Mitschrift: Gehören wir wirklich dazu? (Teil 2)

Zum Gespräch: Gehören wir wirklich dazu? Muslimische Jugendliche zwischen Anerkennung, Ausgrenzung und radikaler Propaganda


Reinbold 
Ich will einmal vom Thema „Kopftuch“ wegkommen und einen anderen Punkt ansprechen. Einige Jugendliche haben im Landtag von Erfahrungen erzählt, die sie dann nicht in die Kamera sprechen wollten. Worum ging es da?

Zeitun 
Um Diskriminierung an Schulen und in Orten, wo die muslimischen Jugendlichen eine ganz, ganz kleine Minderheit sind, also etwa: 2 Muslime unter 500 Schülerinnen und Schülern. Einem Jugendlichen wurde Gewalt zugefügt, er wurde krankenhausreif geschlagen. Er ist jetzt in Therapie gegangen, er braucht psychologische Unterstützung. Das ging über Jahre …

Reinbold 
… weil er Muslim ist? Oder weil er einen fremden Namen hat? Kann man das sagen? 

Zeitun 
Es ist unterschiedlich. Er wurde beschimpft als „du Ausländer“, „du Schwarzer“ und ähnlich (er ist dunkelhäutig). Er wurde verbal beleidigt, oder man hat ihn geschubst. Einmal hat man ihn so sehr geschlagen, dass der Krankenwagen vor der Schule stand. Solche Dinge sind ein gefundenes Fressen für die radikalen Gruppierungen. Sie sagen. „Schaut, was die mit ihm gemacht haben. So, jetzt bist du dran, dich zu wehren!“ Das sage ich jetzt ganz zugespitzt.

Natürlich ist es normal, dass sich Schüler mal schlagen, dass sie sich streiten. Das ist gang und gäbe, das gibt es überall. Aber Diskriminierung aufgrund von Religion oder Hautfarbe, das darf nicht sein. Da müssen auch die Schulen wirklich drangehen und schauen, was sie tun können. Die Themen Salafismus und islamisch motivierter Extremismus sind wichtig. Aber es gibt auch Islamfeindlichkeit und einen Islamhass, der immer deutlicher wird. Da muss man auch schauen, wie man an dieses Thema herangeht, damit man die muslimischen Jugendlichen nicht in die Ecke drängt. Sonst spielt man den Radikalen in die Hände. Leider. 

Reinbold 
Belit, du bist nun dem Jugendalter schon ein wenig entwachsen mit 34 Jahren. Hast du persönlich solche Erfahrungen gemacht in deiner Jugend?

Onay 
Immer wieder einmal. Goslar liegt relativ nah an der ehemaligen innerdeutschen Grenze. Nach der Wende hatten wir gleich nach Grenzöffnung und Wiedervereinigung starke rechtsradikale Gruppierungen. Das war für viele junge Menschen mit Migrationshintergrund manchmal schon schwierig. Wenn man abends mal aus war, auf Volksfesten etwa oder auch beim Fußball, da wurde man schon mal härter gefoult als der Rest. Man wurde ausgeguckt und dann irgendwie angegangen. Auch später bei der Wohnungssuche war das bei Freunden häufig schwierig. 

Reinbold 
Was passiert bei der Wohnungssuche? 

Onay 
Ein Freund von mir, der ebenfalls hochdeutsch spricht, hatte sich telefonisch für einen Besuchstermin gemeldet. Er war gerade mit dem Studium fertig und wollte umziehen mit seiner Frau. Er ist relativ dunkelhäutig, es ist erkennbar, dass er keine hochdeutschen Vorfahren in seiner Linie hat. Er ist dann zu der Wohnungsbesichtigung gegangen, und der Eigentümer sagte zu ihm: „Ach, Sie sind ja gar nicht Deutsch. Ja, wir haben eigentlich schon ziemlich viele Interessenten. Ich weiß nicht, ob Sie noch drankommen. Schauen Sie sich die Wohnung mal an. Aber das wird wohl eher nichts“. Und es wurde dann tatsächlich auch nichts.

