Wir haben auch schon muslimische Schüler gehabt, die – nachdem sie zuerst natürlich nicht wollten, sie sind 13, 14 Jahre alt und sagen, dass sie Null Bock haben, „was soll ich hier?“ und so –, die dann aber immer ruhiger wurden und schließlich Fragen gestellt haben. Und die dann festgestellt haben: „Ach, da gibt es ja eine ganze Menge Parallelen!“
Ich denke, dass es vor allem eine Bildungsfrage ist, eine Informationsfrage. Natürlich müsste es schon in den Elternhäusern eine andere Information geben. Viele sprechen nur von „Clan“ und „Ehre“, das Wort „Sexualität“ darf man ja gar nicht mehr in den Mund nehmen, es müsste mehr Aufklärung von muslimischer Seite von den Elternhäusern kommen.
Sukhni
Da vermischen Sie zwei verschiedene Fragen miteinander. Die politische Positionierung hat ja nichts zu tun mit der Aufklärung oder mit der Religiosität.
Wettberg
Doch, das hat etwas miteinander zu tun. Muslimische Jugendliche haben Werte, die aber andere sind als die, die wir hier haben. Deswegen sagte ich das eben. Von der Gleichberechtigung der Frau und von einer Demokratie sind sie weit entfernt.
Sukhni
Ich sehe, dass da jetzt Dinge miteinander vermischt werden, zwischen denen es keinen Zusammenhang gibt. Wenn wir verallgemeinernd davon sprechen, dass es das gibt bei den Muslimen, und dies bei den Muslimen nicht, dann packen wir alle in eine Schublade und machen die Schublade zu. Ich würde das so nicht unterschreiben, zumal es auch nichts zu tun hat mit der Problematik, über die wir sprechen.
Die Gruppe, die in dem ganzen Konflikt zu kurz kommt, sind die palästinensischen Christen. Die palästinensischen Christen sind keine Muslime. Die auffälligen Gruppen in den 70er Jahren, die mit Terror und Flugzeugentführungen und all dem gearbeitet haben, waren kommunistisch orientierte Gruppen, deren Anhänger meistens christlich sozialisierte Palästinenser waren. Sie kamen aus einem christlichen Haushalt. Sie waren selber nicht gläubig, weil sie sich dem Kommunismus hingegeben hatten, die PFLP und all diese Gruppen. Auch das Attentat in München bei den Olympischen Spielen 1972 ist aus einem sozialistisch-kommunistischen Milieu organisiert worden. Sie alle kamen nicht aus einem islamisch sozialisierten Haushalt. Es sind Nichtmuslime gewesen, aus einem christlichen Haushalt, areligiös die meisten. George Habash, der Gründer der PFLP, war Christ.
Wir machen es uns zu einfach, wenn wir sagen: „Das ist ein Konflikt Islam gegen Judentum.“ Das wird der Sache nicht gerecht. Es geht hier nicht um Islam gegen Judentum. Es geht um Land, um Besatzung – eine Besatzung, die, wie Sie wissen, seit 1967 an der Westbank und in Gaza herrscht. Man muss es darauf reduzieren, ganz einfach. Es ist eine politische Frage um Land und Souveränität der Völker. Es geht hier nicht um Islam gegen Judentum.
Wettberg
Ja. Aber Sie sind schon wieder auf der politischen Ebene …
Ist der Islam in seinem Kern anti-rassistisch?
Reinbold
Ich zitiere einmal den Vorsitzenden des Zentralrats der Muslime, Aiman Mazyek. Er hat zu den Demonstrationen gesagt, es gäbe „vereinzelt“ antisemitische Muslime, aber der Islam selbst sei in seiner Geisteshaltung insgesamt „antirassistisch“. Würden Sie das auch so sagen?
Sukhni
Hundertprozentig! Ich habe ja schon erwähnt, dass der Koran gewisse Regeln im Umgang mit Juden und Christen vorgibt. Juden und Christen werden im Koran ja namentlich erwähnt.
