen Fragen …

Mohr 
Ja, eigentlich ja. Daran merkt man, dass ein echtes Interesse da ist. Die Weibmänner spielen in der Kultur und in der Kunst eine große Rolle. Von daher sind Leute, die sich mit islamischer Tradition auskennen und mit den alten, historischen Quellen vielleicht nicht so überrascht, dass es heute bei uns einen Begriff wie „Transgender“ gibt. 

Reinbold 
Also auch hier, wie vorhin bei Herrn Höcker: Was uns weiterbringt, ist die Auslegung der heiligen Schriften im Originaltext, im Arabischen, im Griechischen, im Hebräischen. Was hilft, ist die Auslegung der Schrift und die kritische Sichtung der Tradition, um dann womöglich zu neuen Bildern zu kommen und nicht in Fallen zu tappen. So verstehe ich Sie beide. Und so, dass Sie sagen: Diskutiert diese Fragen sachlich, fragt nach den Ängsten, und schlagt nicht mit den politischen Keulen drauf, wie es in den Zeitungen und insbesondere im Internet oft der Fall ist. Herzlichen Dank für das Gespräch!

(Redaktion: Wolfgang Reinbold)