Man wächst in diese Rollen hinein, in denen man sonst nicht wäre. Etiketten werden einem zugeschrieben, und man erfüllt sie. Ich glaube, das ist schon sehr stark zu beobachten bei den Jugendlichen.
Zeitun
Das möchte ich ergänzen. Es gibt auch viele Jugendliche, die dann ihre Religion in den Vordergrund stellen. Die sich wirklich provokant damit präsentieren, obwohl sie letztendlich gar nicht praktizierend sind, zum Beispiel. Das ist immer sehr spannend zu sehen. Es ist eine Trotzreaktion: „O.k., meine Religion wird hier nicht angenommen. Ich werde diskriminiert aufgrund meiner Religion oder aufgrund der Religion, die meine Eltern haben.“ Nicht jeder muslimische Jugendliche ist praktizierend oder sitzt den ganzen Tag und sucht nur nach religiösen Antworten. Er ist, wie gesagt, zunächst einmal ein Jugendlicher wie jeder andere auch. Das ist einer der Gründe, warum Jugendliche sich radikalisieren. Da ist Diskriminierung ein wichtiger Faktor.
Reinbold
Die Jugendlichen reagieren auf die Zuschreibung, sie seien ein gefährlicher Moslem, indem sie zu einem gefährlichen Moslem werden bzw. stärker in diese Richtung gehen als sie es normalerweise täten?
Zeitun
Ja, natürlich. Um das zu erreichen, sind ja auch die radikalen Gruppierungen im Internet präsent. Sie bieten diesen Jugendlichen an, sie aufzufangen. Sie fassen diese Schmerzempfindung an und geben ihnen genau das, was sie auch brauchen: Geborgenheit, „wir akzeptieren dich“, „wir sind eine Familie“, „wir sind eine Gemeinschaft“, „uns trennt nichts“, „egal, wie du aussiehst, ob du dunkelhäutig bist oder Türke oder Araber, du gehörst zu uns, wir gehören zu dir“. Das ist attraktiv, wenn man sich von der Gesellschaft und der Politik ausgegrenzt fühlt. Also: diese Jugendlichen mit ihrer Religion, mit ihrer Identität, sie sind ein Teil von Deutschland.
Reinbold
Und du versuchst mit der muslimischen Jugendcommunity, dem etwas entgegenzusetzen, einen Ort, an dem solche Fragen vernünftig besprochen werden können, an dem man selbstverständlich ein Teil der Gesellschaft ist und nicht ausgegrenzt wird.
Zeitun
Ja, genau. Für mich ist es selbstverständlich, dass sie Deutsche sind. Es sind deutsche Muslime.
Reinbold
Nun wart ihr im Landtag, und wir haben darüber einen kleinen Film gedreht, mit einigen O-Tönen der Jugendlichen. Was sagen sie selbst zu ihren Zukunftschancen? Welche Erfahrungen machen sie?
[Einspieler:
Hannover, hier im niedersächsischen Landtag fallen die politischen Entscheidungen, auch in Sachen Bildung und Chancengleichheit. Deshalb hat sich die muslimische Jugendcommunity Osnabrücker Land, die MUJOS, aufgemacht, um mit Politikern aus den vier politischen Landtagsfraktionen zu diskutieren. Vor allem geht es dabei um ihre berufliche Zukunft. Denn egal, ob in Politik, Wirtschaft oder Handwerk, die Chancen stehen gut, auch für muslimische Jugendliche – sollte man meinen. Sie selbst sehen das allerdings kritisch.
O-Töne:
„Ich habe eine Freundin, die wollte Kindergärtnerin werden, die hatte halt Kopftuch an, und die durfte halt nicht mitmachen, weil die halt Kopftuch anzieht. Das war halt ungerecht, weil sie ist ja trotzdem gut. Hat ja nichts damit zu tun, was sie auf dem Kopf hat.“
„Es kommt darauf an, wo man sich bewirbt, dass man sich halt, wenn man Medizin studiert, nehmen die einen direkt an, wenn man viel Wissen hat oder so etwas. Aber wenn man zum Beispiel jetzt hier in der Bäckerei einmal zum Beispiel Praktikum machen will, darf man nicht an der Kasse oder so etwas arbeiten, weil die meinen, die Gäste sehen das nicht so gerne. Deshalb arbeite mal hinten, mache die Brötchen. Fand ich nicht so nett.“
„Meine Stiefschwester hat sich beworben als Krankenschwester und wurde dort nicht genommen wegen ihres Kopftuchs. Wenn sie das Kopftuch ablegt, dann wird sie genommen werden, aber weil sie es nicht wollte, wurde sie nicht genommen.“
„Man kann es auch, wenn man gute Noten hat, zu etwas im Leben bringen. Zum Beispiel sehe ich das ja an meinen Eltern. Die sind ja nach Deutschland gekommen, aber haben ja trotzdem eine Karriere. Die sind jetzt beide Ärzte und alles, und deswegen glaube ich, man kann das schon schaffen.“
„Wir haben sehr viele Möglichkeiten. So ist das nun auch nicht. Wer etwas zur Gesellschaft beitragen möchte, kann auch was tun.“
„Ich denke schon, dass es bei manchen Berufen ein Problem sein könnte.“
„Ich finde das schade, weil ich ganz viele Freundinnen habe, die Lehramt studiert haben und aufgrund ihres Kopftuches dann nicht angenommen wurden.“
„Einfach also aufgeschlossener sein zu den Menschen, nicht so gleich die Vorurteile einfach haben, so sagen: Ja, der ist jetzt dunkelhäutig, der ist jetzt kriminell oder so. Einfach netter zu den Leuten sein, einfach miteinander, wie ich jetzt mit jedem umgehe. Es gibt ja diesen Spruch: Was ich nicht will, dass man mir tut, das soll man auch keinem anderen tun. Das soll man auch wirklich machen.“
Einspieler Ende].