Das merkt man immer wieder. Bei der Jobsuche ist das auch immer wieder ein Thema. Da berichten Jugendliche davon, dass sie nicht zum Zuge kommen, wenn es um einen Ausbildungsplatz geht, und so weiter. Und am Wochenende, wenn die Jugendlichen mal ausgehen wollen, werden an den Discotüren oft diejenigen, die dunkelhäutig sind, die schwarze Haare haben, nicht reingelassen. Das frustriert natürlich einen 17-, 18-jährigen. Wenn alle Freunde in die Disco kommen und man der einzige ist, der nicht reinkommt. Ich hatte, Gott sei Dank, viele gute Kumpels, die dann mitgezogen haben und selbst auch nicht reingegangen sind. Trotzdem, das sind frustrierende Momente, gerade wenn man 17, 18, 19 Jahre alt ist. Das sind alltägliche Momente, die Spuren hinterlassen.

Darüber hinaus sehen wir auch die beschriebene Islamfeindlichkeit, oft in Wechselwirkung mit terroristischen Akten, die im Namen des Islam durchgeführt werden. Wir hatten beispielsweise nach dem 11. September 2001 nahezu jede zweite Woche einen Anschlag auf eine Moschee, seien es Schweinsköpfe vor Moscheen, Blutschmierereien, Vandalismus, Drohbriefe, Beleidigungen und so weiter. Auch in Niedersachsen ist es so. Im Jahr 2013 hatten wir, glaube ich, alle 3 Wochen einen Anschlag auf eine Moschee. Es ist für die Gemeinden sehr schwierig, damit umzugehen. Manches will man nicht an die große Glocke hängen, damit die Gemeinde nicht beunruhigt wird. Deshalb alarmiert man nicht unbedingt die Polizei. Man will versuchen, es klein zu halten und nicht groß zu reden. Aber das sorgt natürlich für Unruhe. 

Zeitun 
Dies vielleicht noch zur Ergänzung. Es ist nicht nur bei der Jobsuche so, sondern es geht schon beim Praktikum los. Ich kenne viele, viele Jugendliche, die einen Praktikumsplatz für eine Woche brauchen und nichts finden. Die anderen Klassenkameraden haben schon nach dem ersten Gespräch einen Praktikumsplatz erhalten. Sie aber finden nichts. Dann sagen sie: „Ich finde nichts. Kennst du vielleicht einen türkischen Industriellen oder einen Händler, der mich aufnehmen kann?“ So ist es wirklich. Sie suchen Leute, die aus demselben Land kommen wie ihre Eltern oder Großeltern, damit sie Chancen haben. 

Reinbold 
Woran genau liegt das? Ist das der Name? Dass jemand Onay heißt oder Zeitun oder Öztürk oder wie auch immer? 

Zeitun 
Das ist unterschiedlich. Das kann schon mit dem Namen beginnen. Ich habe selber meine Erfahrung mit einer Wohnungssuche über vier Jahre. Ich spreche fließend Deutsch, aber schon alleine der Name war Grund genug, mich abzulehnen: „Nein, wissen sie was, ihr Name klingt so komisch, da wollen wir nichts mit zu tun haben.“ Das haben sie mir direkt gesagt. Das ist keine Interpretation, die ich mir zusammengestrickt habe, sondern so hat man es mir gesagt.

