Faridi
Es gibt zwar mündliche Traditionen, Erzählungen und Berichte, aber sie haben keine Autorität, keine Gültigkeit. Es zählt nur das, was geschrieben ist. Die Gefahr besteht insofern nicht, dass man die Schrift missbraucht.
Dem ist schon dadurch ein Riegel vorgeschoben, dass ich zwar die Schriften auslegen darf und soll – als Bahai werden wir alle dazu ermutigt, uns in die Schriften zu vertiefen und daraus eigene Erkenntnisse zu gewinnen. Aber das, was ich daraus entnehme, das ist nur für mich. Ich kann mich darüber unterhalten, ich kann es erzählen, ich kann darüber schreiben. Aber es gilt nur für mich, nicht für andere. Ich darf nicht aufgrund meiner Erkenntnisse irgendeine neue Richtung des Bahaitums eröffnen oder eine Gruppe um mich bilden. Diese Regel ist immer auch ein Schutz der Bahai-Religion gewesen. Es gibt nur eine Bahai-Religion und nicht verschiedene Richtungen. Zwar hat es Versuche gegeben, die Religionsgemeinschaft aufzuteilen. Aber das ist bislang immer misslungen.
Reinbold
Ich stelle mir das ziemlich kompliziert vor, wenn jeder die Texte für sich deutet. Gibt es nicht irgendwo eine zentrale Instanz, die die Dinge vorgibt? Wie viele Bahais gibt es auf der Welt?
Noltenius
Etwa 7 – 8 Millionen.
Reinbold
Wenn jeder dieser 7 – 8 Millionen die Bücher auslegt und diese Auslegung nur für ihn gilt, wird es dann nicht unübersichtlich?
Noltenius
Zuerst einmal muss man sagen: Die Bahai-Religion ist die einzige bzw. die erste Religion, die die Schriften des Offenbarers im Original hat.
Reinbold
Von ihm selbst geschrieben?
Noltenius
Von ihm selbst geschrieben oder von Sekretären. Die Schriften sind von Baha’ullah autorisiert. Es gibt auch Schriften des Bab, ebenfalls im Original. Das ist schon etwas sehr Besonderes.
Antes
Religionsgeschichtlich ist es nicht einmalig. Das gab es schon bei Mani (ca. 216–276), der allerdings das Pech hatte, dass die von ihm gegründete Weltreligion unterging.
Noltenius
Zu Ihrer Frage der Auslegung: Herr Faridi hat das gerade erwähnt. Baha’ullah hat seinen Sohn Abdul Baha dazu autorisiert, seine Schriften zu erklären und auszulegen. Danach wurde der Urenkel zur Interpretation ermächtigt. Aber nach dem Tod dieses Urenkels Shoghi Effendi ist es niemandem erlaubt, die Schriften auszulegen.
Wir haben sehr, sehr viele Bücher, dazu Auslegungen. Wir haben all das im Originaltext, der in Hunderte von Sprachen übersetzt wurde. Es ist sehr wichtig, dass jeder Bahai bzw. jeder Mensch es in seiner eigenen Sprache lesen kann. Es geht nicht darum, dass am Ende sieben Millionen verschiedene Interpretationen da sind. Sondern darum, dass jeder Mensch auf seinem Stand und mit seinem Verständnis den Weg zur Wahrheit gehen kann. Es sind ja auch viele mystische Texte dabei. Baha’ullah sagt selbst, dass wir uns für die Meditation sehr viel Zeit nehmen sollen.
Reinbold
Es gibt keine Instanz, die darüber wacht, dass die Auslegung in der Bahaigemeinde auch in die richtige Richtung geht?
Noltenius
Es gibt eine Instanz, die darüber wacht, dass keine Gruppierungen entstehen. Aber ansonsten steht es jedem frei zu sagen: „Ich verstehe das so und so, und für mich bedeutet das dies und das“.
Zum Beispiel: Es gibt Gebote. Zum Beispiel das Verbot, Alkohol und berauschende Mittel zu sich zu nehmen. Ich finde, das ist sehr einfach. Entweder man trinkt Alkohol, oder man trinkt Alkohol nicht. Sehr viel schwieriger auszulegen ist zum Beispiel das Verbot der üblen Nachrede. Manchmal muss man ja auch mit einem Anderem etwas besprechen, bei dem auch negative Dinge über einen Dritten zur Sprache kommen. Dabei kann es sein, dass die negativen Dinge in diesem Zweiergespräch bleiben. Es kann aber auch sein, dass das schon üble Nachrede ist. Verstehen Sie, was ich meine? Das ist etwas, was jedem selbst überlassen ist, das für sich zu leben und zu lernen.