Reinbold
Nun würden viele aber sagen: „Gut, wir glauben Ihnen das. Und wir wissen, dass es diese Position im Islam gibt. Aber politisch wird das doch gar nicht sichtbar, oder?“
Sukhni
Auch in der Geschichte sieht man das. Nehmen wir einmal das Traumbeispiel, von dem auch Juden gerne sprechen: die Zeit in Andalusien. Die islamische Herrschaft in Andalusien war eine Blütezeit der islamisch-jüdischen Tradition. Viele Juden haben es zu hohen politischen Posten geschafft unter islamischer Herrschaft in Andalusien. Dasselbe auch in Bagdad, unter islamischer Herrschaft. In Bagdad kamen Juden zu hohen Positionen in der Wissenschaft, in der Philosophie.
Reinbold
Ich will einmal dagegen halten und sagen: Gut, das ist jetzt lange her. So ging es bis zum Jahr 1492. Wenn ich aber heute mit Sozialarbeitern rede, die viel mit muslimischen Jugendlichen zu tun haben, dann sagen die mir manchmal. „Du glaubst gar nicht, was da in den Köpfen ist. Massive antisemitische Vorurteile! Bis hin zu Dingen wie: ‚Coca Cola gehört den Juden, und McDonalds ist auch jüdisch. Im Grunde die gesamte amerikanische Finanzelite: alles jüdisch!‘“. Es hilft doch nichts, wenn muslimische Verbände diese Realität zur Seite wischen.
Sukhni
Muslime erinnern gern an diese Zeit, um den eigenen Leuten klar zu machen, dass wir vernünftig miteinander leben konnten. Das ist der Punkt. Das ist gelebte Geschichte. Muslime und Juden haben nicht ständig im Konflikt gelebt. Natürlich gab es Konflikte. Das allgemeine Leben zwischen Juden und Muslimen aber war so, dass die Juden, als sie in Andalusien nicht mehr leben durften, in die islamischen Länder geflohen sind, weil es ihnen dort besser ging.
Reinbold
Alles wunderbar, aber lange her …
Sukhni
Was wir heute haben, ist eine andere Realität. Sie fängt damit an, dass die islamische Herrschaft im Jahr 1924 untergegangen ist – die letzte Dynastie war das Osmanische Reich – und dass die zionistischen Bestrebungen in Palästina begonnen haben, angefangen mit der Balfour-Deklaration, also dem Versprechen der Briten an die Juden, dass sie in Palästina eine nationale Heimstätte errichten dürfen.
Da haben die Araber angefangen, diese Theorien zu entwickeln: „Aha, die Juden wollen uns unser Land wegnehmen. Ah, die Juden wollen uns unser Land rauben. Die Juden wollen das und wollen dies.“ Mit Beginn dieser Phase nach dem ersten Weltkrieg und mit dieser Deklaration aus England begann eine Kampagne gegen die Einwanderung von Juden. Es wurden antisemitische Schriften aus Europa übernommen.
Was können wir tun gegen Antisemitismus? (2)
Reinbold
Sie sagen: „Das ist ein relativ neues Phänomen, und Europäer hatten großen Einfluss darauf“. In Ordnung. Aber heute ist es doch ein Problem. Gibt es auf muslimischer Seite Arbeit gegen diese antisemitischen Klischees wie jüdische Weltherrschaft, jüdische Weltverschwörung, Coca-Cola gehört den Juden?
Sukhni
Wir haben einige Kollegen, die das intensiv bearbeiten. Einer war auch hier bei Ihnen, Moussa Diaw. Er engagiert sich bei der Muslim-Jewish-Conference. Es gibt Organisationen, die versuchen, miteinander etwas zu erreichen. Wenn wir unterrichten, wenn wir an die Schulen gehen, wenn wir Workshops halten mit Muslimen, ist das oft ein Thema: der Umgang mit Juden, die Stellung der Juden im Islam, oder allgemein die Stellung der anderen Religionen im Islam, und all dies. Die meisten sind überrascht. Sie kennen das nicht, sie kennen meist nur das Politische. Es gibt viel Arbeit. Man versucht irgendwie etwas zu tun.
