Wettberg
Ja, das wird suggeriert durch diese Bilder. Man muss aber unterscheiden. Also ich persönlich bin Deutsche und Jüdin. Dann gibt es den israelischen Staat. Ich habe eine Menge an der israelischen Politik zu kritisieren. Das ist legitim, das kann jeder tun. Aber ich werde diesen Staat immer verteidigen. Nicht für alles, was er tut. Da muss ich ein bisschen ausholen.
Ich komme aus einer deutschen jüdischen Familie. Ich kann sie bis 1750 hier in Deutschland nachweisen. Da gab es das alles noch nicht dort. Wenn es im Jahr 1933 den Staat Israel gegeben hätte, hätte ich heute noch eine Familie. Aber es gab ihn damals noch nicht. Meine Vorfahren, mein Urgroßvater hat sich freiwillig im Ersten Weltkrieg gemeldet. Er kam hochdekoriert zurück. Er war Deutscher. Er war Deutscher durch und durch. Dann aber, als es darum ging herauszukommen. Was war dann? Dann haben alle zugemacht. Amerika, England, alle haben die Grenzen geschlossen. Meine Familie ist ermordet worden. Nicht, weil sie Verbrecher wären. Sondern weil sie Juden waren.
Im Jahr 1947 hat dann die UN-Vollversammlung beschlossen, den Staat Israel und einen arabischen Staat zu gründen. Die Zionisten haben das angenommen, und sie haben sofort Tausende von staatenlosen Überlebenden des Holocausts aufnehmen können. Zugleich setzte sofort eine Flüchtlingswelle ein. Diese Flüchtlinge sind in den Libanon gegangen, nach Syrien. Sie leben dort in Lagern. Sie leben heute noch in der 3. und 4. Generation in diesen Lagern.
Sukhni
Sie meinen die arabischen Flüchtlinge?
Wettberg
Ja. In diesen Lagern. Setzen Sie das jetzt einmal um auf Deutschland. Deutschland ist auch nach dem Krieg in neue Grenzen gezwungen worden. Wenn wir diese Grenzen nicht anerkannt hätten und die Flüchtlinge, die aus Ostpreußen und Westpreußen und so weiter hierherkamen, in Lager gepackt hätten und sie da heute noch leben würden? Nein, sie sind in Deutschland integriert worden. Das ist der Unterschied, und das ist der Grund dieses ganzen Dilemmas.
Dieser Staat Israel, der im Laufe seiner Geschichte immer wieder Wellen von verfolgten Juden aufgenommen hat, ob es nun äthiopische Juden waren, iranische Juden oder die Juden aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion – dieser Staat Israel ist meine Fluchtburg. Ich will nicht in Israel leben. Es ist mir viel zu heiß dort. Es ist nicht meine Kultur. Aber es ist meine Fluchtburg. So sehe ich dieses Land. Wie gesagt: nicht kritiklos, sondern ich habe eine Menge daran zu kritisieren. Aber vielleicht kommen wir nachher ja noch auf das Politische zu sprechen, da habe ich auch noch Einiges zu sagen. Das ist aber etwas anderes.
Das Existenzrecht Israels, der Gazakrieg und die Hamas
Sukhni
Es geht mir nicht darum, die Juden aufzufordern, zu sagen, dass sie den Staat Israel ablehnen, dass sie sagen, dass er keine Existenzberechtigung hat. Darum geht es nicht. Was Sie jetzt beschrieben haben …
Wettberg
Das sagen die Palästinenser aber.
Sukhni
Natürlich. Aber die Israelis erkennen ja auch keinen palästinensischen Staat an. Das beruht auf Gegenseitigkeit. Aber was Sie jetzt erwähnt haben, ist ein Konflikt, der in Europa geherrscht hat. Es gab Flüchtlinge, wie Sie es beschrieben haben, die nach Palästina gingen. Dort ist der jüdische Staat entstanden, und so weiter. Natürlich ist das der Ort, wohin man flüchten konnte. Es war der einzige Ort für Juden, wo sie hinkonnten. Der Staat ist entstanden, und den Staat gibt es. Wir reden jetzt nicht darüber, ob wir die Existenz Israels diskutieren müssten …
Wettberg
Das macht die Hamas aber. Die Hamas hat in ihren Statuten stehen ...
