Mitschrift: Neue Heimat Deutschland (Teil 2)

Zum Gespräch: Neue Heimat Deutschland. Was tun die Religionen für die „Integration“?


Was tun Moscheen für Integration?

Reinbold
Herr Güvercin, ich hatte begonnen mit der schlichten Frage: Wie reagieren Sie, wenn Sie hören, dass die Kinder ihres Nachbarn regelmäßig in die Moschee gehen? Nach meiner Erfahrung reagieren viele mit Ablehnung, weil sie nicht glauben, dass in den Moscheen etwas stattfindet für die Integration. Ist das ein bloßes Vorurteil, das daher rührt, dass die Leute einfach nicht wissen, was in einer Moschee wirklich läuft? Oder gibt es auch Haltungen, wo Sie sagen würden: Das ist nicht nur ein Vorurteil, sondern da ist tatsächlich etwas dran, und da müssten wir auch muslimischerseits ran?

Güvercin
Ich kenne solche Reaktionen natürlich. Wenn die Leute hören, dass ein Kind die Moschee besucht, dass es dort Koranunterricht bekommt, dann entstehen im Kopf bestimmte Vorstellungen und Bilder. „Koranschule“ und „Parallelgesellschaft“, diese ganzen Schlagworte.

Die Moscheen waren zu Beginn provisorische Einrichtungen in den Hinterhöfen. Da haben Gastarbeiter gesagt: Wir brauchen einen Treffpunkt, eine Moschee, da machen wir mal irgendetwas. Und dann haben sie mit sehr kleinen Mitteln die berühmt-berüchtigten Hinterhofmoscheen gegründet. Mittlerweile rückt die Institution Moschee immer mehr in das Zentrum einer Stadt. Die Moscheen werden sichtbar. Aber das ist eine ganz junge Entwicklung. Wenn etwas unsichtbar ist, dann macht man sich so seine Gedanken. Man bekommt über die Medien mit, was in Koranschulen in Pakistan vor sich geht, und so weiter. Ich mache es denjenigen nicht zum Vorwurf, die Vorurteile haben. Sie haben keine Erfahrung, keine direkte Erfahrung gehabt …

Reinbold
… die Moscheen müssen sichtbar werden, höre ich …

Güvercin
Genau, es muss sichtbar werden. Aus muslimischer Sicht kann man nicht immer sagen: „Immer diese Vorurteile, diese böse deutsche Mehrheitsgesellschaft! Die denkt doch, dass jeder Zweite mit einem Bombengürtel rumläuft!“ Klar, das ärgert einen, diese Vorurteile, aber man muss sie auch ernst nehmen, sie kommen ja nicht von ungefähr. Man muss einen Schritt auf die Gesellschaft zugehen. Das fängt mit der eigenen Nachbarschaft an. Ein Tag der offenen Moschee am Tag der deutschen Einheit wird seit über zehn Jahren veranstaltet, das ist eine schöne Institution. Allerdings muss das auch im Alltag ankommen. Es ist die Aufgabe der Moscheegemeinden und jedes Moslems, dafür zu sorgen, dass dieses Bild der Moscheen korrigiert wird, statt zu sagen: „Immer diese Vorurteile! Die Anderen sind die Bösen und wir sind die Opfer.“ Diese Opferhaltung macht einen passiv.

Es gibt junge Leute, die versuchen, Bewegung in die Strukturen der Moschee-gemeinden hineinzubringen. Das ist sehr, sehr mühsam. Ich habe im Vorfeld unserer Diskussion mit einem deutschen Muslim gesprochen, der seit Jahrzehnten aktiv ist. Sogar er hat mir berichtet, dass er teilweise müde ist, weil es einfach sehr schwierig ist, bestimmte verrostete Strukturen ein wenig aufzubrechen. Gerade bei den muslimischen Verbänden und Vereinen und Moscheegemeinden ist das sehr, sehr schwierig.

Man darf allerdings die Entwicklung nicht vergessen. Die Verbände und Moschee-gemeinden gibt es seit maximal 30 bis 40 Jahren. Es ist noch eine sehr junge Geschichte. Jetzt kommt eine neue Generation, die versucht, etwas frischen Wind hineinzubringen, und es besteht die Gefahr, dass die jungen Muslime enttäuscht sind, weil sie die Dinge nicht über Nacht ändern können, und sich zurückziehen. Da sehe ich eine große Gefahr. Es ist sehr, sehr wichtig, dass die jungen Muslime in diese Strukturen hineingehen, dass sie auf Gemeindeebene mit anpacken, damit sich die Strukturen ändern.