Reinbold
Es gibt aber doch das sogenannte „Universale Haus der Gerechtigkeit“ in Haifa. Hat dieses Haus keine steuernde, keine irgendwie kontrollierende Funktion?
Noltenius
Das Universale Haus der Gerechtigkeit ist die Führungsinstitution der Bahai seit dem Jahr 1963. Es nimmt zu seinen Entschlüssen und seinen Entscheidungsfindungen immer Bezug auf die Originalschriften bzw. auf die Interpretationen von Shoghi Effendi und Abdul Baha. Viele Menschen stellen auch Fragen ans Universale Haus. Es gibt seine Antworten auch zusammengefasst, und sie werden verbreitet. Das Universale Haus sagt nie: „Das und das ist das Richtige“, wenn es nicht völlig eindeutig ist. Aber dann würde man ja wahrscheinlich gar nicht fragen. Das Universale Haus gibt einem Hinweise, wo man die richtige Führung findet.
Reinbold
Herr Faridi, ich frage einmal frech: Und was passiert, wenn ich das doof finde, was die mir schreiben? Gibt es Probleme, wenn ich eine Lehrmeinung des Universalen Hauses ignoriere oder mich gar dagegen stelle?
Faridi
Das Universale Haus ist eigentlich für zwei Bereiche zuständig: Für die Führung der Gemeinde und für die Gesetzgebung, und zwar bei Sachverhalten, die entweder nicht direkt im Buch erwähnt sind oder bei Gesetzen, die es bereits gibt, deren genaue Ausrichtung aber unklar ist. Manche Gesetze sind ja wie ein Skelett, das man erst mit Fleisch füllen muss. Und es gibt Bereiche, die vielleicht erst in 100 Jahren aktuell werden. Für diese Bereiche ist das Universale Haus zuständig.
Reinbold
Ich habe mir das heiligste Buch einmal angesehen. In ihm stehen unter anderem auch Regeln, die mit dem, was in unseren deutschen Gesetzen steht, nicht übereinstimmen. Es gibt zum Beispiel die Todesstrafe, und sie gilt, wenn ich das recht gelesen habe, auch für Brandstifter. So steht es im Kitab-i-aqdas. Da stellt sich mir natürlich die Frage: Muss man das als Bahai dann machen? Wie gehen Sie mit solchen Geboten um?
Faridi
Wenn man das heute als Buch gedruckte Kitab-i-aqdas in die Hand nimmt, dann stellt man fest, dass das eigentlich Kitab-i-aqdas nur einen kleinen Teil des Buchs ausmacht, der Rest sind Erläuterungen. Die Strafgesetze des Kitab-i-aqdas muss man im Kontext der fortschreitenden Gottesoffenbarung sehen. Wir wissen, dass die Gesetzgebung in den fünf Büchern Mose sehr, sehr streng war. Es gibt etliche Fälle, auf die die Todesstrafe steht. In diesem Kontext der Gesetzgebung in der Bibel und auch des Korans ist die Gesetzgebung der Bahai-Religion zu sehen.
Reinbold
Wird diese Gesetzgebung weiterentwickelt? Muss man tun, was dort steht? Oder kann man sagen: „Das ist ein 150 Jahre alter Text, und wir entwickeln ihn heute als Bahai weiter und machen etwas anderes damit“?
Faridi
In diesem Fall steht es selbst im Buch. Sie haben vollkommen Recht. In der Bahaigesetzgebung steht auf heimtückischen Mord und schwere Brandstiftung die Todesstrafe. Allerdings geht es hier um eine Normgebung. Denn gleich an derselben Stelle steht, dass eine lebenslängliche oder eine andere Strafe auch in Gottes Sinne wäre. Es ist nicht so streng, dass praktisch jeder, der mordet oder Brand stiftet, gleich zu Tode kommt. Es ist in erster Linie eine Normgebung.
Damit macht Baha’ullah deutlich, wie wichtig ein menschliches Leben ist. Derjenige, der vollkommen bewusst einem anderen das Menschenrecht auf Leben nimmt, muss wissen, was er tut, was er getan hat. Die Wichtigkeit des menschlichen Lebens wird hervorgehoben. Und die harte Regel wird durch den Zusatz, dass auch eine lebenslängliche oder eine andere Strafe angenehm wäre, relativiert. Wir müssen das nicht irgendwie ändern.
