Mitschrift: Christliches Abendland? (Teil 2)

Zum Gespräch: Christliches Abendland? Die kulturellen Wurzeln Europas und was wir dafür halten


Mitschrift, Teil 2

Reinbold 
Ich fasse zusammen: Die Christen und die Juden und einige Zoroastrier bringen das wissenschaftliche Erbe der Antike in die arabische Welt. Und von dort kommt es dann zurück in die spanische, europäische Kultur und bringt die europäische Universität hervor, in Paris und all den anderen Orten, wo sie dann gegründet wird. 

Borgolte 
Ergänzend kann man noch sagen, dass auch christliche Syrer und Perser an den Übersetzungen beteiligt waren, es sind nicht nur arabische Übersetzungen, die die Grundlage der lateinischen Fassungen bilden. Was das Haus der Weisheit in Bagdad anbetrifft, so würde ich es eigentlich nicht als „Universität“ bezeichnen. Es ist eine Abteilung in der Bibliothek gewesen. Man darf es sich so vorstellen, dass die Muslime die fremden Wissenschaften geduldet haben, aber nicht im offiziellen Lehrkanon. Die Lehrer, die zum Teil Muslime waren, haben vielmehr in ihrer Freizeit die fremden Wissenschaften gelehrt, auf den Fluren der Bibliothek, nicht im Hörsaal.

Das ist ja faszinierend, dass die Araber in Bagdad dieses riesige Übersetzungswerk hergestellt haben, damit aber nichts angefangen haben, während die Übersetzungen vom Arabischen ins Katalanische und ins Lateinische in Spanien und Sizilien sehr schnell durch die westeuropäischen Wissenschaftler rezipiert wurden. Man kann also überhaupt nicht bestreiten, dass die christlichen Gelehrten – ich bin sonst nicht immer dafür, die christlichen Gelehrten hochzujubeln, aber das muss man jetzt einmal deutlich sagen – die Universität als eine Lehreinheit geschaffen haben, dass sie sie erfunden haben. Die Universität gibt es in keiner anderen Kultur als im, sage ich jetzt einmal, christlichen Abendland. Es ist die einzige Form einer genossenschaftlichen Lehre. Lehrer und Schüler sind gleichberechtigt und arbeiten gleichberechtigt über den Büchern. Das haben die Araber nicht geschafft. 

Schreiner 
An einer Stelle möchte ich einen kleinen Widerspruch anmelden. Sie sagen, dass die Araber mit der übersetzten Literatur nicht viel angefangen haben. Ich meine, dass durchaus auch eine Auseinandersetzung mit den Inhalten stattgefunden hat, schon von der Frühzeit an, etwa in der Philosophie und in der Medizin. Wenn Sie sich zum Beispiel die Rezeptionsgeschichte Galens anschauen, des großen Arztes der Antike. Er wurde ins Arabische übersetzt und wurde das Vorbild der arabischen Medizin. Seine Werke sind nicht nur übersetzt, sondern auch kommentiert worden, immer wieder über die Jahrhunderte. Ähnlich ging es beispielsweise den mathematischen Werken des großen Euklid. Auch sie sind unendlich oft kommentiert worden. 

Borgolte 
Das ist so. Allerdings sprechen wir jetzt über die Wissenschaft, nicht über die Lehre. Mein Punkt ist: Es gab kein Forum, diese arabische Wissenschaft in der Lehre zu verbreiten. Erst die Universität hat das ermöglicht. 

Reinbold 
Das ist sehr interessant. Wenn ich es einmal auf die moderne Universität übertrage, dann heißt das ja: Ich mache all das nicht in meiner normalen Vorlesung, mit der ich mein Geld verdiene. Sondern ich mache es nebenher, aus reinem Interesse. Ich sitze nachts und übersetze noch ein bisschen, weil ich Lust dazu habe …  

Borgolte 
Es war die Liebe zur Wissenschaft, der amor scientiae, wie die Lateiner sagen, der dazu geführt hat, dass Iren und Engländer nach Spanien gereist sind, um Aristoteles kennenzulernen. Und dann sind sie von dort weitergereist bis nach Nordafrika, um die indischen Mathematiker kennenzulernen. Und dann mit Bücherkisten voll nach England zurückgereist. 

