Zum Gespräch: LSBTTI. Übertreiben wir’s mit der sexuellen Vielfalt?
Aus: Harald Martenstein, Schlecht, schlechter, Geschlecht, DIE ZEIT, 8.6.2013
Als ich mich auf diese Geschichte vorbereitete, lag ich an einem See in Brandenburg und wollte in aller Gemütlichkeit die Einführung in die Gender Studies von Franziska Schößler lesen. Zufällig war Herrentag, so heißt in Brandenburg der Vatertag. Außer mir waren ein Dutzend junger Männer da, Zwanzigjährige. Sie tranken Bier. Sie brüllten, ununterbrochen. Sie warfen sich gegenseitig ins Wasser. Sie ließen die Motoren ihrer Autos aufheulen. Das fanden sie toll. Ich klappte das Buch wieder zu. Warum sind junge Männer manchmal so? Warum sind junge Frauen meistens anders?
Die meisten Leute, die nicht im Universitätsbetrieb stecken, können sich unter den Wörtern „Gender", „Gender Mainstreaming“ und „Gender Studies“ nicht viel vorstellen. […] „Gender Mainstreaming“ bedeutet, dass alle Geschlechter in sämtlichen Bereichen gleichgestellt werden, Männer, Frauen, auch Gruppen wie Homosexuelle oder Intersexuelle. […] Das Wort „Gender“ könnte man vielleicht mit „soziales Geschlecht“ übersetzen. Das biologische Geschlecht heißt „Sex".
Genderforscher glauben, dass „Männer“ und „Frauen“ nicht eine Idee der Natur sind, sondern eine Art Konvention, ungefähr wie die Mode oder der Herrentag. Klar, einige Leute haben einen Penis, andere spazieren mit einer Vagina durchs Leben. Das lässt sich wohl nicht wegdiskutieren. Aber abgesehen davon sind wir gleich, besser gesagt, wir könnten gleich sein, wenn die Gesellschaft uns ließe. Bei Franziska Schößler, deren Buch 2008 erschienen ist, liest sich das so: „Es sind vor allem kulturelle Akte, die einen Mann zum Mann machen.“ […]
Das Feindbild der meisten Genderforscherinnen sind die Naturwissenschaften. […] „Naturwissenschaften reproduzieren herrschende Normen.“ – „Naturwissenschaften konstruieren Wissen, das den gesellschaftlichen Systemen zuarbeitet.“ – „Der Objektivitätsanspruch der Wissenschaft ist ein verdeckter männlicher Habitus.“ […] Von solchen Sätzen wimmelt es in den Einführungen. […]
Ich fahre zu Hannelore Faulstich-Wieland, Genderforscherin, Pädagogin und Gleichstellungsbeauftragte an der Hamburger Uni. In einem Interview hat sie mal gesagt, dass es gesellschaftliche Gründe habe, wenn Männer im Marathonlauf schneller sind als Frauen. […]
Menschen mit Kindern tendieren meist zu der Ansicht, dass es natürliche Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen gibt. Aber sie tickt nicht so. […] Das aggressivere Verhalten der Jungs sei anerzogen. Folglich müsse es aberzogen werden. Jungs hätten eine negative Einstellung zum Lernen, was damit zusammenhänge, dass sie schon früh auf eine männliche Rolle festgelegt würden. Schon Babys würden ja verschieden behandelt, daher komme die Verschiedenheit von Mädchen und Jungs. […]
Kann es wirklich sein, dass viele Mütter ihren Söhnen schon als Babys beibringen, schwierige Raufbolde zu werden? Was ist denn mit den Müttern los? Als ich versuche, ein paar wissenschaftliche Studien über Jungs aus meinem Gedächtnis hervorzukramen, sagt Hannelore Faulstich-Wieland: „Naturwissenschaft ist eine Konstruktion.“ […]
Robert Plomin hat das Aufwachsen von 3000 zweieiigen Zwillingen beobachtet, Jungen und Mädchen, die in derselben Familie aufwuchsen. Im Alter von zwei Jahren war der Wortschatz der Mädchen bereits deutlich größer. […] Der Osloer Kinderpsychiater und Verhaltensforscher Trond Diseth hat neun Monate alten Babys in einem nur von Kameras überwachten Raum Spielzeug zur Auswahl angeboten, Jungs krochen auf Autos zu, Mädchen auf Puppen. Der Evolutionsbiologe Simon Baron-Cohen […] hat die Reaktionen von Neugeborenen erforscht, da kann die Gesellschaft noch nichts angerichtet haben: Mädchen reagieren stärker auf Gesichter, Jungen auf mechanische Geräte. Richard Lippa hat 200.000 Menschen in 53 Ländern nach ihren Traumberufen gefragt, Männer nannten häufiger „Ingenieur", Frauen häufiger soziale Berufe. Die Ergebnisse waren in so unterschiedlichen Ländern wie Norwegen, den USA und Saudi-Arabien erstaunlich ähnlich. […]
Die Wissenschaft ist sich einig: Geschlechterunterschiede sind zum Teil sicher anerzogen. Vieles hängt aber auch mit der Evolution und mit den Hormonen zusammen. Ist das alles wirklich nur Ideologie? Gibt es eine Art Weltverschwörung, gegen die Genderforschung? Und wenn ja: Wo bleiben eigentlich die Gegenstudien? Genderprofessorinnen gibt es doch reichlich. […]
Inzwischen habe auch ich, wie die Genderforschung, eine Theorie. Ich glaube, ich weiß, warum selbst bestens belegbare Erkenntnisse der naturwissenschaftlichen Geschlechterforschung von vielen Genderfrauen abgelehnt oder gar nicht erst zur Kenntnis genommen werden. „Natur“ war, jahrtausendelang, ein Totschlagargument der Männer. Frauen konnten angeblich dieses nicht und jenes nicht, sie galten als eitel, dumm, schwach, hysterisch, zänkisch, schwatzhaft und charakterlich fragwürdig.
Das alles kam im Gewande der wissenschaftlichen Erkenntnis daher, […] und meistens ging es dabei darum, die Macht der Männer ideologisch zu begründen. Wenn früher von Unterschieden zwischen Männern und Frauen die Rede war, dann lief es immer darauf hinaus, dass Frauen die Schlechteren sind und Männer die Besseren.
Die Genderfrauen ziehen daraus den Schluss, dass biologische Forschung insgesamt ein Herrschaftsinstrument der Männer sein muss. Deshalb sagen sie: Es gibt keine Unterschiede, basta. Warum? Weil es einfach keine geben darf. Genderforschung ist wirklich eine Antiwissenschaft. Sie beruht auf einem unbeweisbaren Glauben, der nicht in Zweifel gezogen werden darf.
In Wirklichkeit ist die Biologie längst weiter. Sie kann zeigen, dass Männer und Frauen in vielen Bereichen gleich sind, in anderen verschieden. Sonst wäre die Evolution ja sinnlos gewesen – wozu zwei Mal das gleiche Modell entwickeln? Beide Geschlechter haben Stärken und Schwächen, die sich ergänzen, und ganz sicher ist keines „besser“ als das andere. Wenn ein Mann und eine Frau zusammen in Urlaub fahren wollen, wird in 80 Prozent der Fälle sie noch schnell das Gespräch mit einem schwierigen Handwerker führen, während er den Kofferraum belädt. Das ist nicht sexistisch, das ist klug.