Reinbold
Frau Wettberg, wie erleben Sie das? Dieter Graumann, der Vorsitzende des Zentralrats der Juden, hat im Juli verärgert gesagt: „Es hat zwar mit muslimischen Verbänden Treffen gegeben, auch mit Presseterminen, und man sagt: ‚Wir tun was‘. Wenn ich ehrlich bin, muss ich aber sagen: Man muss diese Beispiele mit der Lupe suchen. Vieles bleibt beim Lippenbekenntnis.“ So etwa hat er sich vor zwei Monaten geäußert. Erleben Sie, dass sich da was bessert? Gibt es Projekte, die Sie wahrnehmen?
Wettberg
Wir haben etwas sehr Positives erlebt vor kurzer Zeit, das war das Projekt „Rucksackmütter“. Das ist ein Projekt, das vormittags stattfindet, wenn die Kinder in der Schule sind. Dann haben die Mütter ja frei, oder sie haben nur noch ihre kleinen Kinder zu Hause. Diesen Müttern werden verschiedene Aktivitäten angeboten, unter anderem auch eine Führung in der Synagoge.
Zu uns in die Synagoge sind im Rahmen dieses Projekts einmal 20 Muslimas gekommen. Sie hatten überhaupt kein Wissen über Judentum, die jüdische Religion oder über Juden. Gar nichts. Die Gruppe war erst ganz verschüchtert. Dann aber tauten sie auf und sagten: „Das haben wir alles gar nicht gewusst. Das haben wir alles nicht gewusst. Wir werden das jetzt erst einmal zu Hause erzählen, in den Moscheen erzählen. Das muss man wiederholen.“ Deswegen habe ich gesagt: es ist so viel Nichtwissen da. Es ist so unglaublich viel Nichtwissen da. Vielleicht sollte man die Arbeit mit Frauen stärken? Das wäre doch mal was.
Sukhni
In Osnabrück gibt es auch Aktivitäten in diese Richtung. Es wird versucht, durch Besuche von Synagogen, Kirchen und Moscheen den Dialog zu fördern. Es gibt diese Versuche. Sie haben ja selbst gesagt, dass es nicht viele Juden in Deutschland gibt. Man sucht dann auch auf muslimischer Seite
Wettberg
Ja, wir brauchen Hilfe. Wir schaffen das nicht alleine. Das ist ganz klar.
Sukhni
In Berlin gab es eine wunderbare Aktion. Jemand hatte Neukölln zur „No-go-area“ für Juden erklärt. Da gab es eine Aktion von israelischen Juden, also von Israelis, die in Berlin leben, die versucht haben, das Gegenteil zu beweisen. Sie sind auf die Straße in Neukölln gegangen und haben gezeigt, dass sie sehr wohl hier als Juden auftreten können, und zwar mit Muslimen gemeinsam. So etwas ist wichtig, auch um die Geschichten herunterzudrücken, die man erzählt über Araber, die in Neukölln Juden jagen. Es gibt Kooperationen, die von den Juden selbst an die Muslime herangetragen werden, um Vorurteile abzubauen.
Wettberg
Ich denke aber, dass die Schulen da noch ein bisschen mehr tun müssten. Die deutsche Geschichte zum Beispiel ist ja muslimischen Schülern vollkommen unbekannt. Die kennen sie von zu Hause nicht, weil die Eltern und die Großeltern und Urgroßeltern sie nicht miterlebt haben. Das ist nicht ihre Geschichte, die deutsche Geschichte. Deshalb ist es wichtig, dass ihnen die deutsche Geschichte in den Schulen stärker nahe gebracht wird.
Sukhni
Es muss viel getan werden. Wir reden ja so, als ob es in Deutschland nur ein Problem gäbe mit Antisemitismus. Studien beweisen aber, dass wir ein generelles Problem mit Rassismus haben. Deutschland ist ganz stark betroffen. Es gibt europaweite Studien von der Universität Münster, die zeigen, dass in Deutschland nicht nur Antisemitismus herrscht, sondern auch der stärkste antimuslimische Rassismus in Europa und Ressentiments gegenüber anderen Religionsgruppen, von denen man es nie erwartet hätte.
