Schreiner
Diese Muslime gibt es bis heute. Sie sind weithin tatarischen Ursprungs. Es ist keine homogene Gesellschaft, weder in ethnischer, noch in kultureller, noch in sprachlicher Hinsicht. Es ist eine aus verschiedensten Gemeinschaften erwachsene Gesellschaft, die aus dem Umfeld des tatarischen Islams stammt, der seit dem 10. Jahrhundert islamisiert ist. Die Wolgabulgaren waren die ersten, die den Islam angenommen haben, am Ende des 9. Jahrhunderts.
Diese tatarischen Muslime sind bis heute in der Region des alten Litauens präsent. Heute leben sie auf drei Länder verteilt, Polen, Litauen und Weißrussland, das Territorium des historischen Großfürstentums. Dort leben sie, unmittelbare Nachkommen der tatarischen Muslime des späten Mittelalters. 25.000 Menschen sind es etwa, die heute noch in der Region leben. Es gibt einige Dörfer, die bis heute eine ziemlich beachtliche muslimische Bevölkerung haben. Südlich von Vilnius beispielsweise ist ein Dorf, das 1397 gegründet worden ist. Da stehen Moschee und Kirche gleich nebeneinander. Auch in Weißrussland gibt es noch kleine Dörfer, die eine muslimische Mehrheitsbevölkerung haben.
Leider ist diese Geschichte hierzulande wenig bekannt. Dabei wäre es interessant, ihr einmal genauer nachzugehen. Nicht dass ich diese Geschichte verkaufen möchte als ein Lehrstück oder als ein Modell. Aber sie könnte doch einen Denkanstoß geben, einmal zu überlegen, wie sich diese Gemeinschaften arrangiert haben, die Juden, die Muslime, die verschiedensten Formen von Christentum. Im 16. Jahrhundert nannte man Litauen „das Asyl der europäischen Häretiker“, weil sich dort alle gesammelt hatten. Dort lebten sie nebeneinander. Wie hat man sich arrangiert, so dass jeder seine religiöse Identität behalten hat? Wie hat man trotzdem ein Gemeinwesen gemeinsam gestaltet? Das sind wichtige Fragen. Die Muslime in Litauen zum Beispiel waren immer die Leibgarde der Großfürsten. Sie waren die Leibgarde, die Elitetruppe des polnischen, katholischen Königs.
Reinbold
Die Muslime sind die Elitetruppe des katholischen polnischen Königs?
Schreiner
Ja. Nach 1572 wurden sie die Elitetruppe des katholischen Königs in Polen. Muslime! Das ist eine sehr interessante Geschichte, und da kann man schon fragen: Wie hat man sich arrangiert? Die Muslime sind Muslime geblieben, die Christen sind Christen geblieben, und die Juden sind Juden geblieben, und Gleiches gilt für andere Religionsgemeinschaften, die ebenfalls präsent waren. Man hat sich arrangiert. Wenn Sie heute beispielsweise muslimische Friedhöfe in Polen, in Weißrussland oder Litauen anschauen, dann stellen Sie fest, dass noch eine ganze Reihe von ihnen erhalten geblieben ist. Manche sind mit vielen hundert Grabsteinen besät, wenn ich so sagen darf. Und wenn Sie die Inschriften anschauen, dann finden Sie alle Schichten der Gesellschaft, von den untersten Schichten bis in den Adelsstand. Alle Schichten der Gesellschaft sind vertreten. Das ist schon ein interessanter Fall. Es ist eine Gemeinschaft, die seit 800 Jahren einen europäischen Islam repräsentiert.
Borgolte
Diesen Befund, der sehr interessant ist, kann man verallgemeinern. Man soll die Verhältnisse zwischen den verschiedenen Religionen nicht idealisieren. Es gab genug Mord und Totschlag und Verfolgung. Aber unbestreitbar ist andererseits, dass die drei monotheistischen Religionen sich nicht ausgerottet haben. Die Juden durften nach Kirchenrecht ja nicht getötet werden. Sie durften geschlagen werden, sie durften vertrieben werden, was schlimm genug ist. Aber sie durften nicht getötet werden. Und der Koran schreibt vor, dass es in der Religion keinen Zwang geben darf. Es gibt sozusagen ein Recht von Nichtmuslimen, unter muslimischer Herrschaft nicht zwangsweise bekehrt zu werden.
Trotz der immer wieder vorkommenden Verfolgungen muss man sagen, dass dieser Vorbehalt offensichtlich gewirkt hat. Im Gegensatz dazu steht die Tatsache, dass die sogenannten „Heiden“, die Polytheisten oder Naturreligionen, von allen drei monotheistischen Religionen rigoros bekämpft worden sind – so rigoros, dass sie keine religiöse Formation mehr darstellen, wenn man von ein paar in jüngerer Zeit entstandenen Gruppen einmal absieht. Es gab zwar noch „Heiden“, aber es gab sie nicht mehr in organisierter Form. Da waren sich alle drei Religionen einig. Das haben sie geschafft. Man kann daher sagen: Seit dem 8. Jahrhundert musste man in Europa entweder Christ, Jude oder Muslim sein. Oder man musste Verfolgung auf sich nehmen.