Reinbold
Haben wir hier eine Auseinandersetzung zwischen der jüngeren Generation der Muslime, die gern etwas tun würde, und der älteren, die sie nicht lässt?

Güvercin
Ich glaube, die ältere Generation ist da sehr flexibel. Es geht um die Funktionärsebene. Sie denkt sehr funktional. Strukturen zu ändern ist da sehr schwierig. Es sind interne Machtstreitigkeiten, die es sicher in jeder Gemeinde gibt, Parteipolitikermentalität. Aber es ist sehr, sehr wichtig, dass die Moscheen transparenter werden, dass die Moschee ein Ort der Begegnung wird.

Denn darum geht es ja. Eine Moschee ist nicht nur ein Gebetsraum. Der Gebetsraum ist, na klar, ein Teil der Moschee. Aber wenn Sie auf den Balkan nach Sarajevo gehen oder nach Istanbul und sich die alten osmanischen Moscheen anschauen, dann sehen Sie, dass der Gebetsraum nur ein Teil der Moschee ist. Eine Moschee war eine Anlage, in der es eine Armenküche gab, eine Bibliothek, medizinische Versorgung, Unterkunft für Reisende, Karawansereien, Stiftungen, die sich um die Moscheen gruppiert haben, und vieles andere mehr. Der Gebetsraum an sich war eher der kleinere Teil.

Reinbold
… das ist in der liberalen-jüdischen Gemeinde auch so, Frau Volodarska …

Güvercin
In Deutschland haben wir in der Regel nur einen Gebetsraum und dann vielleicht noch einen Raum für Jugendliche mit Kicker und Billardtisch. Aber das war es dann auch schon. Die Multifunktionalität einer Moschee, die über das Gebet hinausgeht, sie richtet sich übrigens nicht nur an Muslime. Wenn ein Christ in eine Moschee in Sarajevo gekommen ist, dann hat er auch eine Suppe in der Armenküche bekommen – da war kein Türsteher, der gesagt hat: du kommst hier nicht rein.

Trelle
Ich würde das gern unterstreichen mit einem Beispiel. In Köln, wo ich vorher war, gab es im Jahr 2005 den Weltjugendtag. In der Moschee in Niederkassel, in der Nähe von Bonn, es ist eine schöne Moschee – Sie kennen sie sicher, Herr Güvercin –. Der Imam hat uns damals angeboten, und ich habe es als Weihbischof gerne angenommen, dass Jugendliche, die zum Weltjugendtag nach Köln kommen, in der Moschee Quartier erhalten. Nicht im Gebetsraum, das natürlich nicht, aber in den angegliederten Räumen. Da waren die katholischen Jugendlichen dann mehrere Tage lang und haben es genossen und haben davon erzählt. Das ist die Gastfreundschaft, die wir einander schenken müssen, damit Voreingenommenheit und Animositäten überwunden werden können.

Auch der Tag der offenen Moschee, das habe ich ein paar Mal mitgemacht, als ich noch Pfarrer war, aber auch später bei einer Visitation als Bischof in Göttingen. Ich habe Jugendliche mitgebracht, und sie haben mit denselben Jugendlichen, mit denen sie in der Schule zusammen waren, in deren Moschee diskutiert. Das gab für die jungen Muslime noch einmal ein ganz anderes Selbstwertgefühl: „Wir sind jetzt hier in unseren eigenen Räumen, und die kommen zu uns, und wir diskutieren über Fragen des Lebens und der Lebensorientierung“.

Ein anderes Beispiel: Bischof Bode von Osnabrück hat kürzlich muslimische Gruppen eingeladen und ihnen persönlich den Dom gezeigt. Ich habe mir das jetzt schon vorgenommen. Wenn unser Hildesheimer Dom im nächsten Jahr fertig ist, werden sehr viele Besuchergruppen kommen. Dann werde ich auch unsere muslimischen Mitbewohner einladen. Auch hier gab es kürzlich übrigens ein Zeichen der guten Verbundenheit zwischen Christen und Muslimen: Ein Vertreter der Moscheegemeinde in Hildesheim wollte mir zu meinem runden Geburtstag vor kurzem etwas Gutes. Ich sagte ihm: „Mir brauchen sie nichts zu schenken.“ Daraufhin hat er einen Scheck überreicht für die Renovierung des Doms, um ein Zeichen zu setzen, dass dieses Gotteshaus in Hildesheim auch für Muslime ein wichtiger Ort ist.
 