Reinbold
Viel Kopftuch in diesen O-Tönen: Man wird nicht Kindergärtnerin, in der Bäckerei darf man nicht an der Kasse stehen, man darf nicht Lehrerin werden. Belit, was sagst du dazu?
Onay
Das Kopftuch spielt eine große Rolle in der Debatte, seit langem, das ist nicht neu. Gerade was den Schulbetrieb anbetrifft, der auch angesprochen wurde, ist das ein großes Thema. Lehrerinnen mit Kopftuch dürfen und durften nicht an die Schule, soweit sie andere Fächer als Religion unterrichten.
Das Problem bei der Debatte ist, glaube ich, dass sie mittlerweile derart politisch emotional aufgeladen ist, dass es schwierig ist, eine gesunde Debatte zu führen. Und vor allem merke ich immer wieder, dass viel über das Kopftuch gesprochen wird, aber wenig mit denen, die es tragen. Ich glaube, das ist einer der wenigen Filme, in dem die Betroffenen direkt zu Wort kommen und sich dazu äußern und Stellung beziehen können, wer sie sind, was sie wollen, was ihre Wünsche sind. Darin besteht eine große Schwierigkeit.
Wir haben beim Thema „Kopftuch“ eine sehr politische Debatte. Das ist übrigens nicht nur in Deutschland so, sondern auch in anderen Ländern. In der Türkei beispielsweise ist es auch über Jahrzehnte derart hoch stilisiert worden. Ich habe ein bisschen die Sorge, dass es hier bei uns ähnlich werden könnte, wenn sich die Debatte derart fortsetzt.
Zeitun
Ich finde es frustrierend, wenn 14-, 15-jährige Mädchen sich solche Gedanken machen. Eigentlich sollten sie sich nur Gedanken machen darüber, was sie werden wollen, was ihr Traumberuf ist. Aber so ist es nicht. Sofort kommt die Frustration, und sie sagen. „Na ja, vielleicht mache ich es ja doch nicht, weil ich ja dann auch nicht arbeiten kann, nicht arbeiten darf“. Andere machen sich in diesem Alter nur Gedanken darüber, was ihr Berufswunsch, was ihr Traum ist. Sie sind schon zwei Stationen weiter. Diese Mädchen aber überlegen jetzt schon. „Oh Gott, dann habe ich keine Chance.“ Mit 15 Jahren habe ich keine Chance, mit meinem Kopftuch zu arbeiten. Das ist frustrierend.
Für mich ist wichtig, dass man diese Jugendlichen versteht. Wir erwarten, dass sie sich bilden, dass sie vorankommen. Wir wollen Akademiker. Wir wollen gebildete junge Muslime. Aber viele Jugendliche sagen sich: „Warum soll ich mir die Mühe machen? Ich komme ja doch nicht weiter“. Und dann muss man immer wieder schauen, sie zu motivieren. Ich sage dann: „Nein, man soll die Hoffnung nicht aufgeben.“ Und ich nehme mich selbst als Beispiel.
Ich arbeite in einer katholischen Einrichtung als Mitarbeiterin mit meinem Kopftuch, mit meiner islamischen Identität. Und ich bin trotzdem meinem Arbeitgeber, meiner katholischen Einrichtung gegenüber loyal. Es geht. Meine Erfahrung zeigt: Man kann gemeinsam arbeiten, und es ist eine Bereicherung für mich und auch für das Team.
Reinbold
Kannst du die Widerstände, die es in der deutschen Gesellschaft gibt und die momentan wieder stark hervortreten im Zuge der Debatte um das Kopftuch an den Schulen, nachvollziehen?
Zeitun
Es ist halt die Angst. Der Islam ist im Moment ein Monstrum. Das sorgt für Angst. Durch die Medien. Durch die vielen Vorurteile, durch Islamhass, durch PEGIDA. Das macht es enorm schwierig, für solche Debatten Lösungsvorschläge zu geben. Wie kann man dieses Problem lösen? Ich denke so, wie es eine der Jugendlichen gesagt hat: Es geht nicht darum, was ich auf dem Kopf habe, sondern was ich im Kopf habe. Man kann nicht wirklich sagen: Aufgrund ihres Kopftuches kann sie nicht als Lehrerin arbeiten. Ich denke, da muss man immer wieder differenzieren und auf den Menschen schauen. Da fehlt es einfach noch.