Diese unglaubliche Mobilisierung der Wissenschaft im 12. und 13. Jahrhundert, die die Grundlage der Universitäten gewesen ist, betraf alle drei Religionen. Man spricht ja davon, dass die jüdische säkulare Wissenschaft in diesem Zusammenhang erst erfunden worden ist, genauso wie die westliche christliche Wissenschaft. Grundlage all dessen ist die unglaubliche Mobilisierung.

Diese Mobilisierung hängt mit bestimmten sozialgeschichtlichen Erscheinungen zusammen, etwa mit der Verstädterung, dem wirtschaftlichen Aufstieg, der Bevölkerungsvermehrung, und so weiter. Die Mobilisierung des Handels und die Pilgerschaften haben dazu geführt, dass Leute aus Liebe zur Wissenschaft die Heimat verlassen haben. Sie sind nicht mehr wie früher aus Liebe zu Gott ins Kloster gegangen, sondern aus Liebe zur Wissenschaft gereist über viele tausend Kilometer. Das ist ein Phänomen, das wir in allen drei Religionen feststellen. Bei den Muslimen lag das ohnehin nahe, da sie ja die Reise nach Mekka antreten mussten. Sie waren sowieso viel mobiler als die Christen. Sie müssen pilgern, während es die Christen und die Juden nicht müssen, obwohl sie es natürlich weitgehend tun. Das schlägt um in dieser Zeit. 

Schreiner 
Noch eine Fußnote dazu. Dieser Aufschwung der Wissenschaft wäre nicht denkbar gewesen ohne die Erfindung des Papiers. Die Araber haben im Jahr 751 die Chinesen besiegt in einer Schlacht am Talas, das ist heute etwa der westliche Teil von Usbekistan. Bei dieser Gelegenheit sind sie zum ersten Mal mit der Herstellung von Papier in Berührung gekommen, das die Chinesen ja erfunden hatten. Die Araber haben das sofort übernommen und schon fünf Jahre später wurde in Samarkand die erste arabische Papierfabrik gegründet, in der man Papier billig herstellen konnte aus Stoff und allen möglichen anderen Fetzen. Man konnte es billig herstellen und damit das Wissen viel schneller verbreiten als zuvor mit Pergament oder auf sonst irgendeine Weise. Die Araber haben die Bedeutung des Papiers sehr schnell erkannt, und dann breitete sich das Papier in rasantem Tempo aus bis nach Marokko. Und 1144 haben die Araber dann im Süden der iberischen Halbinsel, in Xativa, die erste Papiermühle auf europäischem Boden gegründet.  

Auf diese Weise konnte man das Wissen schnell verbreiten. Wenn Sie sich vorstellen, wie man früher in den Schulen gearbeitet hat: Einer diktiert, und fünf oder sechs Leute schreiben. Da konnte man zum gleichen Zeitpunkt sechs verschiedene Ausgaben eines Textes herstellen. Das war natürlich für die Verbreitung des Wissens von enormer Wichtigkeit. Die ganze Übersetzungstätigkeit hätte nie diese Ausstrahlung gehabt, wenn man kein Papier gehabt hätte, um das neue Wissen zu verbreiten. 

Reinbold 
Das Bild, das jetzt entstanden ist, ist das einer ungeheuer spannungsreichen Geschichte, bei der sich Christen, Juden und Muslime gegenseitig beeinflussen. Üblicherweise höre und lese ich etwas anderes. Da geht es meist um ein Gegeneinander, „der Islam“ hier, „das Abendland“ da. Ein berühmtes Beispiel ist die Schlacht in Tours in Südfrankreich im Jahre 732. Der Ansturm des Islams sei dort aufgehalten worden, heißt es oft. Wie halten Sie es damit? Ist das ein falsches Bild?

Borgolte 
Diese Schlacht hat stattgefunden. Sie ist erstaunlicherweise sogar in England fast zur selben Zeit bemerkt worden, was nicht selbstverständlich ist. Die Benennung des Siegers der Schlacht als Karl „Martell“, das heißt: Karl, der Hammer, geht darauf zurück.

Allerdings weiß die Wissenschaft, dass die Schlacht in ihrer Zeit relativ bedeutungslos war. Die Exkursionen der Muslime von Spanien aus nach Gallien bzw. ins Frankenreich haben damit nicht aufgehört. Vor allem aber ist es falsch anzunehmen, dass damit eine Expansionsabsicht verbunden gewesen wäre. Die Muslime wollten plündern. Sie hatten keineswegs die Absicht und hätten dazu auch gar nicht die Möglichkeit gehabt, ihr Territorium nach Gallien bzw. nach Frankreich, wie wir heute sagen, auszubreiten. 