Wie präsent sind Rassismus und Antisemitismus in Deutschland?

Reinbold
Ich möchte kein Wasser in den Wein gießen, aber doch noch auf ein Stichwort zurückkommen, das in unserem Einspieler eine Rolle spielte. Frau Prange sagte, dass sie es sich leichter vorgestellt hat mit einem schwarzen Jungen in Deutschland. Es gibt Rassismus, es gibt nach wie vor Antisemitismus. Herr Trelle, sie sind Vorsitzender der Migrationskommission der deutschen Bischofskonferenz. Ist dieses Land nicht so tolerant, wie es gerne wäre bzw. denkt, dass es sei?

Trelle
Es gibt immer noch starke Strömungen in unserem Land, die sich mit den Erfordernissen einer Zivilgesellschaft schwer tun. Ich kenne Jugendliche, manchmal auch Kinder, die sagen. „Wir werden direkt oder versteckt gemobbt. Wir erfahren Verachtung in der Art und Weise, wie man uns anspricht.“ Das gibt es leider immer noch, auch primitiven Rassismus.

Eine solche Haltung können wir nur überwinden durch ein wirklich geduldiges und auch in mancherlei Hinsicht offensives Zugehen auf die Menschen, die unsere Nachbarn sind. Ich lasse mich nicht so schnell entmutigen in dem Bemühen, mit allen, mit denen ich in den Gruppen zusammenkomme aus verschiedenen Ländern und mit verschiedenen Sprachhintergründen – in Hannover gibt es über 170 verschiedene Nationalitäten und Sprachgruppen! –, ich lasse mich da nicht so schnell aus der Spur bringen. Wir brauchen einen langen Atem. Wir werden auch Rückschläge erleben. Aber wir sind in der richtigen Spur.

Ich rede jetzt als Christ. Wir können als Christen nicht beten „Unser Vater im Himmel“ und uns dann irgendwie verdeckt oder offen rassistisch verhalten. Das muss man auch in der Verkündigung immer wieder sagen. Diesen Widerspruch, den darf man nicht überdecken.

Reinbold
Frau Volodarska, wie präsent ist das Thema in Ihrer Gemeinde? Ist Antisemitismus etwas, das man aus den Meinungsumfragen kennt, oder ist das ein Alltagsthema?

Volodarska
Antisemitismus ist für uns leider immer noch ein Alltagsthema. In den letzten Tagen hat mich ein Vorfall in einer Realschule in Hannover bewegt. Ein Mädchen, das zu unserer Gemeinde gehört, ist zur Schule mit einem Davidstern gegangen, wie ich ihn auch trage. Anschließend wurde sie über Facebook von einem Jungen aus einer muslimischen Familie als „Judensau“ beschimpft. Der Junge hat mehrere hundert Likes bei Facebook bekommen, viele haben gesagt: „Gefällt mir!“

Ich muss ehrlich sagen: Wir haben erst einmal den Atem angehalten. Was macht man in dieser Situation? Geht man zur Schule und spricht mit den Kindern? Geht man zur Schule und spricht mit den Lehrern? Geht man zur Schule und spricht mit dem Direktor? Dieser Fall ist kein Einzelfall. Es ist das, was in unseren Schulen immer noch sehr präsent ist. Das Wort „Jude“ ist ein oft gehörtes Schimpfwort auf dem Schulhof, das ist heute so.

Was ich manchmal als noch belastender und schlimmer empfinde, ist ein latenter Antisemitismus in der Gesellschaft. Antisemitismus ist in letzter Zeit irgendwie salonfähiger geworden. Man spricht über Israel und kommt von israelischen Problemen sehr schnell auf die „Weltmacht“ von Juden. Dann wird die antiisraelische Haltung sehr schnell zu einer antisemitischen Haltung.