So ist es oft auch bei Jugendlichen. Und wenn schon Kleinigkeiten wie Praktikumsplätze für eine Woche scheitern, dann machen sie sich natürlich Gedanken: „Oh mein Gott, wie wird das dann, wenn ich später arbeiten möchte? Das ist dann keine Woche, sondern dann geht es um ein festes Arbeitsverhältnis, das ich mir wünsche, um Geld, das ich verdienen möchte“. In dem Einspieler sagt ein Mädchen: „Wir müssen immer nach hinten“. Ich kenne noch ein Mädchen, dem es so erging. Sie durfte in einer Bäckerei nur hinten Brötchen backen. Sie durfte nicht nach vorne. Sie war unsichtbar, sie war nicht da. Die Integration fördert das nicht. Dabei wollen wir doch, dass wir eine gemeinsame Gesellschaft sind, eine Gemeinschaft mit unserer unterschiedlichen Vielfalt. 

Reinbold 
Du hast gesagt, du bist groß geworden in einem Dorf in der Nähe von Osnabrück und kennst das alles auch von früher. 

Zeitun 
Ja, ich habe natürlich Diskriminierung erleben müssen. Kinder, die nicht zu uns nach Hause durften, weil meine Mutter Kopftuch trägt. Wir waren vielleicht eine von drei muslimischen Familien dort. Das war schwierig. Ich hatte keinen Zugang zu meinen Klassenkameraden. Geburtstagseinladungen kamen nicht. Man hat keinen Fremden eingeladen.

Wenn man uns doch einmal eingeladen hat, dann, wenn man in der Schule ein Schulfest hatte und man etwas zum Essen vorbereiten wollte. Dazu waren unsere Familien gut. Dann hieß es: „Oh lecker, Sie können ja richtig toll kochen!“ Man wurde wirklich reduziert auf bestimmte Dinge. Für die Küche waren wir gut, für alles andere nicht. 

Reinbold 
Wir haben jetzt viel über schlechte Erfahrungen gehört, über Ausgrenzung und das Gefühl, nicht dazuzugehören. Ich will noch einmal einen Punkt aufgreifen, der gelegentlich schon am Rande angesprochen wurde. Legen wir auf diese Weise das Fundament, auf dem die Dschihadisten aufbauen können?

Onay 
Ich glaube, bei denen, die von Dschihadisten und Salafisten angesprochen und dann auch geködert werden, ist die Frustration noch viel weiter. Das sehen wir in den Lebensläufen, dass da wirklich ein Scheitern ist, auch in den Familien. Da ist es viel extremer. Gott sei Dank sind nicht alle Kinder und Jugendlichen durch Erlebnisse wie die geschilderten derart frustriert. Das haben wir auch bei den Jugendlichen im Einspieler gesehen. Sie haben noch Mut und Elan, etwas zu machen.

Das Grundproblem scheint mir zu sein, dass wir die Begriffe „Islam“ und „Migrationshintergrund“ immer mit einem Manko verbinden. Wir assoziieren: problematisch, wahrscheinlich sozial schwach, nicht gut ausgebildet. Einen Migrationshintergrund zu haben, ist ein Manko, es ist wie eine kleine Behinderung. Das ist die Wahrnehmung der meisten.

Ich glaube, das spiegelt sich auch in den Betrieben und in den kleinen mittelständischen Unternehmen. Eine Untersuchung der Bertelsmannstiftung hat herausgefunden, dass, wenn ich mich recht erinnere, nur 12 Prozent der Arbeitgeber sich vorstellen können, einen Migranten oder eine Migrantin einzustellen. Ich glaube, das hat nichts damit zu tun, dass die Befragten allesamt Rassisten oder Nazis sind. Sondern es gibt da einfach eine Furcht vor dem Fremden, vor dem Andersartigen. Es ist negativ belastet.

Dabei muss das nicht sein. Wir könnten Migranten und deren Kinder ganz anders wahrnehmen. Ich will es nicht als Werbung in eigener Sache verstehen, aber: Migrationshintergrund zu haben, kann ein unglaublicher Vorteil sein in einer globalisierten Welt. Im besten Fall ist man zweisprachig aufgewachsen, hat interkulturelle Kompetenzen, kennt verschiedene Kulturen. Das sind alles Vorteile. In anderen Ländern wird das übrigens auch gewürdigt, in Kanada beispielsweise, in den Vereinigten Staaten teilweise auch und in vielen anderen Ländern. Hier in Deutschland haben wir noch ein Problem damit. Dinge, die eigentlich positiv sein könnten, überfrachten wir negativ.