Reinbold 
Sie wollen Geld, sie wollen plündern, sie wollen nicht Europa besetzen und die Fahne des Halbmonds aufrichten …

Borgolte 
Der junge Jakob Burckhardt hat in seiner ersten Berliner Schrift als Student über diese Schlacht geschrieben und dabei die Horrorvorstellung zum Ausdruck gebracht, dass die grüne Fahne des Propheten auf dem Kölner Dom geweht hätte, wenn diese Schlacht verloren gegangen wäre. Das ist abwegig.  

Reinbold 
… aber eine verbreitete Vorstellung …

Borgolte 
Ja, eine verbreitete Vorstellung. Um auf die Frage zurückzukommen, warum wir dieses Bild brauchen, warum es immer wieder aktualisiert wird: Ich glaube, es hängt entscheidend damit zusammen, dass viele Zeitgenossen ohne ein historisch begründetes Identitätsbewusstsein nicht leben können. In einer Zeit der Globalisierung, in der jeder Mensch die kulturelle Vermischung hautnah erlebt, scheint es notwendig zu sein, scheint es vielen Menschen ein Bedürfnis zu sein, ihre Identität zu klären – und dazu gehört natürlich auch, das Eigene vom Fremden abzugrenzen. Diese Klärung kann in verschiedener Weise geschehen. Sie kann reflektiert geschehen oder so, dass Vorurteile ein große Rolle spielen, wie es bei PEGIDA ganz offensichtlich der Fall ist.

Ich glaube ohnehin, dass Religionen in der Zeit der Globalisierung deshalb wieder so aktuell geworden sind, weil sie ein Identifikationspotential bieten, das viele vorher nicht gekannt und nicht gebraucht haben. Ich spreche jetzt nicht von religiösen Impulsen, die will ich gar nicht in Frage stellen. Aber diese merkwürdige, völlig unerwartete Wiederkehr der Religionen in Europa hängt aus meiner Sicht zweifellos damit zusammen, dass die Öffnung der Grenzen nach 1990 – also die sogenannte Globalisierung, die Vernetzung aller mit allen, die Gegenwärtigkeit aller Kulturen an einem Ort –, dass diese Öffnung einfach dazu führt, dass man sich neu über seine Herkunft klar werden muss. Und dann kommen solche Vorurteile natürlich wieder zum Tragen.

Die besondere Schwierigkeit in diesem Prozess besteht darin, dass es für diese Vorurteile natürlich eine gewisse historische Substanz gibt. Es ist ja nicht so, dass es nicht Gründe gäbe zu sagen: der Osten und der Westen unterscheiden sich. Natürlich tun sie das! Aber sie durchdringen sich eben auch, ebenso wie der Norden und der Süden. Es kommt darauf an, wie man die Akzente setzt. Und da ist die Geschichtswissenschaft ganz entscheidend gefordert, in diesem Prozess der Neuorientierung aufklärerisch mitzuwirken. 

Reinbold 
Es gab vor einiger Zeit einen großen Artikel in der Wochenzeitung „Die ZEIT“, in der so etwa das, was eben gesagt wurde, als „Kulturrelativismus“ bezeichnet wurde. Ich zitiere das einmal:

„Nun kann auch der Kulturrelativist die hässlichen Seiten des Islams nicht leugnen, und deshalb beeilt er sich, sobald er auf sie zu sprechen kommt, die hässlichen des Christentums hervorzuheben […]. Die brutalen islamischen Eroberungskriege, die keinen Ungläubigen am Leben ließen – waren die Kreuzzüge nicht ebenso brutal? Der intellektuelle und wissenschaftliche Rückstand des Islams – verdankt die abendländische Kultur ihre Entstehung nicht auch jenen Muslimen, die das griechische Denken ins verkümmerte Europa überliefert haben?“ Das haben Sie eben gerade betont. „Der Terror der Islamisten – erlebten die Christen in Zeiten der Inquisition nicht ähnlich Furchtbares?“ Und Ulrich Greiner setzt hinzu: „Kaum eines dieser Fantasmen hält strenger Überprüfung stand.“ (mehr)

Wie verhalten Sie sich zu diesem Vorwurf des „Kulturrelativismus“, Herr Schreiner? 