Manchmal erleben wir auch von militanten Christen oder von fundamentalistischen Christen Übergriffe. Heute zum Beispiel hatte ich auf meinem Anrufbeantworter eine richtige Bekehrungsrede, eine richtige Missionierungsrede, abgeschlossen mit einem gesungenen Vaterunser. Manchmal bekomme ich auch lange Briefe, 20 bis 30 Seiten, in denen mir erklärt wird, warum ich sofort von heute auf morgen zur Kirche gehen und mich taufen lassen soll. Das ist für mich auch eine Art Antisemitismus.

Reinbold
Herr Güvercin, ich will mal ganz direkt fragen. Frau Volodarska hat gesagt, es war ein junger Moslem, der das Mädchen beleidigt hat. Auf muslimischer Seite geht man mit dem Thema „Antisemitismus“ oft sehr vorsichtig um. Muslime sind gewissermaßen von Natur aus keine Antisemiten, höre ich oft, sie können gar keine sein, weil sie selbst Semiten sind. Sie haben einmal gesagt: „Muslime klagen gern über Gewalt und Rassismus gegen Muslime. Das wäre glaubhafter, wenn das eigene Verhalten ebenso thematisiert würde“, darunter auch der Antisemitismus. Sollten die Verbände und die Moscheegemeinden, sollte die muslimische Gemeinschaft offensiver mit diesem Themen umgehen?

Güvercin
Ja, definitiv, gerade bei jungen Leuten. Ich beobachte auch, dass bei jungen Leuten zum Beispiel „du Jude“ zu einem üblichen Schimpfwort geworden ist. Seit ein, zwei Jahren ist das Mode geworden. Es ist sehr, sehr wichtig, dass man damit offensiv umgeht. Es sind teilweise Jugendliche, die am Wochenende in der Moschee sind und die dort vom Imam unterrichtet werden. Die muslimische Community muss sensibel sein und auf die jungen Leute Acht geben. Sie muss darauf achten, was sie da reden, mit welchen Begriffen sie um sich werfen. Wir können nicht einfach sagen: „Ja, wir können von Geburt aus gar keine Antisemiten sein.“ Die Realität sieht anders aus. Man braucht nur einmal die arabischen Fernsehsender anzusehen. Das ist heftig …

Reinbold
… da gibt es harte Sachen gegen Israel und gegen Juden …

Güvercin
Während der Intifada, des Aufstands in den von Israel besetzten Gebieten, als es jeden Tag Auseinandersetzungen auf den Straßen gab, haben viele arabische Satellitensender live berichtet. Man hat teilweise Bilder gesendet, die würde man im deutschen Fernsehen nicht einmal um 23 Uhr in der Nacht zeigen, verletzte Menschen und so weiter. Die Leute werden bombardiert mit abstoßenden Bildern, stundenlang. Und viele schauen sich das an. In den arabischen Familien ist Medienerziehung nicht gerade ein bekannter Begriff. Wenn junge Leute ständig mit solchen Bildern konfrontiert werden und wenn sie dann noch im Internet bestimmte dubiose Sachen lesen, etwa auf salafistischen Seiten, dann erzeugt das einen ungeheuren Sog. Gott sei Dank können viele Jugendliche, wenn sie älter werden, die Sache anders einordnen. Aber nicht gerade wenige bleiben daran hängen.

Deshalb ist es sehr wichtig, dass die muslimischen Gemeinden dem entgegenwirken und Aufklärungsarbeit leisten. Gleiches gilt für die Eltern. Wenn man die Eltern von diesem jungen Schüler einmal ansprechen würde, dann wären sie wahrscheinlich schockiert darüber, was ihr Sohn getan hat. Allerdings gibt es auch, dass muss man selbstkritisch sagen, Ressentiments, die sehr weit verbreitet sind unter Muslimen. Man realisiert manchmal nicht, was man da gerade sagt. Das ist ein ernst zu nehmendes Thema, das man nicht weg reden kann. Man muss mit den Leuten arbeiten.