Das vergiftet, glaube ich, das Klima, und das macht es für viele Jugendliche, aber auch für die Mehrheitsgesellschaft insgesamt schwierig. Wir brauchen einen Bruch mit dieser Tradition der Distanz. Wir brauchen einen stärkeren Blick auf die Gemeinsamkeiten und mehr Punkte, wo wir wirklich positiv aneinander geraten. 

Reinbold 
Dua Zeitun, nun sind ja seit dem 11. September 2001 und spätestens seit dem 7. Januar diesen Jahres die Themen „Islam“ und „Gewalt“ aufs engste miteinander verbunden. Jeden Tag geht es durch die Medien, wird die Frage diskutiert, ob der Islam einen Kern aus Gewalt hat. In Osnabrück ging durch die Zeitung, dass eine zum Islam konvertierte Deutsche mit ihrer 4-jährigen Tochter nach Syrien ausgereist sei, um in den Dschihad zu ziehen. Sind das in der Lebenswelt der muslimischen Jugendlichen in Osnabrück reale Gefahren? Kennt man diese Personen? Wird man angesprochen von Leuten, die versuchen, einen nach Syrien zu locken? Wie funktioniert so etwas?

Zeitun 
Ich persönlich habe noch keine Erfahrungen mit solchen Personen gehabt. Ich denke, das ist ein langer Prozess. Man entscheidet sich nicht von heute auf morgen, nach Syrien zu ziehen. Von großer Bedeutung ist das Internet. Die radikalen Gruppen sind im Internet ja sehr, sehr präsent. Man muss auf Youtube nur einmal „Islam“ eingeben, und sofort hat man 10.000 Videos von radikalen Gruppen, und ein Belit Onay oder eine Dua Zeitun sind erst einmal nicht sichtbar. Wir haben keine Chance momentan. Wir müssen deshalb mehr Öffentlichkeitsarbeit machen, mehr Medienpräsenz zeigen, damit wir dagegenhalten können.

Momentan sind die Radikalen überall. Sie haben sehr schnellen Zugang zu den Jugendlichen. Ich muss nicht irgendwo rausgehen, in ein Internetcafé gehen oder mit einer Gruppe zusammensitzen. Ich kann auch zuhause in meinem Zimmer den Zugang zu diesen Gruppen haben und ihn intensivieren. Deshalb muss man mit der Prävention wirklich früh anfangen.

Ich finde es immer traurig, wenn man erst reagiert, wenn die Jugendlichen ihre Koffer bereits gepackt haben oder nach Syrien gegangen und wieder zurückgekommen sind. Für mich ist es wichtig zu schauen, dass es nicht dazu kommt, dass Jugendliche ihre Koffer packen. Dass sie gar nicht erst in die Lage kommen, mit solchen Gedanken zu spielen. Und das beginnt von klein auf. Wie Belit bereits gesagt hat, sind die Frustrationen, über die wir gesprochen haben, natürlich nicht die Ursache dafür, dass jemand sich radikalisiert. Sie sind aber ein Baustein unter vielen, und solche Bausteine können sich anhäufen. Und wenn dann irgendwann mal der ein oder andere so frustriert ist, dass er das Gefühl hat, dass er gescheitert ist und keine Perspektive mehr hat, dann ist er oder sie ein gefundenes Fressen für diese Gruppen. 

Reinbold 
Das heißt, Radikalisierung kann tatsächlich ausschließlich über das Internet erfolgen? Ich sitze zuhause mit meinen Social Media und mit Youtube und werde da reingezogen?