Schreiner 
Für mich ist das ein Angstbegriff. Jemand, der so redet, fühlt sich eigentlich zutiefst verunsichert und errichtet einen Abgrenzungswall um sich herum. Das ist nicht neu, diese Diskussion gibt es schon seit einigen Jahrzehnten.

Wenn Sie beispielsweise an das berühmte Buch von Sylvain Gouguenheim denken, „Aristoteles auf dem Mont Saint-Michel“ – Herr Borgolte, Sie schütteln den Kopf. Es ist ein höchst umstrittenes Buch, das aber Furore gemacht hat. Der Autor, ein französischer Mittelalterforscher, vertritt in diesem Buch die These, dass es eine Fiktion sei, wenn behauptet wird, die arabische Kultur hätte irgendeinen Anteil an der Ausprägung der europäischen Kultur gehabt. Er sagt: Die Gelehrten im europäischen Mittelalter haben immer aus den griechischen Quellen geschöpft, und sie haben nicht die arabische Vermittlung gebraucht. Das alles wird von ihm abgewertet. Er bestreitet nicht die Existenz von Übersetzungen, aber sie waren seines Erachtens belanglos. Die Leute, sagt er, haben immer direkt aus den Quellen geschöpft, und das sei typisch für die gelehrte Welt des europäischen Mittelalters. Demnach ist diese ganze arabische Assoziation, von der wir vorhin gesprochen haben, verzichtbar. Man braucht sie nicht, um die europäische Geschichte zu erklären. Sie einzuführen, würde den Wert der europäischen Kultur relativieren. Das ist die These von Gouguenheim. 

Borgolte 
Eine These, die er allerdings zurückgenommen hat, nachdem er widerlegt worden ist, weil er gravierende und geradezu blamable handwerkliche Fehler gemacht hat. In der deutschen Übersetzung gibt es ein Vorwort von zwei Kollegen, die ihn widerlegt haben. Und Gouguenheim schreibt dazu in einem Nachwort: Diese Kritik ist berechtigt. Und trotzdem hat er das Buch noch einmal zum Druck gebracht! Es ist grotesk, man kann den Mann nicht ernst nehmen. Die Franzosen haben sich blamiert, dass sie ihn so hochgejubelt haben. 

Reinbold 
Das Buch wird veröffentlicht mit zwei Vorworten, in denen steht, dass das Buch Quatsch ist? 

Borgolte 
Lesen Sie die deutsche Ausgabe! Er wird widerlegt, und trotzdem bringt er das Buch noch einmal heraus.

Aber zurück zum „Kulturrelativismus“: Das ist einerseits natürlich ein Diskriminierungsbegriff. Andererseits ist er in gewisser Hinsicht unvermeidlich. Als Historiker – und wir reden ja heute nicht über die kulturellen Werte Europas, sondern über die kulturellen Wurzeln Europas – kann ich nur sagen: Alles, was ist, hat Geschichte oder ist Geschichte. Ich kann es nicht ändern. Ich kann, wenn ich als Historiker urteile, keinen Wertunterschied machen zwischen verschiedenen monotheistischen Religionen. Ich kann das als gläubiger Mensch machen, aber als Historiker kann ich das nicht. Seit der Erfahrung des Historismus (von dem ich glaube, dass er andauert) ist es so, dass es nichts gibt in der Welt, das keine Geschichte ist. Das kann man nicht ändern. Das ist so. Es gibt keinen Standpunkt, der sich wissenschaftlich begründe ließe außerhalb der Geschichte. Das geht einfach nicht.

Reinbold 
Herr Schreiner, was sagen Sie denjenigen, die jetzt sagen: „Jetzt führen die Professoren da irgendwelche akademische Debatten. Mich aber sorgt jetzt und hier der Terror, der sich islamisch begründet, und da müssen wir doch unsere Werte dagegen stellen!“ Wie antworten Sie auf so eine grobe Frage?

Schreiner 
Nun, wer so eine grobe Frage stellt, der wird wahrscheinlich auch nur eine grobe Antwort erwarten. Aber das möchte ich nicht tun. Ich denke, das ist eine Diskussion, die zu nichts führt. Es ist, wie Sie, lieber Herr Borgolte, eben gesagt haben, eine geschichtliche Fragestellung. Und auf dem Boden der Geschichte zu argumentieren, das bedeutet zunächst einmal: zur Kenntnis zu nehmen, wie die Geschichte gelaufen ist.