Sukhni
Gut. Die Hamas hat aber oft genug angedeutet, dass sie, wenn Palästina anerkannt wird, würden sie auch die Israelis – aber darum geht es jetzt gar nicht. Der Staat Israel existiert. Es geht nur darum, dass dieser Staat, der momentan von einer stark rechten Partei geführt wird und der auch nicht alle Israelis und Juden repräsentiert, dass dieser Staat zu Maßnahmen gegriffen hat, die man aus meiner Sicht verurteilen sollte und muss.
Es sind über 2.000 Menschen gestorben in Gaza, die meisten sind Zivilisten und Kinder. Dann ist es sehr einfach zu sagen: „Ja, die Hamas ist daran schuld“. Es ist ein Staat gegen die Hamas – ich weiß nicht, wie wir die nennen können, es ist kein Staat. Da erwarte ich einfach aus Menschlichkeit heraus, oder von mir aus: aus politischem Bewusstsein, aus diplomatischen Gründen einfach zu sagen. „Ja, wir Juden, wir stehen hinter dem Staat Israel. Er hat uns aufgenommen. Das ist unser Schutzland. Aber das, was da in Gaza passiert ist, war einfach zu viel. Die Regierung hätte sich zurückhalten können.“ Irgendetwas in der Art.
Die Reaktion der Muslime, die wir gesehen haben, entstand hauptsächlich aus diesem Grund. Die Großen, die jetzt im Fernsehen aufgetreten sind, der Zentralrat der Juden oder auch Frau Knobloch, sie haben sich alle extrem für Israel ausgesprochen. Und die Krönung war, aus Sicht der Muslime – da kommen jetzt Verschwörungstheorien hoch –, die Krönung war, dass sich Bundeskanzlerin Merkel ohne ein Wort der Kritik vollkommen hinter Israel stellt und das dann auch noch verteidigt.
Wettberg
Darf ich mal auf die 2.000 …
Reinbold
Frau Wettberg, ich würde gerne die politischen Fragen, die immer wahnsinnig schwierig sind …
Wettberg
Lassen Sie mich bitte darauf antworten, denn das kann nicht so im Raum stehen bleiben, auf gar keinen Fall.
Ein Beispiel. Stellen Sie sich vor: Wir sind Nachbarn. Ich sitze auf meinem Balkon und habe einen schönen Vorgarten. Dann sehe ich, wie mein Nachbar dort drüben auf seinem Balkon eine Raketenabschussbasis hinstellt und ganz viele Gewehre und Kanonen und alles Mögliche. Und ich sehe, wie er auch noch in seinem Vorgarten einen Tunnel gräbt und wie er sich langsam auf mein Grundstück zubewegt. Ich frage Sie: Was würden Sie machen? Würden Sie weiter Kaffee trinken und Ihre Erdbeertorte essen? Oder würden Sie sich wehren?
Stellen Sie sich bitte einmal vor – lassen Sie mich das bitte zu Ende bringen –, stellen Sie sich bitte vor: An der französisch-deutschen Grenze würden über Jahre hinweg täglich fast 80 Raketen von Frankreich auf Deutschland geworfen werden. Würden wir das so einfach hinnehmen? Wie sind die 2.000 Toten – mir tun die Palästinenser, das Volk, wahnsinnig leid! Das ist gar keine Frage, nur – wie sind die Toten denn entstanden? Ich meine: Israel muss sich irgendwann einmal wehren nach einem Dauerbeschuss mit Raketen, und die Hamas ist eine Terrororganisation. Die hält sich ein – und das sage ich jetzt hier ganz klar – die hält sich ein ganzes Volk als Kanonenfutter.