Zeitun 
Genau. Es wird zum Beispiel debattiert über die Frage, ob der Islam eine gewaltlose Religion ist. Was macht ein Jugendlicher? Er sagt. „So, ich will einmal schauen, was es da an Gegenargumenten gibt.“ Und dann findet er im Internet Leute, die Gewalt rechtfertigen und die der Meinung sind, dass sie damit den Islam verteidigen. Er findet Antworten, die viele andere ihm nicht geben, in den Moscheen etwa. Deshalb sind die Moscheegemeinden auch herausgefordert, Alternativen anzubieten. Es ist nicht in erster Linie die Aufgabe der Gesellschaft, der Schulen oder der Nachbarn, sich darum zu kümmern. Sondern die Moscheegemeinden sind gefragt, Alternativen anzubieten und dafür Sorge zu tragen, dass Jugendliche in die gesunde Richtung gefördert werden. 

Reinbold 
Belit Onay, muss die Politik mehr tun gegen diese Internetpropaganda? Brauchen wir härtere Regeln, härtere Gesetze gar? 

Onay 
Wir sehen ja, dass viele junge Menschen leider zu Dschihadisten werden und dass wir also mehr tun müssen. Die Angebote und Methoden, die es bisher gibt, fruchten nicht so richtig. Deshalb hat in Niedersachsen das Sozialministerium in Kooperation mit den muslimischen Gemeinden eine Präventionsstelle geschaffen, als Hilfestellung für die Betroffenen und ihre Angehörigen, für Familie, Freunde und Bekannte.

Das Problem ist allerdings, wie schon beschrieben, sehr vielschichtig. Wenn man sich einmal den Lebenslauf der Attentäter von Paris anschaut, dann sieht man, wie es sehr oft ist. Einer ist beispielsweise ohne Vater aufgewachsen. Die Mutter hat mit fünf oder sechs Jahren Selbstmord begangen. Sie kamen ins Heim. Dann spielte natürlich noch die Situation der Migrantinnen und Migranten in Frankreich mit hinein, insbesondere der Justizvollzug, der als Plattform gedient hat, um Kontakt zu Radikalen zu bekommen.

In Niedersachen haben wir jetzt 36 muslimische Seelsorgerinnen und Seelsorger für den Justizvollzug, um gerade solchen Tendenzen zu begegnen, um Halt zu geben. Denn der Justizvollzug ist eine Zäsur, eine Situation im Leben, in der viele noch tiefer ins Loch fallen und keine Resozialisierung hinbekommen. Da ist das, glaube ich, eine wichtige Hilfestellung.

Aber zurück zum Ausgangspunkt. Das Problem ist sehr vielschichtig. Wir haben teilweise Konvertiten unter den Dschihadisten, die wirklich nichts mit dem Islam zu tun haben. Sie haben sich teilweise bei der Ausreise am Flughafen noch Bücher gekauft, um sich über den Islam zu informieren, um auch nur einfachste Kenntnisse zu erlangen, „Islam for Dummies“ heißt eins dieser Bücher, das ist so etwas wie „Islam auf 10 Seiten“.

Die Radikalisierungsprozesse laufen über das Internet, aber auch über Kontakte, über Vereine, Gesprächskreise und was es alles gibt. Frustration spielt dabei eine wichtige Rolle. Das Verbindende zwischen diesen Personen ist, dass sie Gescheiterte, Verlierer, sogenannte „Loser“ unserer Gesellschaft sind bzw. sich so empfinden. Und dass sie dann aber plötzlich, wenn sie nach Syrien gehen, auf der weltpolitischen Bühne mitspielen. Mit der IS ist man auf einmal der König. Da ist man plötzlich wer. Das ist, glaube ich, das, was für viele junge Menschen verlockend ist. Auch wenn Jugendliche provokant auftreten, wenn sie sich einen langen Bart wachsen lassen, plötzlich Pluderhosen tragen, wenn sie das Salafistische imitieren …

Reinbold 
… man ist nicht länger die graue Maus, sondern wird plötzlich wahrgenommen …

Onay 
Ich glaube, Die ZEIT hat mal getitelt: „Die Burka ist der neue Punk“. So würde ich es nicht nennen. Aber es geht ein bisschen in diese Richtung. Es gibt einen Geltungsdrang, und der wird gestillt. Und in den ganz schwierigen Fällen führt das dann wirklich dazu, dass jemand sich einem Kampf anschließt, ruchlosen Mördern. Das Geltungsbedürfnis wird auf diese Weise gestillt.