Wir sind heute in der glücklichen Lage, nicht zuletzt durch das Internet, dass wir sehr schnell zu sehr vielen Quellen Zugriff haben und das verfügbare Wissen immens groß geworden ist. Das Problem, das wir haben, ist, dass zwar das verfügbare Wissen immens groß ist, aber das gewusste Wissen immer kleiner wird. Es entsteht die Schwierigkeit, mit dieser immensen Menge von verfügbarem Wissen umgehen zu müssen. So zu argumentieren, wie Sie es eben charakterisiert haben, das ist für mich Ausdruck einer Unsicherheit. Der Unsicherheit, mit einem verfügbaren Wissen umzugehen, mit dem man nicht mehr umgehen kann.  

Reinbold 
Herr Borgolte, das Bild, das Sie skizziert haben, findet sich ja auch nicht in den Schulbüchern, oder?

Borgolte 
Das ist so. Man kann hoffen, dass es noch in das Schulbuchwissen eingeht. Ich glaube auch, dass das sein muss. Denn ich kann mir nicht vorstellen, dass die Globalisierung umkehrbar ist. Wir werden zunehmend konfrontiert werden mit anderen Kulturen und Religionen. Dafür müssen wir unsere jungen Leute ausrüsten. Sie müssen in der Lage sein, sich in kritischer Weise – natürlich angeleitet durch Autoritäten, denen sie vertrauen, das würde ich immer sagen – einen Standpunkt zu erarbeiten, der zur Kenntnis nimmt, dass es andere Möglichkeiten der Lebensgestaltung und der Wertbezüge gibt. Insofern werden sich, wie ich glaube, die Schulbücher entsprechend ändern müssen. Das dauert natürlich. Man kann nicht erwarten, dass das in zehn Jahren geht, wie es in der Wissenschaft ging.

In der Wissenschaft der mittelalterlichen Geschichte hat sich das Klima in den letzten zehn Jahren vollkommen gewandelt. Heute sind die kreativsten jungen Professoren, die jetzt auf die Lehrstühle drängen, Leute, die häufig Arabistik und mittelalterliche Geschichte studiert haben. Sie, lieber Herr Schreiner, haben das schon in Ihrer Generation gemacht, da kann man Sie nur beglückwünschen! Aber da waren Sie sicher eine der wenigen Ausnahmen, während das heute eher eine Bewegung ist. Ich wundere mich selbst, wenn meine Schüler mir sagen, sie lernen Arabisch nebenher. Es gibt heute ein verbreitetes Bewusstsein, dass man mit einer auf das lateinische Mittelalter und das „Abendland“ fixierten Ausbildung auf Dauer nicht bestehen kann. Das ist eine verbreitete Stimmung, und ich glaube, sie trägt der Erfahrung der Globalisierung in vernünftiger Weise Rechnung.  

Schreiner 
Wenn ich noch eine Ergänzung hinzufügen darf: Wir sprechen oft von einem Gegensatz von „Europa“ und „dem Islam“, als wären das zwei homogene Welten, zwei Blöcke. Aber so ist es ja nicht und war es nie. Europa war nie eine homogene Gesellschaft, und der Islam war nie eine homogene Gesellschaft.

Nur als Fußnote: Im Jahr 922 gab es einen irakischen Kaufmann aus Bagdad, der im Auftrage seines Kalifen an den Hof der Wolgabulgaren reisen sollte, nachdem der Kalif gehört hatte, dass die Wolgabulgaren zum Islam übergetreten seien: Er solle doch bei Gelegenheit bitte einmal herausfinden, was das für Muslime geworden sind. Ibn Fadlan heißt der Mann, und er hat einen schönen Reisebericht darüber geschrieben. Und da schreibt er dann – wie soll ich sagen? – nicht ohne Hintersinn, dass diese Muslime, denen er begegnet, tatsächlich Muslime seien. Aber sie hätten doch ganz eigenartige Bräuche. Unter anderem, schreibt er, trinken sie Sachen, die wir nicht trinken dürfen. Und er habe versucht, sie von unserem Islam zu überzeugen – aber sie ließen sich nicht überzeugen.