Volodarska
Ich bin mir nicht so sicher, ob man etwas bewirkt, wenn man mit den Eltern spricht. Ich habe meine Erfahrungen. Ich mache sehr oft Synagogenführen. Wir machen im Jahr in der Synagoge alle zusammen über 200 Führungen für Schulklassen und andere Gruppen, Erwachsene, Kinder, und so weiter. Es ist nicht selten, dass Eltern aus muslimischen Familien ihren Kindern verbieten, in die Synagoge hineinzugehen. Ich muss sagen: Die Kinder tun mir wirklich leid, wenn sie draußen stehen. Ich sage dann: „Komm doch rein, setz dich auf den Stuhl, du musst nicht in den Gebetssaal gehen. Du kannst ruhig hier sitzen.“

Interessanterweise gibt es auch die andere Seite. Wenn sie in die Synagoge kommen und mit uns sprechen, dann höre ich sie oft sagen: „Aber bei uns ist das genauso!“ Das ist sehr interessant zu sehen, wie viel Gemeinsamkeiten Juden und Muslime in Wirklichkeit haben und wie viel diesen Kindern und ihren Eltern dadurch entgeht, dass sie manchmal sehr antisemitisch denken.

Güvercin
Dazu ein Beispiel von mir, als ich noch auf der Grundschule war: Wir haben eine Kirche besucht. Ein Mitschüler von mir, seine Eltern waren Marokkaner, hat gesagt: „Ich darf da nicht rein. Meine Eltern haben gesagt, dass da komischen Figuren drin sind“. Es gibt allgemein eine gewisse Zurückhaltung, die Gebetsräume anderer Religionen zu betreten. Das ist nicht religiös begründet, sondern eher ein naiver und banaler Volksglaube, der da zum Ausdruck kommt.

Aber zurück zum Thema Antisemitismus. Es ist definitiv gerade unter den jungen Leuten ein wichtiges Thema, das in den Gemeinden nicht wirklich thematisiert wird. Da ist es ganz wichtig, dass ein Raum für Begegnung geschaffen wird, damit die Jugendlichen sehen: „Ah, o.k., da gibt es interessante Parallelen zwischen den Juden und uns“. Solange Muslime auf Distanz zu Juden bleiben und gewisse Dinge in arabischen oder türkischen oder welchen Medien auch immer sehen …

Reinbold
… das Fernsehen ist ein großes Problem. Man kommt schwer gegen die Bilder der Massenmedien an. Wir erreichen mit dem, was wir hier tun, einige Tausend. Das Fernsehen erreicht 100.000 Menschen …

Güvercin
Al-Dschazira berichtet stundenlang von militärischen Auseinandersetzungen, etwa davon, wie die israelische Armee nächtelang Gaza bombardiert. Die Hintergründe werden dabei nicht berichtet. Es werden erst einmal nur die Bilder vermittelt. Das hat natürlich Auswirkungen. Die Zuschauer sehen die verletzten Menschen und so weiter.

Ich will die Reaktionen nicht entschuldigen. Allerdings muss man sich auch einmal in die Leute hineinversetzen. Es gibt verschiedene Formen des Antisemitismus. Wenn junge Leute ständig solche Bilder konsumieren, dann entsteht ein Feindbild, das fernab von der Lebenswirklichkeit ist, ein konstruiertes Feindbild. Dieses Feindbild zu zerstören, erfordert viel Arbeit. Es ist wichtig, dass die Eltern wissen, was ihre Kinder da sehen, dass die älteren Geschwister ihnen helfen, die Bilder einzuordnen, dass auch die Moscheegemeinden sich um diese Fragen kümmern.

Reinbold
Frau Volodarska, Sie haben gesagt, Sie haben 200 Führungen im Jahr. Wir haben eben von Ihnen und von Herrn Güvercin gehört, dass es viel bewirkt, wenn Muslime mit Juden zusammenkommen. Es kommt etwas in Bewegung, Vorurteile werden gebrochen, das echte Leben ersetzt die Bilder aus dem Fernsehen. Mir scheint: Sie müssten nicht 200, sondern 500 Führungen im Jahr haben, und man müsste das Geld zur Verfügung stellen, das es braucht, um diese wichtige Arbeit zu machen. Auf dass immer mehr Menschen sehen: Die Juden sind ja gar nicht so wie im Fernsehen, sondern ganz anders.

Volodarska
Offenheit ist für uns eine ganz große Chance. Eins wollte ich noch anmerken: Ein ganz wichtiger Punkt ist diese ewige Verwechslung von Israelis und Juden. Es ist manchmal wirklich zum Weinen.

Güvercin
Mit dieser Verwechslung muss ich auch kämpfen. Wenn irgendetwas in der Türkei passiert, ruft mich einer an, und dann bin ich halt der Quotenkanake, der erklären muss, was der Erdogan da wieder veranstaltet. Keine Ahnung!, was fragst du mich?