Dass die Muslime momentan unter antimuslimischem Rassismus leiden, haben wir auch gesehen. Es hat viele Angriffe auf Moscheen gegeben in den letzten Wochen. Die Studie hat aber auch ergeben, dass in den Regionen in Deutschland, wo der Kontakt zu den Muslimen am stärksten ist, weniger Rassismus herrscht. Das zeigt einmal mehr, dass wir Kontakt brauchen. Wir brauchen mehr Zusammenarbeit, mehr Austausch, um Ressentiments abzubauen.
Reinbold
Das fügt sich in der Tat zu einem Gesamtbild, auch im Blick auf die Gespräche, die wir bei „Religionen im Gespräch“ bereits geführt haben. Wir hatten Nils Friedrichs zu Gast, der mit Detlef Pollack zusammen die Studie erarbeitet hat, von der Sie sprachen, mit dem Ergebnis: Je mehr Kontakt, desto besser.
Nach dem, was ich heute hier gehört habe, entsteht für mich ein völlig klares Bild: Wir müssten es hinbekommen, dass alle Muslime in ihrer Schulzeit mindestens einmal eine Synagoge besuchen. Und wir müssten die Synagogen so ausrüsten, dass sie diesen Ansturm bewältigen können. Das ist eine große Aufgabe, aber die gesellschaftlichen Aufgaben, die vor uns liegen, sind groß.
Die Hauptschwierigkeit, das haben wir heute wieder gesehen, ist die politische Frage. Muslime wünschen sich, dass jüdische Verbände auch einmal etwas Kritisches sagen, dass sie sich auch einmal mitfühlend mit den Menschen auf der anderen Seite äußern, um die Trennung zwischen dem streng Religiösen und dem Politischen leichter zu machen …
Sukhni
Was bei vielen Muslimen auch wieder Wut ausgelöst hat, ist, dass der Gaza-Konflikt im Zuge der Antisemitismusdebatte in Deutschland in Vergessenheit geraten ist. Viele Muslime sagen das. Sie sagen: „Wir haben den Konflikt in Palästina, in Gaza, in Israel. Und jetzt wird hier eine Kampagne gegen Antisemitismus gestartet.“ Viele beschweren sich darüber, dass die Juden wieder in den Fokus gerückt werden und dass keiner mehr über den Gaza-Konflikt spricht. Das sind Entwicklungen, die total kontraproduktiv sind. Das sorgt dafür, dass wieder Verschwörungstheorien aufkommen, nach der Art: „Die Juden kontrollieren hier die Meinungen.“ Das kommt dann automatisch, und es trägt nicht dazu bei, dass Antisemitismus oder Judenfeindlichkeit abgebaut wird bei den Jugendlichen mit muslimischem Hintergrund. Es bringt nichts, man erreicht sie nicht mit diesen Kampagnen.
Wettberg
Aber ich frage mich, ehrlich gesagt: Als Assad vor zwei oder drei Jahren begonnen hat, sein ganzes Volk abzuschlachten, wo war der Aufschrei hier, wo ist hier etwas passiert? Als diese Boko Haram-Gruppen in Afrika Hunderte von Mädchen zwangsislamisiert haben, wo war der große Aufschrei?
Sukhni
Aber schauen Sie doch einmal: Sie können doch nicht jahrzehntelange Besatzung gleichsetzen mit einem akuten, aktuellen Konflikt. Bei den muslimischen Jugendlichen und den Muslimen insgesamt haben sich die Dinge über die Jahre hinweg angestaut. Das ist Frust bei den Muslimen, richtiger Frust.
Reinbold
Jetzt sind wir schon wieder in der Politik gelandet. Man merkt es sehr deutlich, dass wir zu diesem Thema sehr viel mehr Gespräche brauchen. Es ist ein sehr heikles Thema, und es wird zum Teil in völlig getrennten Milieus diskutiert. Ich glaube, da müssen wir ran. Es ist nicht unbedingt die Aufgabe dieser Reihe, in der die Religion im Zentrum steht und nicht die Politik. Aber das ist eine große Aufgabe der Zukunft.
Ich danke Ihnen beiden für dieses engagierte Gespräch!
(Redaktion: Wolfgang Reinbold)