Reinbold
Frau Noltenius, es gibt in Büchern und auch im Internet einige harte Stimmen von Aussteigern, die sagen: „Die Bahai wollen die Welt steuern! Seht euch diese Gesetze an – das können wir so nicht machen! Das führt uns in eine merkwürdige Welt hinein.“
Noltenius
Erst einmal ist zu sagen, dass diese Gesetze aus dem Kitab-i-aqdas für die Bahai noch gar nicht verbindlich sind. Die weltweite Bahaigemeinde wird niemals Gesetze erlassen können, weil sie sich immer dem Gesetz der Länder, in denen die Gemeinde lebt, unterwirft. Sie wird nicht gegen eine Regierung irgendwelche Gesetze durchsetzen können. Das geht gar nicht, und das wollen wir auch nicht.
Solche Gesetze wie das angesprochene gelten für eine zukünftige Gesellschaft, die wir uns heute noch gar nicht vorstellen können. Für eine Gesellschaft, in der die Menschen sich freiwillig entschlossen haben, nach den Grundsätzen Baha’ullahs zu leben. Die Grundsätze Baha’ullahs sind: die Einheit aller Menschen, die Gleichberechtigung aller Menschen, der Abbau von Vorurteilen jeder Art, Erziehung und Bildung für alle, Gerechtigkeit. Gerechtigkeit ist das zentrale Prinzip. Und Gerechtigkeit bedeutet eben nicht nur Barmherzigkeit, sondern dass Institutionen auch bestrafen müssen. Ich selber kann mir das heute auch noch gar nicht vorstellen.
Reinbold
Ist es für Sie eine Art Utopie? Ein Gesetz für eine zukünftige Welt, wie sie einmal werden könnte?
Noltenius
„Utopie“ hat so ein bisschen den Beigeschmack, dass das ein Traum ist, der sowieso nie wahr werden wird. Als Bahai bin ich sicher, dass es zu einer gerechten Gesellschaft kommen wird, zu einer friedlichen Gesellschaft, zu einer Gesellschaft, in der diese Prinzipien einmal Fuß fassen und die Menschen sich danach richten werden. Aber, wie gesagt: Das wird noch sehr lange dauern. Ich kann es mir heute noch gar nicht vorstellen. Da sind noch so viele Schritte zu tun, und sicher wird es nicht das Erste sein, die Strafgesetze des Kitab-i-aqdas durchzusetzen.
Reinbold
Herr Antes, es gibt Leute, die den Bahai vorwerfen, sie seien „fundamentalistisch“. Ist da aus Ihrer religionswissenschaftlichen Sicht etwas dran?
Antes
Ich glaube nicht. Es sei denn, man bezeichnet als „Fundamentalisten“ alle die, die sich an den Grundtexten und an den Aussagen der Religionen orientieren. Wenn „Fundamentalismus“ aber eine Art von eingeschränkter Wahrnehmung mit einem rechthaberischen Gehabe bezeichnet, dann trifft das für die Bahai nicht zu. Sie sind offen für Dialog. Sie haben natürlich eine Überzeugung, die davon geprägt ist, dass sie von der Einheit aller Religionen ausgeht und von der Einheit der Menschheit. Aber sie sind weder gefährlich noch fundamentalistisch. Das kann man, glaube ich, so sagen.
Reinbold
Frau Noltenius, ein Punkt, der bei den Kritikern ein große Rolle spielt, ist die Frage, wie es bei den Bahai um die Gleichberechtigung von Mann und Frau steht. Sie haben vorhin gesagt: die Gleichberechtigung von Mann und Frau ist sehr wichtig. Das klang so, als wäre Baha’ullah im Grunde ein Freund der 50-Prozent-Frauenquote. Nun liest man aber, dass im Universalen Haus der Gerechtigkeit nur Männer sitzen. Da fragt sich natürlich der distanzierte Betrachter: Wie geht denn das zusammen?
Noltenius
Das kann ich Ihnen auch nicht erklären. Ich kann das auch nicht verstehen. Es gibt auch keine mir bekannte schlüssige Erklärung.
Ich habe selber einmal ein ehemaliges Mitglied des Universalen Hauses (also einen Mann) darüber sprechen hören vor einigen Jahren. In seiner Rede hat er alle möglichen Argumente gebracht und dann gesagt: „All das kann es auch nicht sein“. Er hat gesagt, er verstehe es auch nicht.
Es gibt diese Regel, weil Baha’ullah sie festgeschrieben hat. Es ist offenbartes Wort Gottes für uns als Bahai. Deswegen können wir daran nicht rütteln. Ich jedenfalls sehe das so.