Reinbold
Nun ist es ja nicht die deutsche Mehrheitsgesellschaft, die sich ausgedacht hat, dass das Kopftuch ein solches Symbol ist. Vielmehr sehen wir in verschiedenen Ländern, wie es tatsächlich symbolisiert und instrumentalisiert wird. Etwa, wenn man schaut, was sich derzeit in der Türkei abspielt. Belit, siehst du irgendeinen Weg, wie man diesen Knoten lösen könnte?
Onay
Ich glaube, kurzfristig wird es sehr schwierig. Wir verfolgen hier in Niedersachsen zurzeit das Vorhaben, einen Staatsvertrag mit den muslimischen Gemeinden zu schließen, was sehr wichtig ist. Wir versuchen, das Verhältnis zwischen dem Staat und den Muslimen im Land zu klären und auf eine rechtliche Basis zu hieven. Dabei ist das Problem des Kopftuches, glaube ich, ein harte Nuss. Es ist, und das sehen wir überall, wie gesagt sehr emotional. Und mit emotionalen Debatten in der Politik ist es nicht ganz einfach.
Es ist auch immer schwierig, wenn man sich als Mann über das Kopftuch unterhält. Denn es ist ja wirklich ein frauenpolitisches Thema. So wird es auch diskutiert. Aber das macht schon das erste Problem sichtbar. Frauen, die ein Kopftuch tragen, dürfen nicht in die Schule. Männer aber, die den Islam ähnlich auslegen, haben keine Probleme. Ich könnte mit einer entsprechenden Gesinnung ganz normal an der Schule arbeiten, Karriere machen, Schulleiter werden und so weiter und so fort. Aber Frauen schließen wir aus. Wir unterstellen ihnen, dass sie unterdrückt werden, und das obwohl sie studiert haben. Wir erteilen ihnen ein Berufsverbot. Worin da die Logik liegen soll, muss man mir noch einmal irgendwie erklären. Das kann ich nicht ganz nachvollziehen. Da tut sich eine Diskriminierung speziell von Frauen auf, die, glaube ich, unverhältnismäßig ist.
Zeitun
Ja, in diesem Fall werden wir auch unterdrückt. Wir haben uns als muslimische Frauen für das Kopftuch entschieden. Aber wir können in einem bestimmten Berufsbereich nicht arbeiten. Wir werden daran gehindert.
Reinbold
Wenn jetzt einer sagt: „Nun stellen Sie sich nicht so an. Im Fach ‚Religion‘ können Sie das ja aufziehen. Aber in Mathematik lassen Sie es bitte ab!“ Also: warum keine flexible Handhabung mit diesem Kleidungsstück? Ich trage auch nicht immer Krawatte.
Zeitun
Dafür haben wir in der Bundesrepublik Deutschland die Religionsfreiheit und die Meinungsfreiheit. Da ist es für mich ganz selbstverständlich zu sagen: „Ich habe mich für das Kopftuch entschieden. Ich trage es selbstbewusst, ohne jeglichen Druck, ohne jegliche Manipulation. Ich tue es für mich, für meinen Glauben, für meine Überzeugung und möchte dann dementsprechend, dass mich die Gesellschaft so akzeptiert, genau wie ich natürlich jede Frau akzeptiere, die das Tuch nicht trägt.“ Eigentlich ist es nicht schwierig. Eigentlich.
Reinbold
In Wirklichkeit ist es sehr schwierig. Aber ich höre, dass eine flexible Lösung keine Möglichkeit ist. Wenn man sich entschieden hat, hat man sich entschieden, und man kann dann nicht sagen – oder du könntest dann nicht sagen: „Gut, wenn ich unbedingt Lehrerin werden will, dann mache ich das eben so. Ich trage das Tuch so weit, wie es geht. Und wo es juristisch nicht geht, trage ich es eben nicht.“ Das wäre ja auch eine Möglichkeit, daranzugehen, ganz pragmatisch.
Zeitun
So nicht, das würde ich nicht machen. Ich würde mein Kopftuch nicht ablegen, um die Chance zu bekommen, als Lehrerin arbeiten zu dürfen. Aber wenn ich zum Beispiel als Krankenschwester oder Krankenpflegerin arbeiten möchte, dann ist mir natürlich klar, dass ich zum Beispiel mit so einem Kopftuch, wie ich es jetzt trage, nicht arbeiten kann. Da muss man natürlich flexibel sein. Oder wenn ich als Köchin arbeite, da kann ich so ein Tuch auch nicht tragen. Aber an sich zu sagen, dass das Kopftuch ein Hindernis ist, das finde ich traurig, weil es mir letztendlich die Rechte nimmt, die ich habe.