Mohr
Das weiß ich nicht. Es kann sein, dass einzelne Muslime daran teilnehmen, als Gäste. Die Frage berührt das große Thema: „Was ist Gottesdienst?“ Im Islam ist Gottesdienst meistens ein gemeinschaftliches Gebet, mit dem bekannten, festgelegten Ablauf, mit Koranrezitation und so weiter. Am Freitag ist es mit einer Predigt verbunden, ist also ein bisschen ausführlicher. Im Grunde genommen ist das islamische Gebet ein Ritus, in dem Menschen Gott verehren durch Niederwerfung, Rezitation, Bittgebete und ähnliches mehr. All das wird meistens auf Arabisch gesprochen. Einen „Gottesdienst“ im Sinne einer Feier, bei der eine Gemeinschaft stattfindet und etwas zelebriert wird, so etwas gibt es eher nicht. Man könnte es auch kaum in das traditionelle Freitagsgebet einbauen, das wäre schon technisch und formal schwierig.
Wenn Sie mich also fragen: „Ist so etwas muslimisch überhaupt denkbar?“ Dann würde ich erst einmal sagen: Nein. Ich kann es mir de facto nicht vorstellen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendwo in einer Moschee in Berlin der Imam sagt: „Heute hängen wir hier Regenbogenfahnen auf. Wir machen alle ein Bittgebet für die Schwulen und Lesben in der Welt. Wir beten für die Abschaffung der Todesstrafe im Iran und in Brunei.“ Ich muss ganz ehrlich sagen: Das kann ich mir nicht vorstellen. Nicht, weil es nicht sein dürfte, sondern weil es gegenwärtig keine Option ist.
Allerdings gibt es kleine Gruppen wie etwa den Liberal-islamischen Bund, in dem sich religiöse Muslime zusammengeschlossen haben und in dem zu solchen Fragen Meinungen geäußert werden, die nicht mit der traditionellen oder orthodoxen Meinung übereinstimmen. Der Liberal-islamische Bund hat auf seiner Homepage ein Statement zum Thema Homosexualität und Transsexualität, das ist schon erstaunlich.
Reinbold
Weil es in die Richtung geht, die Sie sich nicht recht vorstellen können?
Mohr
Ja, so ein bisschen. Der Liberal-islamische Bund ist ein Verein, keine Gemeinde. Aber es gibt eine Gemeinde in Nordrhein-Westfalen, die mit dem Verein verbunden ist, und diese Gemeinde sagt: „Wenn wir unser Gebet machen“, also das islamische Gebet, „dann finden wir nicht, dass es eine strenge Geschlechtertrennung geben sollte, wie es normalerweise der Fall ist. Wir sind auch der Meinung, dass das Gebet von einer Frau geleitet werden kann, von einer Imamin“. Das sind kleine Schritte in die Richtung, von der ich gesprochen habe. Wenn Sie sich allerdings auf Youtube oder Facebook umsehen, dann hören Sie oft ganz andere, schlimme Dinge. Menschen, die ihr Gebet in dieser Form abhalten, werden verflucht oder bedroht. Daher meine Einschätzung: Es ist utopisch.
Reinbold
Herr Höcker, ich will noch einmal auf das Familienpapier zu sprechen kommen, das die Evangelische Kirche in Deutschland im letzten Jahr vorgelegt hat. Da steht etwa drin: „Früher hat die Kirche gelehrt, die Ehe zwischen Mann und Frau sei eine Schöpfungsordnung.“ Also eine gute Grundordnung für die Welt, Mann und Frau geschaffen zum Ebenbild Gottes, ein Ehepaar, das Kinder bekommt und so weiter. Und dann sagt das Papier: „Heute sehen wir, dass das mit der Ehe als Schöpfungsordnung eigentlich nicht stimmt, sondern hineingelesen worden ist. Tatsächlich findet man in der Bibel viele andere Modelle, und deshalb können wir nicht länger von einer Schöpfungsordnung reden.“ Ich sehe an Ihrer Reaktion, dass Sie das für ein gutes Papier halten.
Höcker
Ich halte es für ein hervorragendes Papier. Denn das war noch nie wahr, was da gesagt wurde. Man hat vielmehr die kulturelle Überlieferung und das Prinzip des „allein durch die Schrift“ nicht sauber auseinandergehalten. Die Heilige Schrift sagt zu der gleichberechtigten Ehe zwischen Mann und Frau gar nichts. Sie sagt etwas zu einer ungleichberechtigten Ehe. Aber zu einer gleichberechtigten Beziehung zwischen Mann und Frau, die sich Ehe nennt, sagt sie gar nichts. Dafür gibt es keine biblische Begründung. Deshalb hat man immer wieder die kulturelle Überlieferung als Begründung herangezogen.
