Zum Gespräch: Streit um den Islam: Brauchen wir eine christlich-jüdische Leitkultur?
Religionen im Gespräch 1, 2012
Gäste:
Ralf Meister, Landesbischof, Evangelisch-lutherische Landeskirche Hannovers
Jonah Sievers, Landesrabbiner, Landesverband der Jüdischen Gemeinden von Niedersachsen
Avni Altiner, Landesverband der Muslime in Niedersachsen e.V. (Schura), Vorsitzender
Moderation: Prof. Dr. Wolfgang Reinbold, Evangelisch-luth. Landeskirche Hannovers.
Reinbold
Herzlich Willkommen zur Reihe „Religionen im Gespräch“. Heute mit dem Thema „Streit um den Islam. Brauchen wir eine christlich-jüdische Leitkultur?“
Ich beginne mit einem Zitat: „Der Islam ist Teil Deutschlands und Teil Europas. Er ist Teil unserer Gegenwart und er ist Teil unserer Zukunft.“ Das sagte vor sechs Jahren der damalige deutsche Innenminister Wolfgang Schäuble in seiner Regierungserklärung zur Eröffnung der deutschen Islamkonferenz. Das Wort ist damals in der allgemeinen Diskussion kaum wahrgenommen worden. Viel prominenter geworden sind die Worte des Bundespräsidenten vier Jahre später: „Das Christentum gehört zweifelsfrei zu Deutschland. Das Judentum gehört zweifelsfrei zu Deutschland. Das ist unsere christlich-jüdische Geschichte. Aber der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland.“ So Christian Wulff im Herbst 2010. Der heutige Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich hat das seinerzeit so kommentiert: „Um das klar zu sagen: Die Leitkultur in Deutschland ist die christlich-jüdisch-abendländische Kultur. Sie ist nicht die islamische und wird es auch in Zukunft nicht sein.“
Mit diesen Zitaten liegt die Frage auf dem Tisch: Gehört der Islam zu Deutschland? Haben wir eine christlich-jüdische Leitkultur? Brauchen wir eine solche Leitkultur, in die sich jedermann einzufügen hat, auch der Muslim? Kann man als Muslim ein guter Deutscher sein, ohne der eigenen Kultur abzusagen? Das sind Fragen, die intensiv und zuweilen hitzig diskutiert werden. Und ich freue mich, heute Abend zum Beginn unserer Veranstaltungsreihe drei Repräsentanten der in den Zitaten angesprochenen Religionen begrüßen zu dürfen. Ich begrüße herzlich den Landesbischof der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers, Ralf Meister. Ich begrüße herzlich den Landesrabbiner, Jonah Sievers. Und ich begrüße herzlich den Vorsitzenden eines der großen Verbände der Muslime in Niedersachsen, der Schura, Avni Altiner. Mein Name ist Wolfgang Reinbold. Ich bin der Beauftragte für den christlich-muslimischen Dialog im Haus kirchlicher Dienste der evangelischen Landeskirche. Meine Rolle hier heute Abend ist die des Moderators.
Herr Meister, Sie waren, bevor Sie in Hannover Bischof wurden, einige Jahre Generalsuperintendent in Berlin. In Ihrer ersten Predigt in der Marktkirche haben Sie anlässlich Ihrer Einführung zum Bischof gesagt, sie hätten wahrgenommen, dass Niedersachsen in den letzten 50 Jahren ein wunderbares Beispiel für jüdisch-christliche Ökumene geworden ist. Und dann haben sie den Wunsch angeschlossen: „Sorgen wir dafür, dass es auch in der Begegnung mit dem Islam zu einem solchen Beispiel wird“. Wie erleben Sie in Ihrem ersten Amtsjahr das Verhältnis von Christen, Juden und Muslimen in Niedersachsen?
Meister
Ich erlebe es außerordentlich positiv. Es hat eine ganze Reihe von Begegnungen gegeben in diesen ersten zehn Monaten, in denen ich Gespräche mit Vertretern islamischer Gemeinden geführt habe. Dadurch haben Herr Altiner und ich uns schon nach zwei bzw. drei Monaten kennengelernt, und so habe ich auch gehört, wie die Situation von den islamischen Gemeinden wahrgenommen wird. Was sind die Fragen, die Muslime stellen? Was sind die Themen der islamischen Gemeinschaften hier in Niedersachsen? Das war für mich sehr aufschlussreich.
Das Wort, das Sie zitieren, aus meiner ersten Predigt in der Marktkirche, das ist zum Beispiel dadurch angeregt, dass wir an der Universität Osnabrück in der Ausbildung von Religionslehrern für den Islamunterricht in Deutschland ganz weit vorne mitspielen. Ich finde, das ist ein Geschenk, als Landesbischof in ein Bundesland zu kommen, wo es an einer Schlüsselstelle gut voran geht. Bisher sind meine Erfahrungen durchgehend positive.
Reinbold
Herr Altiner, sie leben dreißig Jahre in Deutschland und sind seit fast zehn Jahren Vorsitzender der Schura. Wie geht Ihnen das, wenn sie den einen Bundesinnenminister im Jahre 2006 sagen hören, der Islam ist Teil der Gegenwart Deutschlands und Teil seiner Zukunft, und dann sagt ein anderer Innenminister fünf Jahre später das Gegenteil, nämlich: wir haben eine jüdisch-christliche-abendländische Leitkultur?
Altiner
Es ist wie in der Politik auch bei uns religiösen Menschen ein gewisser Nachholbedarf da. Seit 50 Jahren leben hier Migranten. Aber erst vor sechs hat die Bundesregierung erklärt, dass die Bundesrepublik Deutschland ein Einwanderungsland ist. Bis dato galten wir als „Gastarbeiter“. Jetzt versucht man, den Begriff „Gastarbeiter“ nicht mehr zu benutzen. Man redet von „Migranten“, von „Integrieren“, „Mitwirken“. Ich denke, was Herr Schäuble gesagt hat, entspricht der Wahrheit.
Wir müssen auch fairer Weise feststellen: Die „jüdisch-christliche Leitkultur“ ist ein neuer Begriff. Sie werden diesen Begriff vor 60 Jahren noch nicht finden. Jeder Wissenschaftler wird Ihnen sagen, dass noch vor 80, 90 Jahren in Europa in vielen Ländern Juden verfolgt wurden. Und deshalb können wir von einer christlich-jüdischen Leitkultur nicht sprechen. Aber wir können heute von einer christlich-jüdisch-islamisch gegenseitig angereicherten Kultur sprechen, weil alle voneinander etwas nehmen und zu einer positiven Kultur entwickeln.
Reinbold
Herr Sievers, Herr Altiner hat die Rolle der Juden angesprochen. Die Juden sind ja gewissermaßen eingebaut in das Fundament der Republik mit diesem Zitat. Wie sehen Sie das als Landesrabbiner?