Reinbold
… dann sagen die Leute. „Ihr Ministerpräsident hat gesagt“ und denken an Erdogan in der Türkei oder Netanjahu in Israel ...

Güvercin
Genau. Diese Bilder zu brechen, ist schwierig. Ich glaube, da müssen noch einige Generationen vergehen. Es ist schwierig – aber es ist auch interessant: So kommt man auch ins Gespräch! Ich kann das zum Anlass nehmen, meinem Gesprächspartner vielleicht mehr über den kölschen Klüngel zu erzählen …

Reinbold
Ich merke wieder einmal: Wir brauchen mehr von dem, was wir jetzt gerade hier tun. Es hilft uns nichts, wenn wir freundlich, diplomatisch über die Probleme hinwegsehen, sondern wir müssen sie angehen. Die Muslime müssen es, alle Seiten müssen es. Herr Trelle, Sie haben lange nichts gesagt.

Trelle
Aber mit hohem Interesse zugehört! Mir ging das durchaus nahe, was Sie, Frau Volodarska, eben gesagt haben: Dass Sie jemand anruft oder auf ihren Anrufbeantworter spricht, dass Sie sich doch endlich taufen lassen sollen.

Das sind Stimmen, die deutlich machen, was wir noch nicht erreicht haben, trotz des Zweiten Vatikanischen Konzils, trotz „nostra aetate“, der Erklärung zu den nichtchristlichen Religionen, und trotz der Erklärungen zur Religionsfreiheit. Es gibt in unseren beiden Kirchen viele, die diese theologische Auseinandersetzung und Klärung nicht mitbekommen haben, auch 50 Jahre nach dem Konzil nicht.

Ich war kürzlich im Heiligen Land und in Jordanien, aus anderem Anlass. Ich sage es immer, wenn ich nach Israel fahre: Wir sind Geschwister in unserer Weise, uns zu Gott zu bekennen und zu den Patriarchen. Wir sind verwandt. Der heilige Paulus hat unter dieser Spannung unglaublich gelitten. Er war ein Jude und aus seiner jüdischen Tradition heraus mit seinem Volk verbunden. Und dann hat er als christlicher Missionar – er war der größte Verkünder des Glaubens, den die Kirche kennt – damit gerungen, wie er sich verhalten soll gegenüber seinen jüdischen Verwandten, gegenüber seiner Familie.

Wenn wir nach Israel fahren, lese ich das immer vor, die Kapitel 9 – 11 im Römerbrief. Wie Paulus sein inneres Zerrissensein zum Ausdruck bringt. Der Text zeigt: Paulus ist ein Feind dieser schrecklichen Vereinfachungen, dieses „Werde doch einfach so oder sei doch so“. Paulus sagt: „Überhebt euch nicht“, er predigt Christus als den Erlöser der Welt, zu dem er sich bekennt, und dann spricht er von dem erwählten Volk, zu dem auch er gehört, und er sagt: „Wir sind an diesem edlen Ölbaum des jüdischen Glaubens meines Volkes wie wilde Zweige aufgepfropft und haben daran teil“. Das hören manche in unseren evangelischen und katholischen Zusammenhängen, als hätten sie es noch nie gehört, das erste Mal.

Ich sage: Wir haben allen Anlass, aus diesen gemeinsamen Wurzeln Kraft zu ziehen und die Zweige, die an diesem Baum wachsen, wachsen zu lassen. Paulus sagt: „Erhebe dich nicht über deine jüdischen Schwestern und Brüder“ – und jetzt zitiere ich ihn wörtlich –. „nicht du trägst die Wurzel, die Wurzel trägt dich“ (Römerbrief 11,18).

Ich hatte gesagt: das, was Frau Volodarska auf ihrem Anrufbeantworter hatte, zeigt, was wir noch nicht erreicht haben, trotz des Zweiten Vatikanischen Konzils. Das betrifft übrigens nicht nur Leute, die aufgrund ihrer vielleicht etwas schlichteren theologischen Bildung diese Fragen nicht richtig durchdrungen haben. Sondern es betrifft auch diejenigen, die meinen, mit ihren theologischen Kenntnissen prahlen zu müssen, ich sage nur das Stichwort „Pius-Brüder“, die auch das Dokument „nostra aetate“, die Erklärung des Zweiten Vatikanischen Konzils zu den nichtchristlichen Religionen, nicht richtig angenommen haben, die im Grunde das ganze Zweite Vatikanische Konzil nicht angenommen haben. Sie haben die Aufgabe nicht erkannt, die die Kirchen in dieser Zeit der ganzen Weltgemeinschaft schuldig sind, nämlich zu einer Einheit zu kommen, zu einem gemeinsamen Unterwegssein in dieser Welt voller Probleme.