Solche lokalen Prägungen, einen solchen Pluralismus gibt es auch innerhalb einer Religion. Das ist offensichtlich von allem Anfang an eine gegebene Tatsache – und zugleich ein Problem, und das ist bis heute so geblieben. Das Problem besteht in der Frage, wie man umzugehen hat mit solchem innerreligiösen Pluralismus. Eine Möglichkeit ist die Homogenisierung, die es immer wieder gegeben hat, man versucht, die Religion zu vereinheitlichen. Solche Versuche sind oft mit einem nicht unerheblichen Gewaltpotential verbunden, und das ist das, was uns heute Angst macht.

Was also tun, wie mit dieser Vielfalt umgehen? Das ist nicht so ganz einfach. Ich bin in dieser Hinsicht altmodisch. Ich glaube immer noch an die Möglichkeit einer Aufklärung über Bildung, die uns lernt, mit der Vielfalt umzugehen. Wir erleben ja angesichts der Fülle der Informationen den Zwang zur Reduktion. Es muss ganz schnell in Schwarz-weiß-Farben gemalt werden, damit das Bild verständlich ist. Nur ist das noch kein Bild. Schwarz und Weiß sind nur die Enden des Spektrums. Der größte Teil dazwischen sind Grauschattierungen. Das wahrzunehmen und damit umzugehen, das ist das Problem, das wir heute haben.

Nicht nur wir haben dieses Problem, sondern alle Seiten. Und da spielt natürlich das Studium der Geschichte eine ganz wichtige Rolle. Von daher ist es sehr erfreulich, dass sich das Koordinatensystem in der Geschichtswissenschaft offenbar verschoben hat. Dass jetzt auch andere Gesichtspunkte eine Rolle spielen, die von einem, wenn ich so sagen darf, westeuropäischen Zentrismus wegführen, der in der Tat ein ganz verfärbtes Geschichtsbild geliefert hat.

Lassen Sie mich noch ein zweites Beispiel im Nachgang zu den mittelalterlichen Übersetzungen liefern. Vielfach ist die Frage diskutiert worden, ob es Zufall ist, dass am Beginn und in den ersten Jahrzehnten der europäischen Aufklärung im 18. Jahrhundert ein nicht unerheblicher Teil der Werke der mittelalterlichen arabisch-jüdischen Aufklärung ins Deutsche, ins Englische, ins Französische, ins Spanische übersetzt worden sind. Viele der frühen Aufklärer, Rousseau, Diderot und Voltaire in Frankreich etwa, waren begeisterte Leser dieser Bücher. Sie haben sich von ihnen inspirieren lassen. Und wenn man Lessings berühmte Thesen zur Erziehung des Menschengeschlechts liest, stellt man fest, dass sie Anleihen bei Ibn Tufail nehmen, einem spanischen Araber des 12. Jahrhunderts, und seinem philosophischen Bildungsroman. Zum Teil zitiert Lessing ihn wörtlich. Das ist eine sehr interessante Geschichte, so dass man fragen kann: Wäre die europäische Geschichte in diesen Denkbahnen gelaufen, wenn der Denkanstoß nicht von dort gekommen wäre, aus Arabien?

Reinbold 
Der Impuls, sagen Sie, kam aus dem Osten?

Schreiner 
Das ist jedenfalls eine Frage, die man stellen kann. Wie gesagt: wenn ich mir allein anschaue, was übersetzt worden ist, was die Leute gelesen haben und was sie zitieren. Fritz Mauthner, in seiner berühmten Geschichte über den Atheismus im Abendland, war meines Wissens der erste, der darauf aufmerksam gemacht hat, dass es hier einen nicht übersehbaren Zusammenhang gibt. Dem muss man noch genauer nachgehen. Ich denke, es ist vielleicht nicht uninteressant, die Geschichte unserer europäischen Kultur und der europäischen Aufklärung einmal in diesem Kontext neu zu studieren. 

Reinbold 
Was Sie sagen, steht völlig quer zu den üblichen Bildern. Da ist es meist so, dass der Islam eine Aufklärung braucht, die wir längst hatten. 