Israel hat sein Geld ausgegeben, um „Iron Dome“ zu entwickeln. Deswegen gab es ja auch so wenige Tote in Israel, weil dieses Raketenabwehrsystem funktioniert hat. Sonst hätte es genauso viele Tote auf der israelischen Seite gegeben. Und es ist so: Raketenabschussbasen wurden in Kindergärten, in Schulen, in Krankenhäusern aufgestellt. Die Israelis haben jedes Mal, wenn sie angegriffen haben, dort angerufen und gesagt: „Wir werden dieses Haus und dieses und dieses zerstören, verlassen Sie das Haus“.
Reinbold
Wir sind mitten in den politischen Fragen …
Sukhni
Genau das ist das Problem. Sie geben jetzt genau das wieder, was die israelische Politik den Leuten ständig verkauft. Also dieses Gerede von den Anrufen. Das war vielleicht eine Pufferzeit von einer Minute, dass die Leute flüchten könnten. Ich höre heraus, dass Sie das legitimieren, die Zerstörung Gazas, die Infrastruktur, den Tod von 2.000 Menschen. Das legitimieren Sie jetzt. Das höre ich heraus. Sie üben keine Kritik aus.
Reinbold
Ich würde gern wegkommen von dem Streit um diese sehr politischen Fragen und mich auf den beginnenden Konsens beziehen, den ich gehört habe. Sie haben gesagt, Frau Wettberg, Sie kritisieren die israelische Politik an manchen Punkten. Sie haben gesagt, Herr Sukhni, es würde uns helfen, wenn Juden in Deutschland sich nicht immer bedingungslos mit Israel solidarisch erklären, sondern auch kritische Punkte ansprechen.
Wettberg
Ich habe nicht gesagt „bedingungslos“.
Sukhni
Aber Sie haben gerade genau das getan! Sie haben eins zu eins gerechtfertigt, warum 2.000 Menschen sterben mussten. Sie haben als Begründung genannt: die Hamas ist schuld.
Wettberg
Aber jetzt sagen Sie doch einmal, warum seit Jahren Israel beschossen wird? Sagen Sie mir das doch mal!
Sukhni
Das sage ich Ihnen gerne. Wir haben es hier mit einer Besatzung zu tun. Das haben Sie anscheinend vergessen. Die Westbank ist seit 1967 besetzt, Gaza ist blockiert, nichts kommt rein und raus. Die Leute sind doch nicht aus Spaß ...
Was können wir tun gegen Antisemitismus? (1)
Wettberg
2005 ist Israel aus Gaza rausgegangen. Was ist passiert? Die Hamas ist eine Terrororganisation, die eines im Sinn hat: Israel, dieses Land zu vernichten.
Sukhni
Darf ich eine Frage stellen? Hat die Irgun unter Menachem Begin keine Terroranschläge verübt vor der Staatsgründung Israels? Sie hat Terroranschläge verübt und Menschen getötet. Diese Organisation ist später eingeflossen in den Staat Israel. Menachem Begin wurde Ministerpräsident! Das heißt: für die Hamas gilt, wie für die Fatah zuvor: wenn sie Terror verübt hat, heißt das nicht, dass man nicht in Zukunft mit ihr verhandeln sollte. Aber wenn die Hamas die Macht übernimmt in Gaza und das ganze Land blockiert wird, wenn man die Menschen austrocknet und ausdurstet, da kann man nicht erwarten, dass die Hamas tatenlos da sitzt. Ich verteidige nicht die Hamas, aber Sie können auch nicht so tun, als ob da Raketen fliegen einfach nur so aus Spaß.