Reinbold
Wenn man keiner Religion angehört, hat man es sehr schwer, aber wenn man Jude oder Muslim ist, geht es so einigermaßen?
Borgolte
Von Fall von Fall. Jedenfalls hat man die Chance, zu überleben, oder man hat die Chance, innerhalb Europas das Land zu wechseln und woanders Aufnahme zu finden. Die Mongolen etwa, die nach Europa vordrangen, mussten den Islam annehmen, als sie europäischen Boden betraten, übrigens auch im Nahen Osten. Man kann geradezu von einem Gesetz sprechen, das seit dem 8. Jahrhundert für Europäer galt, in der Regel auch für diejenigen, die nach Europa einwanderten: Sie mussten eine der drei monotheistischen Religionen annehmen. Wer das nicht tat, wurde ausgerottet, mit den bekannten Ausnahmen. Da waren sich alle einig.
Deshalb plädiere ich immer dafür, nicht nur die zu bedauernden Verfolgungsgeschichten zwischen den drei monotheistischen Religionen zum Thema zu machen. Zugleich müssen wir auch feststellen, dass sie Jahrhunderte lang nebeneinanderher gelebt haben, in Spanien genauso wie in Litauen. Das war konfliktreich, aber ein Zusammenleben. Wir tun gut daran, dieses Spannungsverhältnis im Bewusstsein zu halten. Und ich bin der festen Überzeugung, dass gerade dieses Spannungsverhältnis ein wesentliches Element der europäischen Geschichte gewesen ist, das Europa auch voran gebracht hat. Diese Spannungen waren nicht auflösbar, sie konnten nicht theoretisch bewältigt werden – es kann eben nur ein Dogma richtig sein und nicht alle drei zugleich. Aber damit praktisch umzugehen, hat bedeutet, dass Europa sich in diesen Spannungsverhältnissen offensichtlich entfalten konnte. Das unterscheidet Europa ganz dramatisch von Asien, zum Beispiel.
Reinbold
Würden Sie so weit gehen zu sagen: Diese für Europa typische Spannung, diese Reibung der drei Monotheismen erzeugt kreative Energie?
Borgolte
Das würde ich sagen, ja. Es ist ein fruchtbarer Ansatz, darüber nachzudenken. Man muss natürlich sagen: Monotheismen gab es auch in Vorderasien. Da waren nur die Dominanzverhältnisse umgekehrt, es dominierte der Islam, und es gab darüber hinaus Christen und Juden. Erst in Indien bricht diese monotheistische Weltzone, wie ich sie nenne, ab, weil es dort unter der Herrschaft des Brahmanismus, später des Buddhismus, des Jainismus und des Hinduismus Religionen gegeben hat, die nicht „monotheistisch“ genannt werden können (obwohl das einige Religionswissenschaftler sagen, aber ich meine, es ist nicht korrekt). Hier gibt es eine völlig andere Jenseitsvorstellung und eine völlig andere Ethik, es ist eine andere Welt.
Wenn man religionswissenschaftlich über das „Abendland“ diskutiert, würde ich daher sagen: Das Abendland reicht bis Persien. Es schließt den Zoroastrismus, also die Religion Zarathustras ein, die die Mutterreligion der monotheistischen Religionen ist und mit unseren drei monotheistischen Religionen sehr verwandt. Aber sie hat nichts zu tun mit Brahmanismus, Buddhismus und Hinduismus.
Schreiner
Mit dem, was Sie eben sagten, sind wir bei der Wissenschaftsgeschichte. Die Wissenschaft, die in Europa geblüht hat, war das Produkt einer Kooperation, einer spannungsreichen Kooperation, die etwas nach Europa zurückgebracht hat, was einmal in Europa geboren worden war: Das antike, griechische und lateinische Wissen.
Dieses Wissen wurde im 9. und 10. Jahrhundert im Nahen Osten ins arabische Wissen übertragen. Als die erste Universität im Jahr 825 in Bagdad gegründet worden ist, das „Haus der Weisheit“, da waren die ersten 42 Gelehrten, die dort gearbeitet haben, 30 Christen, 5 Juden und 7 Zoroastrier, wenn ich mich richtig erinnere. Ein Muslim war nicht darunter. Die Aufgabe dieser Leute war es, das griechische Wissen ins Arabische zu übersetzen und es auf diese Weise zugänglich zu machen. In einem längeren Zeitraum ist von einer Vielzahl von Übersetzern, die zum größten Teil Christen oder Juden waren, eine ganze Bibliothek übersetzt worden. Etwa 120 griechische Autoren sind ins Arabische übersetzt worden, von den berühmten Philosophen Aristoteles und Platon angefangen über die Mathematiker, die Chemiker und die Mediziner und so weiter.