Aber wie gesagt: man kann es nicht über einen Kamm scheren. Es gibt viele unterschiedliche Radikalisierungsbiografien und Radikalisierungswege. Und dafür brauchen wir Präventionsarbeit. Wenn es schon so weit ist, ist es eigentlich schon vorbei, muss man sagen. Wenn die Person schon nach Syrien gereist ist, kann man, glaube ich, zwar noch versuchen, etwas zu bewegen. Aber eigentlich muss im Vorfeld darauf eingegangen werden. Das versuchen wir jetzt, mit dem Antiradikalisierungsprogramm des Sozialministeriums. Ich hoffe, dass das Früchte trägt, dass das wirklich vielen Jugendlichen, die davon betroffen sein könnten, helfen wird.

Reinbold 
Die Aufgabe der Präventionsstelle ist in erster Linie die Arbeit im Vorfeld? Steht sie auch als Ansprechpartner zur Verfügung für Familien, deren Jugendliche bereits auf dem Weg nach Syrien sind oder die kurz vor der Ausreise stehen?

Onay 
Natürlich auch. Wichtig ist, dass man sich einmal in die Lage der Familien hineinversetzt. Vorher saßen die Ansprechpartner für diese Familien beispielsweise beim Verfassungsschutz. Das Problem dabei ist natürlich, dass sich viele Familien, viele Mütter und Väter gefragt haben: „Verpfeife ich also meinen Sohn beim Verfassungsschutz?“ Denn der Verfassungsschutz ist nun einmal eine Sicherheitsbehörde. Wenn ich aber beim Sozialministerium anrufe, das ein Programm mit einem pädagogischen Konzept hat, dann ist das etwas Anderes. Da ist, glaube ich, die Hemmschwelle geringer. Wir erhoffen uns davon, dass sich mehr Menschen dort hinwenden. Menschen, die Hilfe suchen, die Kontakt zu solchen Jugendlichen haben. Oder vielleicht sogar Jugendliche, die selbst in einer Krise sind und Hilfe brauchen. Das geht, glaube ich, mit einem eher sozialen, pädagogischen und präventiven Ansatz besser als mit einem sicherheitspolitischen. 

Reinbold 
Dua, ist das der richtige Ansatz aus deiner Sicht? 

Zeitun 
Auf jeden Fall. Und ich möchte noch hinzufügen, dass wir in den Moscheegemeinden zwar kompetente und qualifizierte Gemeindemitglieder haben. Aber sie sind durchweg Ehrenamtliche und sie sind, was die Jugendarbeit anbetrifft, Laien. Sie sind in die Jugendarbeit hineingewachsen, weil sie selber als Jugendliche dort aufgewachsen und groß geworden sind. Das ist auf Dauer schwierig, denn wirklich viele Kompetenzen können sie nicht einbringen. Das heißt: wir brauchen Pädagogen, Psychologen, wirkliche Experten, die helfen können, die unterstützen können, die Hilfestellungen geben können. Und da, denke ich, sind wir auf dem richtigen Weg. 

Reinbold 
Danke. Nun sollen die Jugendlichen noch einmal zu Wort kommen. Wir haben noch einen zweiten Einspieler mit O-Tönen aus dem niedersächsischen Landtag vorbereitet, den wir jetzt zeigen. Was haben die Jugendlichen aus dem Landtag mitgenommen? Wie hat sich ihr Bild verändert?