In den Trauagenden zum Beispiel war es so: Man las einen Text aus dem Alten Testament, und dann kam die Formel. „Mit diesen Worten bezeugt die Heilige Schrift die Ehe als gute Gabe Gottes“. Das hat die Heilige Schrift aber gar nicht getan. Es stand nur in der Agende, die man vorlesen musste.
Reinbold
Das heißt, aus Ihrer Sicht ist „die Ehe als gute Gabe Gottes“ eingelesen aus dem Familienbild einer ganz anderen Zeit …
Höcker
Ja, und die Exegeten, also die professionellen Schriftausleger, haben das auch nie so vertreten. Wenn man ganz sauber das Prinzip des „allein durch die Schrift“ durchhält, dann kann man nicht aufrechterhalten, dass die gleichberechtigte Beziehung zwischen Mann und Frau eine biblische Begründung hat.
Reinbold
Wohl aber die Ehe an sich. Oder würden Sie auch das bestreiten – Mann und Frau als Grundordnung der Schöpfung?
Höcker
Die Grundordnung der Schöpfung ist, dass Menschen aufeinander bezogen sind. Das Familienpapier nennt das einen „Grundton“ der Heiligen Schrift. Luther hat das die „Mitte der Schrift“ genannt, dass Menschen aufeinander bezogen sind. Und wenn sie sich in Liebe, Treue und Verlässlichkeit miteinander zusammentun und die Treue Gottes damit widerspiegeln, dann ist das ein christliches Bündnis. Ob das aber „Ehe“ genannt wird, ist exegetisch nicht sicher.
Reinbold
Da würden die Kritiker jetzt sagen: Der Punkt, gut, geschenkt. Aber es geht doch stets um Mann und Frau und nicht um Mann und Mann. Wenn Sie die Texte über Mann und Mann lesen in der Schrift, dann sind die sehr kritisch, um das Mindeste zu sagen. Sie sind oft sehr hart.
Höcker
Ja, sie sind sehr hart. Aber – das haben ja nun die Schriftausleger schon vor Jahrhunderten erwiesen – sie treffen überhaupt nicht die Lebenswirklichkeit von heutigen LSBTTIQ-Menschen. Vielmehr richten sie sich gegen kultische Tempelprostitution. Und sie setzen voraus, dass die Frau das Gefäß des Mannes ist und dass jede andere Form der Sexualität eine Verdrehung ist.
Deswegen ist es auch völlig sinnwidrig, Stellen zum Beispiel mit Jonathan und David für homosexuelle Beziehungen in Anspruch zu nehmen. Das Wort „Homosexualität“ kommt aus dem 19. Jahrhundert! Vorher hatte man gar keinen Begriff dafür. Es ist unseriös, Begriffe, die im 19. Jahrhundert überhaupt erst erfunden worden sind, auf die Wirklichkeit der Heiligen Schrift anzuwenden. Da kann man nur sagen: Ja, die Heilige Schrift richtet sich gegen bestimmte Formen der Sexualität, die es heute nicht mehr gibt. Tempelprostitution haben wir ja gar nicht mehr …
Reinbold
… ja, aber Sexualität zwischen Mann und Mann, da beißt die Maus keinen Faden ab, oder?
Höcker
Nein, das stimmt so auch nicht. Sie müssen eben schauen: Was steht da? Im Protestantismus gilt nur der Literalsinn, der Wortsinn der Bibel, das, was wirklich dasteht. Wenn Sie dann die Stellen lesen, die immer ins Feld geführt werden, richtet sich das nur gegen eine unnatürliche Sexualität – im Sinne dessen, was damals unter „Natur“ verstanden wurde.
Aber das Natürliche war: Die Frau ist das Gefäß des Mannes, sie ist ihm untergeordnet, er gibt seinen Samen in sie, und sie muss sich deshalb unterordnen. Wenn Sie so etwas als legitimes Vorbild haben wollen, dann finden Sie das natürlich in der Schrift! Aber wenn wir von einem Eheverständnis ausgehen, dass sich auf die Mitte der Heiligen Schrift bezieht – nämlich, das was Christus gesagt hat –, dann müssen Sie tatsächlich solche Stellen verwerfen. Wir wenden ja auch nicht mehr die Kriegsgesetze des Fünften Buches Mose an, und wir ordinieren Frauen, obwohl ganz eindeutig dasteht, das Weib solle „in der Gemeinde schweigen“ (1. Korintherbrief, Kap. 14). Warum tun wir das? Weil wir alles von der Mitte der Schrift her, nämlich von Jesus Christus her, lesen!