Reinbold
Frau Wettberg, auch auf jüdischer Seite gibt es ja kritische Stimmen. Sehr prominent hat sich etwa Rolf Verleger geäußert, ein ehemaliges Mitglied des Zentralrats der Juden. Er hat im Deutschlandfunk gesagt: ‚Mir sind die Äußerungen des Zentralrats zu unkritisch pro Israel. Es würde helfen, wenn man auch einmal etwas Kritisches sagt, um zu signalisieren: Antisemitismus ist das eine, und Kritik an Israel ist etwas anderes. Es gibt auch eine legitime Kritik an der Politik des Staates Israel.‘ Würde es helfen, wenn man diesen Unterschied stärker macht? Oder ist das aussichtslos? Wir sind ja eben wieder in die typische Konfrontation hineingelaufen, weg von der Frage, was man in Deutschland tun kann, hin zur harten politischen Auseinandersetzung – und das mit zwei sehr wohlwollenden, konstruktiven Gesprächspartnern, die beide das Problem sehen.
Wettberg
Was können wir hier tun? Es leben hier, ich weiß es nicht genau, 4 bis 5 Millionen Muslime in Deutschland. Wissen Sie, wie viele Juden in Deutschland leben? Schätzen Sie mal.
Sukhni
Eine Million oder weniger?
Wettberg
Eine Million? 102.000. Das ist nichts, das ist gar nichts im Grund. Ich muss schon sagen: die Arbeit, die wir hätten, können wir fast überhaupt nicht leisten. Uns persönlich, also der Liberalen Jüdischen Gemeinde Hannover, liegt sehr viel am Dialog, sonst wäre ich nicht im Rat der Religionen. Mir liegt sehr, sehr viel daran. Wir haben unglaublich viele Schulklassen in der Synagoge, und ich weigere mich auch, in Schulen zu gehen und dort zu sprechen. Dann heißt es: „Aha, das ist also eine Jüdin. Aha, sie sieht ja ganz normal aus.“ Ich möchte gern, dass die Menschen zu uns kommen. Wir sind ein offenes Haus.
Reinbold
Bevor Sie über Schülergruppen sprechen, lassen Sie uns die Chance nutzen, die wir haben. Wir haben einer Klasse der IGS Wunstorf die Parolen genannt, die auf den Demonstrationen gebrüllt wurden und haben sie gebeten, sie auf Plakate zu schreiben und zu sagen, wie sie das sehen. Als die Kollegen vom Evangelischen Kirchenfunk dort waren, haben sie zu ihrer Überraschung festgestellt, dass einige der Schüler bei der Demonstration in Hannover, über die ich eingangs gesprochen habe, dabei waren und mit demonstriert haben. Wir spielen jetzt einmal ein, was die Schüler zu diesen Parolen sagen.
[Einspieler:
O-Töne:
„Ich finde das halt nicht schön, was da in Israel und Palästina vorgefallen ist.“
„Wie gesagt, ich habe nichts gegen die. Ich finde das halt nur Scheiße, dass die einen Staat haben und die gegen Palästina sind.“
„Also Juden, über Juden denke ich eigentlich positiv. Also, obwohl ich mich denen nicht nähern darf, das würde ich zwar auch nicht tun. Über größere Distanz, über Facebook oder so kann man dann ein paar Ratschläge von denen nehmen.“
„Ich finde das allgemein nicht schön, wenn man über Juden – ok, Juden, also die Israeli, die haben sehr viele Moslems umgebracht. Aber ich finde, da muss man jetzt nicht auch sagen: Scheiß Juden, scheiß Judentum, oder so. Das ist nicht schön. Die sind auch Menschen.“
„Juden haben es halt weit gebracht. Man sollte sich ein bisschen Vorbilder an denen nehmen, eigentlich, wenn man nicht so gut in der Schule ist.“
„Eigentlich habe ich nichts gegen Juden. Nur halt gegen den Staat, weil das ein ungerechter Kampf ist zwischen denen. Israelis haben Raketen, sie haben Bomben. Das einzige, was Palästinenser haben, sie können sich nur mit Steinen wehren. Sie haben keine großen Waffen, sie haben keine richtigen Chancen, so wie Israel.“
„Nazis sind ja ganz anders als Zionisten. Also, wenn man ‚Nazi‘ sagt, ist es eigentlich ein bisschen brutal, denke ich mal.“
„Stoppt den Krieg. Hört auf, die Moslems umzubringen. Was haben sie euch getan?“
Einspieler Ende.]