[Einspieler:
O-Töne:
„Also ich nehme mit, dass ich auf jeden Fall anders über Politik nachdenken muss, dass ich mich auf jeden Fall intensiver damit beschäftigen muss, weil ich das vorher, ehrlich gesagt, nicht so getan habe. Mir ist echt bewusst geworden: man muss echt einen Schritt tun. Es lohnt sich zu engagieren, auch wenn es so das kleinste Ding ist.“ 

„Ich nehme mit in die Zukunft, dass man erstmal, um an ein Ziel zu kommen, erstmal den ersten Schritt gehen muss und erst einmal gucken muss, wie die Lage ist und dann weiterschauen.“ 

„Also ich gehe daraus sehr positiv, weil ich jetzt auch weiß, dass es viele Politiker gibt, die uns dabei auch unterstützen und man nicht alleine ist.“ 

„Ich trage halt selber Kopftuch, aber für die Leute, die vielleicht anders sind, so keine Vorurteile zu haben.“ 

„Also ich habe viele neue Dinge erfahren. Es macht mich auch glücklich teilweise, dass es Menschen gibt, die anders denken, weil ich persönlich, in meinem Umfeld ist es leider so, dass viele Menschen negativ über Menschen mit Migrationshintergrund denken oder über Muslime oder so was halt. Das macht einen selbst halt natürlich glücklich, wenn man Menschen sieht, die auch anders denken, sozusagen wie wir denken.“ 

„Also ich habe vor allem mitgenommen, dass wir nicht vergessen sollten, dass es in Deutschland eigentlich ganz gut läuft mit der Integration, aber das wir halt auf die Missstände, die es noch gibt, mehr eingehen sollten und das auch im Alltag, also jeder von uns und nicht nur die Politiker, sondern wir selber auch.“

„So wie wir darüber geredet haben, ist die Integration in Deutschland eigentlich schon ganz gut, und ich hoffe, dass das auch so bleiben wird und dass mich das dann später in meinem Berufsleben nicht so schlecht beeinflusst.“ 
Einspieler Ende].

Reinbold 
Mich hat ein Satz wirklich bewegt, nämlich der Satz: „Es macht mich glücklich, dass es Menschen gibt, die anders denken“. Man spürt die ganze Frustration, die sie in sich hat und dann auch die ungeheure positive Energie, die durch den Besuch bei vier Landtagsabgeordneten und aus allen Parteien entstanden ist. Wenn man das hört, kann man nur sagen, Belit: Macht mehr solche Veranstaltungen im Landtag! Solche Begegnungen können etwas bewegen. Ich hatte den Eindruck, da ist wirklich eine Energie entstanden. 

Zeitun 
Definitiv. Sie wollen nach Berlin zu Angela Merkel. Das haben sie mir gesagt. Im Bus musste ich sie erst einmal zügeln, und wir schauen einmal, ob wir so weit kommen. Aber sie wollen nach Berlin in den Bundestag.

Reinbold 
Für die Politik war es eine Werbung. Ich weiß nicht, wie häufig ihr solche Sätze hört. Aber das ist doch nach einem Besuch im Zentrum der Politik Niedersachsens ein tolles Ergebnis.

Onay 
Ja, es war wirklich ein super Besuch, ein super Austausch. So etwas haben wir nicht alle Tage. Wichtig ist, und das haben wir versucht, den Jugendlichen mitzugeben, dass politische Beteiligung entscheidend ist, auch und gerade von Menschen mit Migrationshintergrund. Im Landtag sind wir jetzt zu viert. 4 von 137 Abgeordneten! Da gibt es einen massiven Nachholbedarf. Das ist nur ein Bruchteil dessen, was repräsentativ wäre. Ein Parlament lebt ja davon, dass möglichst alle Bevölkerungsgruppen repräsentiert sind. Wir haben viele Landwirte, wir haben Menschen aus der Stadt, junge Menschen, Ältere, Frauen und Männer, ganz unterschiedliche Lebensentwürfe. Aber bei Menschen mit Migrationshintergrund, da muss noch ein bisschen nachgeholfen werden. 