Reinbold
Sie würden also sagen, dass der katholische Weltkatechismus, für den Homosexualität eine Sünde ist …
Höcker
… der Weltkatechismus argumentiert vom Naturrecht her. Danach, so das katholische Verständnis, dient Sexualität nur zur Fortpflanzung. Allerdings hat die Biologie erwiesen, dass das in Bezug auf „die Natur“ Quatsch ist! Es gibt Homosexualität auch „in der Natur“. Wenn man das Naturrecht der Antike aufrechterhält, in dem das noch unbekannt war, dann kommt man natürlich zur katholischen Position: Sexualität dient nur der Fortpflanzung, und was nicht der Fortpflanzung dient, ist dann Sünde oder schlimm oder darf nicht sein.
Reinbold
Ich mache noch einen letzten Versuch. Wenn jemand sagt: „In der Bibel steht aber doch: die normale Beziehung ist die Beziehung zwischen Mann und Frau. Die Ehe wird sehr hoch geschätzt. Natürlich nach dem damaligen kulturellen Verständnis – aber sie wird sehr hoch geschätzt. Und diese Beziehung ist es, die in besonderer Weise hervorgehoben wird, nicht zuletzt deshalb, weil aus ihr und nur aus ihr Kinder hervorgehen. Also müssen wir sie anders bewerten als gleichgeschlechtliche Partnerschaften.“ Was sagen Sie zu diesem Argument?
Höcker
Der Punkt ist: Die Beziehung zwischen Mann und Frau, aus der Kinder hervorgehen, wird besonders hervorgehoben. Es ist aber nicht damit die Ehe in unserem Sinn gemeint. In der Antike war zum Beispiel die Onkelehe ganz geläufig. Wenn eine Frau keine Kinder bekommen konnte, musste der Onkel dafür sorgen, dass sie in irgendeiner Form doch noch zu einem Kind kommt. Das war ganz selbstverständlich. Man kann aus den Texten nicht einfach das herausnehmen, was uns irgendwie passt, und den Rest als zeitbedingt außer Acht lassen.
Man muss ganz klar sagen: Mit welchem Wahrnehmungszugriff gehe ich auf die Schriftstellen zu? Wir müssen erklären, was wir als zeitbedingt ablehnen und was nicht. Und da finde ich, dass die Evangelische Kirche in Deutschland in ihrem Familienpapier klug argumentiert, indem sie alle Phänomene von der Mitte der Schrift her bewertet. Das ist die grundevangelische Position. Deswegen ist die Reformation gemacht worden, dass man von der Mitte der Schrift her nur den Wortsinn heranzieht.
Reinbold
Nur eine Frage noch, bevor ich Herrn Mohr wieder ins Gespräch bringe: Die starke Kritik, die es gegeben hat, die auch immer noch andauert. Wie bewerten Sie die? Haben die Kritiker das alles nicht richtig verstanden?
Höcker
Wenn ich recht sehe, ist gegen die theologische Argumentation der Orientierungshilfe bisher nicht vorgegangen worden. Wir haben in Berlin im Nachgang zu der Orientierungshilfe gerade ein großes theologisches Symposium gehabt. Da hat der Vorsitzende der theologischen Kammer der Evangelischen Kirche in Deutschland, Prof. Markschies, noch einmal gefragt: „Wie gehen wir damit um, dass die gleichberechtigte Ehe zwischen Mann und Frau keine biblische Begründung hat?“ Das ist für viele existentiell erschütternd. Sie fühlen sich dadurch irgendwie angegriffen. Dabei kann man mit anderen Schriftstellen die gleichberechtigte Ehe zwischen Mann und Frau wunderbar begründen! Aber eine „klassische“ biblische Begründung hat sie nicht, und das verunsichert viele.
Ich hatte vorhin schon darauf verwiesen, dass es in Frankreich auch große Proteste gegen die Gleichstellung gab, und in anderen Ländern ist das ähnlich. In der Mittelschicht – glaube ich, und das sagen uns jedenfalls die Soziologen – gibt es eine große Angst vor sozialem Abstieg und vor der Auflösung der klassischen Beziehungsformen. Wir merken es ja auch an den politischen Parteien, die sich neu bilden. Die Piraten in Berlin fragen uns: Was sagt ihr denn zu „polyamanten“ Beziehungen? Das Wort musste ich mir erst einmal übersetzen [polyamant = viele lieben]. Das sind dann völlig andere Fragestellungen. Wenn Sie da mit der Heiligen Schrift argumentieren wollen, müssen Sie gute Begründungen haben! Da können Sie nicht sagen: Ja, das war eben in der Antike so. Das ist ja absurd.