Reinbold
Ich danke Ihnen für dieses angeregte Gespräch!

Gestatten Sie mir noch einen Hinweis: die evangelisch-lutherische Landeskirche Hannovers hat gerade heute Vormittag einen Satz in ihre Verfassung aufgenommen – drei Rabbiner aus Niedersachsen waren dabei –, dass die Achtung des Judentums zu den Grundlagen der Landeskirche gehört. Das passt genau zu dem, was Sie eben gesagt haben, Herr Trelle. Es ist ein großer Fortschritt auf dem Weg von Christen und Juden. Herzlicher Dank noch einmal Ihnen allen.

(Redaktion: Wolfgang Reinbold)

Volodarska
Der Prozess betrifft nicht nur zwei, sondern mehrere Seiten. In den Gemeinden gibt es Alteingesessene. Aber was heißt „Alteingesessene“? Meist sind es Nachfahren von KZ-Überlebenden aus Polen, aus Rumänien. Wir haben Glück: Wir haben 2 oder 3 deutsche Jüdinnen in der Gemeinde … 

Reinbold
.. drei von achthundert?

Volodarska
Ja, wenn ich recht sehe, drei von achthundert, jedenfalls: sehr wenige. Wir haben auch Juden aus Argentinien, aus Brasilien, viele Israelis, Amerikaner, Engländer. Die Synagogen sind, wenn man so will, ein Schmelztiegel. Ohne die Migration, ohne die Menschen, die aus verschiedenen Ländern, insbesondere aus der ehemaligen Sowjetunion, gekommen sind, würden die meisten jüdischen Gemeinden in Deutschland nicht mehr existieren.

Selbstverständlich gibt es auch Konflikte. Man muss miteinander reden, man muss versuchen, andere zu verstehen. Man muss einfach fragen: Warum denkst du so? Warum machst du bestimmte Dinge anders als wir? Das ist der einzige Weg. Wenn wir uns verschließen, wenn wir nicht miteinander reden, dann haben wir keine Chance. In unserer Gemeinde haben wir wirklich Glück, dass wir sehr friedlich miteinander umgehen, dass wir uns inzwischen gut verstehen. Manchmal, wenn ich höre, was in anderen Gemeinden so passiert, dann sage ich meinem Vorstand: Jetzt aber alle in die Synagoge beten! Beten, dass wir weiter so friedlich miteinander leben können.

Reinbold
Ist es so, dass man bei Ihnen inzwischen das Russische auch als Bereicherung wahrnimmt, so wie Bischof Trelle es gesagt hat?

Volodarska
Man schätzt das sehr. Es kommt mit der Zeit, dass man das schätzen lernt. Man muss sich nicht schämen, dass man das am Anfang nicht verstanden hat. Für die Gemeinde waren das Fremde – und wir waren sehr viele. Wir haben die Gemeinden wirklich überrollt. Das muss man so sagen, das ist so. Aber dadurch, dass deutsche Juden, israelische Juden, amerikanische Juden, argentinische Juden, sowjetische Juden versucht haben, einander zu verstehen, ist überhaupt ein Gemeinschaftsleben möglich geworden. Inzwischen versteht eigentlich jeder, dass das eine Bereicherung ist.

Man sieht es insbesondere daran, wie unsere Kinder miteinander umgehen. Unsere Kinder – wir haben jetzt auch schon die zweite und die dritte Generation –, sie sprechen miteinander Deutsch. Manche lernen Russisch, weil in der Kita sehr viele russischsprachige Kinder sind, und man spricht mal Deutsch, mal Russisch, mal Hebräisch, weil die Kinder auch schon in der Kita Hebräisch lernen. Das ist gut, das ist einfach gut. Man sucht Wege und findet Wege, wenn man will, miteinander zu leben.

Neue Heimat Deutschland. Was tun die Religionen für die „Integration“?

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