Reinbold 
4 von 137. Wenn wir das niedersächsische Mittel abbilden wollten – hierzulande haben etwa 17 Prozent der Menschen einen Migrationshintergrund –, dann müssten es, wenn ich richtig rechne, etwa 23 bis 24 sein.

Onay 
Da hoffen wir bis zur nächsten Landtagswahl, dass sich ein paar finden …

Reinbold 
Ein starkes Argument, sich zu engagieren. Und die Jugendlichen wollen jetzt mehr, sie wollen die große Politik sehen und entdecken, dass man Dinge bewegen kann, dass es lohnt, sich zu engagieren.

Zeitun 
Definitiv. Einige Jugendliche haben auch gesagt: „Wir wollen uns in Osnabrück noch einmal politisch engagieren. Wir wollen demnächst die Parteien in Osnabrück einladen, die sich in der Jugendpolitik einsetzen.“ Manche waren auch fasziniert durch Belit. Also du hast auf jeden Fall einige Fans gewonnen unter den jungen Mädchen. Da habe ich einiges miterleben und mithören dürfen …

Reinbold 
… es braucht Identifikationsfiguren wie den Landtagsabgeordneten Onay, und dann schauen die Jugendlichen und sagen: „Das müsste ich doch auch können …“

Zeitun 
Es spielt wirklich eine Rolle, wen man als Autorität vor sich hat. Ein junger Politiker, das macht viel aus. Es ist etwas anderes, als wenn da ein älterer muslimischer Politiker auftritt, der auch noch mal ein bisschen anders tickt. Das war für die Jugendlichen auf jeden Fall interessant. Es wird noch oft von Belit gesprochen.

Reinbold 
Schlussfrage, wir sind leider mit der Zeit schon am Ende. Nach den Anschlägen von Paris und den PEGIDA- und Anti-PEGIDA-Demonstrationen, die etwa in Hannover dazu geführt haben, dass die multireligiösen Friedensgebete in der Marktkirche ausnehmend gut besucht waren, hat die Bloggerin Kübra Gümüsay in der ZEIT geschrieben, sie habe den Eindruck, dass sich in Deutschland etwas zum Positiven bewegt habe. Muslime, so ihr sie Eindruck, würden jetzt stärker miteinbezogen, die Gesellschaft stehe zusammen, gegen ausgrenzende Parolen. Teilt ihr diesen Eindruck?

Zeitun 
Ich kann es bestätigen. Ich habe selber an einer Anti-PEGIDA-Demonstration teilgenommen und habe auch eine Rede gehalten. Da waren 5.000 Demonstranten. Ich bin da eigentlich eher optimistisch. Wir haben noch einmal gezeigt, dass Deutschland bunt ist, dass die deutsche Gesellschaft nicht nur aus deutschen Einheimischen besteht, sondern aus vielen, vielen Kulturen und Religionen, die zusammen das Land gestalten. Ich glaube, das ist auch angekommen. 

Onay 
In Hannover haben wir ohnehin ein sehr gutes Netz in der Zivilgesellschaft. Das zeigt das Haus der Religionen, das zeigen verschiedene andere Gremien, die sich bei solchen Sachen sofort zusammenfinden, sei es mit einem Friedensgebet oder mit anderen Aktionen. Wir haben das ja immer wieder einmal gehabt, dass Rassistinnen und Rassisten versucht haben, in unserer Stadt Fuß zu fassen. Da gab es immer ein ganz klares Zeichen, nämlich: bunt statt braun. Und ich glaube, das lebt man hier auch. Da kann man froh sein, in Hannover zu wohnen. 

(Redaktion: Wolfgang Reinbold)

Gehören wir wirklich dazu? Muslimische Jugendliche zwischen Anerkennung, Ausgrenzung und radikaler Propaganda

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