Reinbold
Das klingt nach einer harten Nuss …
Noltenius
Das ist sicher auch für viele eine harte Nuss. Auch für mich war es so.
Ein Punkt, der für mich entscheidend ist, ist der folgende: Das Universale Haus ist zwar die höchste Körperschaft, die auch Gesetze erlassen kann, wie wir gehört haben. Aber es geht hier um einen Begriff von „Macht“ oder „höchster Körperschaft“, den wir bisher gar nicht kennen oder noch nicht erlebt haben. Macht ist hier wirklich denjenigen Menschen übertragen, die die größten Diener der Gemeinde sind. Das ist zwar etwas, was im Grunde auch in jedem Staat bzw. in jeder Herrschaftsart so sein sollte, das schöne Wort „Staatsdiener“ bringt es auf den Punkt. Aber wir erleben es ganz anders. Macht wird immer mehr missbraucht.
Zur Verhinderung des Missbrauchs von Macht hat die Bahai-Religion einige Bremsen eingebaut. Zum Beispiel kann eine Entscheidung niemals von einem einzigen Menschen getroffen werden, sondern immer nur von einem Gremium. Ein solches Gremium besteht bei den Bahai immer aus neun Personen, seien es nun die „Geistigen Räte“ vor Ort oder eben das Universale Haus. Im Übrigen kenne ich einige Gremien in der Bahaigemeinde, in denen die Frauenquote 70 – 80 Prozent beträgt.
Reinbold
Sie sagen also: Es hat Gründe. Aber eigentlich verstehe ich es nicht. Fragen wir noch Herrn Faridi. Wie sehen Sie das?
Faridi
Ich habe auch darüber nachgedacht und bin auf Folgendes gestoßen: Wenn wir uns die heiligen Bücher der Religionen ansehen, die Tora, die Evangelien und den Koran, dann lesen wir unzählige Namen von Offenbarern – aber kein einziger von ihnen ist eine Frau. Alle Propheten sind Männer. Insofern könnte man auch Gott die Frage stellen, wo denn da die Frauenquote bleibt.
Reinbold
Ich fürchte, mit diesem Argument würden Sie in gewissen Kreisen auf heftigen Widerspruch stoßen …
Faridi
Mag sein. In Wirklichkeit gibt es Sachverhalte, die im Bereich des Rechts anzusiedeln sind und andere im Bereich der Pflichten.
Das Recht an einer Beteiligung in bestimmten Gremien hat auch der Mann nicht. Ich habe nicht das Recht, Mitglied im Universalhaus zu sein. Es gibt bei uns nicht dieses Modell des Karrieremachens, dass wir klein anfangen und dann immer weiter bis hin zum Universalen Haus. Die Mitgliedschaft im Universalen Haus ist für uns die höchste Pflicht, die man erfüllen kann. Es ist auch die drückendste Last. Im Grunde genommen gilt für alle Bereiche und Institutionen: Niemand hat das Recht darauf. Ich kann nicht darauf bestehen und mich wehren, wenn es mir verweigert wird.
Reinbold
Das heißt, man wird gewählt, weil man Ansehen hat in den Gemeinden?
Faridi
Ja, ohne Propaganda und ohne Kandidatur. Es wird derjenige gewählt, von dem man glaubt, dass er derjenige ist, der am besten dienen kann.
Ein Recht ist demgegenüber das Recht auf Bildung. Es ist die Aufgabe der Gemeinschaft und der Eltern, für die Bildung der Kinder zu sorgen. Hier geht es wirklich um Recht. Und da werden die Frauen bevorzugt, wie wir vorhin gehört haben.
Reinbold
Letzte Frage: Sind all das Ehrenämter? Oder bekommt man, wenn man im Universalen Haus der Gerechtigkeit sitzt, ein großes Honorar?
Noltenius
Ganz sicher kein großes Honorar. Für die mehreren hundert Angestellten am Bahai-Weltzentrum in Haifa gibt es Kost und Logis und ein kleines Taschengeld. Das wird alles durch Spenden bezahlt. Und es weiß auch niemand, ob der ein oder andere das Geld womöglich gar nicht annimmt und alles aus eigener Tasche bezahlt. So oder so: Viel Geld verdienen kann man damit nicht.
Reinbold
Damit sind wir schon am Ende unserer Diskussion. Wir sind gar nicht zu den praktischen Dingen gekommen, die ich Sie gern noch gefragt hätte. Da müssen wir irgendwann noch einmal eine zweite Runde machen. Für heute erst einmal Ihnen allen vielen Dank für das Gespräch!
(Redaktion: Wolfgang Reinbold)