Dieses Wissen hat dann sozusagen ausgestrahlt. Es kam zur Gründung der Universität in Kairouan, zur Gründung der Universität von Fes – nebenbei gesagt, die Gründung der Universität von Fes geht auf eine Frau zurück, die die Gründungsrektorin gewesen ist. Das hat dann nach Europa ausgestrahlt. Und dann beginnt ein Prozess der Rückübersetzung. Im 11. und 12. Jahrhundert werden diese Texte aus dem Arabischen wieder in das Lateinische übertragen, und diese Texte sind es, die das Fundament für die Entwicklung der europäischen Wissenschaften bilden.
Das ist kein Zufall für mich, dass der Aufstieg der europäischen Universitäten im 12. und 13. Jahrhundert unmittelbar im Zusammenhang mit dieser Übersetzungstätigkeit steht. In einem relativ kurzen Zeitraum werden zunächst auf dem Territorium Spaniens, später dann auch Siziliens – etwa in der Akademie von Palermo – viele dieser Texte aus dem Arabischen und Hebräischen ins Lateinische übersetzt und dann weiter in die lokalen Sprachen, das Kastilische, Altfranzösische und so weiter. Diese Bücher sind die Lehrbücher an den europäischen Universitäten, zum Teil bis ins 18. Jahrhundert hinein. Avicennas berühmter Kanon der Medizin etwa ist in 23 Auflagen gedruckt worden, und zwar in der lateinischen Übersetzung, die in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts in Toledo gemacht worden ist, von Gerhard von Cremona. Solche Beispiele gibt es viele. Sie zeigen, wie antikes Wissen zunächst in den arabischen Raum transferiert wurde und wie es dann wieder aus dem arabischen Raum nach Europa zurückkam.
Reinbold
Ein komplizierter Umweg war das: nicht direkt vom Griechischen ins Lateinische, wie es ja leichter gewesen wäre. Aber diesen direkten Weg gab es nicht, er war verstellt.
Schreiner
Ja, weil die Texte verloren waren oder nicht zugänglich. Die arabischen und die hebräischen Texte aber waren sozusagen auf dem Markt, die hatte man in der Bibliothek. Zwar konnte sie nicht jeder lesen, aber das Interesse war da, und es wurde übersetzt. Ein grandioses Übersetzungswerk ist das, das da im Mittelalter geleistet worden ist.
Reinbold
Wer übersetzt denn zurück in Spanien, sind das Muslime?
Schreiner
Es war ein Gemeinschaftswerk. Es sind jüdische Übersetzer dabei, es sind christliche Übersetzer dabei, es sind Muslime dabei.
Reinbold
Hauptsache man kann Arabisch?
Schreiner
Die Sprache war natürlich das Medium. In der Regel sind die Übersetzungen von mehreren gemacht worden, weil die christlichen Übersetzer zunächst nicht so gut Arabisch und Hebräisch konnten, so dass sie es alleine hätten schaffen können. Sie waren auf die Zuarbeit von jüdischen und muslimischen Übersetzern angewiesen. Erst später beginnt eine eigenständige Übersetzungstätigkeit. Das ist eine sehr interessante Geschichte. Schon vor 100 Jahren hat Moritz Steinschneider ein dickes Buch von 1000 Seiten über die Juden als Dolmetscher im Mittelalter geschrieben. Da können sie diese Übersetzungsgeschichte auch geografisch einigermaßen nachvollziehen. Sehr viele Italiener waren darunter. Es waren aber auch Leute aus England dabei, die nach Spanien gegangen sind aus Spaß an der Freude, weil sie dort Arabisch lernen konnten. Es waren Ordensleute, die zum Teil beauftragt wurden, solche Übersetzungen zu machen, und so weiter.
So entsteht ein Korpus von Übersetzungen aus zwei Teilen. Der eine ist der wissenschaftliche Teil im engeren Sinne, Naturwissenschaften und Philosophie. Und dann entsteht eine Bibliothek theologischer Schriften, islamische und jüdische. Man braucht sie zur Apologie, zur Erklärung des Christentums, oder zum Zweck der Widerlegung. Dieses Corpus Islamo-Christianum, wie man das heute nennt, diese Elementarbibliothek des Wissens über den Islam war bis ins 18. Jahrhundert hinein das Rüstzeug zur Auseinandersetzung mit dem Islam. Theodor Bibliander etwa hat im Jahr 1543 in seiner berühmten dreibändigen Koranausgabe in Basel einen nicht unerheblichen Teil dieser Texte nachgedruckt.