Schreiner 
Der Hallenser Arabist Johann Fück hat im Jahr 1955 ein Büchlein geschrieben über die Geschichte der arabistischen Studien in Europa, übrigens zugleich eine wunderbare Kulturgeschichte Europas. Ich denke, Fück war weitsichtiger und prophetischer als mancher Zeitgenosse heute, denn er hat genau gesehen und beschrieben, welche kulturelle Bedeutung diese Rezeptionsprozesse hatten. Das muss man vertiefen, weiter führen, manches auch wieder neu entdecken, das vergessen, verloren ist. Ich denke, unser Bild von dem, was Europa ausmacht, auch und gerade den Reichtum Europas, wird sich dadurch erheblich wandeln und das Bild noch reicher machen, als es ohnehin schon ist. 

Reinbold 
Mit dem Stichwort „Europa“ bauen Sie eine Brücke zu meiner letzten Frage. Herr Borgolte, wir haben viel über den Begriff „Abendland“ gesprochen. „Europa“ ist ja auch so ein Begriff, den wir häufig verwenden, ohne genau zu wissen, was er eigentlich bedeutet. Wo kommt der Begriff her, und was bedeutet er ursprünglich? 

Borgolte 
Europa war zunächst einmal eine griechische Region. Dann ist das Wort übertragen worden auf die westliche Halbinsel Asiens. Interessant ist, dass Europa erst im Mittelalter erschlossen worden ist. Die Griechen wussten zwar, wo Europa im Westen endet. Aber die Grenzen nach Norden haben in vollem Umfang erst die mittelalterlichen Händler und Missionare erschlossen, die bis zur Ostsee und nach Skandinavien vorgestoßen sind.

Im Mittelalter und in der Antike gab es keinen Diskurs über Europa, wie das heute der Fall ist. Es gab keine Debatte darüber, wo Europa endet, welche kulturellen Werte Europa hat, welche Religion für Europa entscheidend ist, und so weiter. Es gab keine Debatten darüber, welche Region dazugehört und welche nicht.

Was es gab, ist ein sehr grober geografischer Begriff, der gelegentlich eingesetzt wurde, um sich zu orientieren. Iren und Engländer, die in der Zeit Karls des Großen auf den Kontinent kamen, waren nur kleine Königreiche gewohnt, wie sie auf den Inseln verbreitet waren. Das Reich Karls erschien ihnen riesig, und sie nannten es „Europa“, weil sie es mit keinem anderen Begriff erfassen konnten. Es war ein Verlegenheitsbegriff.

Zu Beginn sprachen wir über den Karlspreis, der in der Adenauerzeit stark aufgewertet wurde: Karl als Begründer des Abendlands, als Vater Europas, als Leitfigur. So war es in der Zeit Karls nicht gemeint. „Europa“ war damals sozusagen eine Blackbox, die eingesetzt wurde, wenn man etwas beschreiben wollte, das größer war als die eigene Lebenswirklichkeit. Mit dem aufgeladenen, bedeutungsvollen Begriff, über den wir heute streiten und diskutieren, hat das nichts zu tun. 

Schreiner 
Im 16. Jahrhundert hat es eine Diskussion gegeben, wo Europa im Osten endet, und zwar zunächst im Zusammenhang mit dem polnisch-litauischen Königtum und dann mit Kroatien. Diese Länder galten als antemurale Christianitatis, als Bollwerk des Christentums gegenüber dem Osten. Wenn ich diese Texte lese, habe ich den Eindruck, dass sie Europa mit dem lateinischen Christentum identifizieren. Diese Länder waren die östlichsten Vorposten des lateinischen Christentums, das heißt: das orthodoxe Christentum wurde nicht mehr zu Europa gerechnet. Die Spätfolgen dieser Entwicklung sehen wir bis heute im Zusammenhang mit dem Ukrainekonflikt, der im Oktober 1596 mit der Brester Union angefangen hat. 

Reinbold 
Meine Damen und Herren, darüber weiß Professor Schreiner so viel, dass wir es in 25 Sekunden nicht unterbringen werden.

Es ist das eingetreten, was ich erwartet, befürchtet, erhofft hatte: Wir haben so viele Themen angesprochen, dass ich nicht dazu komme, sie zu bündeln. Vielleicht sollten wir irgendwann einmal eine zweite Runde anschließen, weil es so viele Themen und Dinge zu entdecken gibt, über die viele von uns allzu wenig wissen. Herzlichen Dank Ihnen beiden für diese Diskussion!

(Redaktion: Wolfgang Reinbold)

Christliches Abendland? Die kulturellen Wurzeln Europas und was wir dafür halten

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