Antes
Das wirft eine interessante Frage auf. Ich gebe zu und glaube, dass es gut nachweisbar ist, dass ein Impuls zur Modernisierung und zur besseren Stellung der rechtlichen Bedingungen einer Frau durch das Verkünden des Korans gegeben war. Jetzt wäre ja die logische Konsequenz, dass man heute sagt: „Das geht in diese Richtung, aber nicht alle Formen, die in der patriarchalischen Gesellschaft praktiziert wurden, müssen deshalb weiterhin so behalten werden“. Man kann ja die Richtung, wenn die Entwicklung voranschreitet, auch neu interpretieren.
Sie sprechen ja von „Neuinterpretation“. Das Merkwürdige, das immer wieder auffällt in der Diskussion, ist, dass man letztlich doch an den Wörtern hängen bleibt und die neuen Aufbrüche nicht zu Ende denkt. Ich muss sagen, dass zum Beispiel bei den Kolleginnen und Kollegen von der islamisch-theologischen Fakultät in Ankara eine sehr viele größere Offenheit da war. Sie haben gesagt: „Wir müssen unterscheiden zwischen dem, was wirklich Offenbarung ist, und dem, was kulturell üblich war. Die soziologische und die kulturelle Seite sind wandelbar. Das Theologische ist es nicht“. Das bedeutet aber, dass man Unterschiede in die Texte hineintragen kann, die es ermöglichen, durch Neuinterpretation das Theologische zu fassen und von bestimmten konkreten Formen des Sozialen und des Kulturellen abzusehen.
Majoka
Es ist bei allen Religionen ein Problem, dass Vieles, was kulturell bedingt ist, als Religion dargestellt wird, obwohl es gar nicht zur Religion gehört. Das ist auch bei den Muslimen so. Es gibt bestimmte Üblichkeiten, die im indischen Subkontinent oder in Indonesien als Teil des Islams verstanden werden, aber in der arabischen Welt nicht, und umgekehrt. Es gibt bestimmte Üblichkeiten in Afghanistan, die als Islam betrachtet werden, aber die Araber lehnen sie ab. Die eigene Kultur wird als Religion dargestellt. Deshalb muss man ganz genau unterscheiden, und das ist etwas, was unter Muslimen einfach ist, wenn sie es denn wollen, denn der Islam ist nicht zurückzuführen auf irgendwelche Gelehrte, nicht auf irgendwelche Ajatollahs, nicht auf irgendwelche Mullahs, sondern auf den Koran, und der Koran ist von Marokko bis Indonesien und von Afghanistan bis Kenia derselbe.
Antes
… als Text, aber nicht als Interpretation …
Majoka
Als Text ist er gleich. Und wenn man jetzt die Interpretation der Gelehrten nicht als etwas Festes betrachten würde, wie das die Salafisten oder die Saudis tun, dann könnte man einen großen Schritt gehen in Richtung Erneuerung, Verbesserung, Reform.
Reinbold
Herr Majoka, ich will noch einen Punkt ansprechen, der in der Diskussion eine wichtige Rolle spielt, nämlich die Trennung von Religion und Staat. Die Internetseite der Ahmadiyya und die Publikationen sagen, dass Sie für eine strenge Trennung von Religion und Staat eintreten. Dann aber ist doch immer wieder die Rede von einem „islamischen Staat“. Wie geht das zusammen?
Majoka
Wenn man von einem „islamischen Staat“ spricht, muss man unterscheiden. Zum einen, das ist heute Allgemeingebrauch, meint man damit Staaten mit muslimischer Mehrheit wie Pakistan, Saudi-Arabien, Libyen, Indonesien. Zum anderen kann damit aber auch der ideale „islamische Staat“ gemeint sein. Und da, das haben die Gründer und die Kalifen ganz deutlich und klar gesagt, gibt es eine klare Trennung zwischen Religion und Staat.
Wenn wir als Ahmadis vom „islamischen Staat“ reden, dann reden wir davon, dass der Islam einige grundsätzliche Regeln gegeben hat, was und wie ein Staat zu funktionieren hat. Es gibt zum Beispiel eine Gründungsregel, die besagt, dass man nicht aufgrund der Religion diskriminieren soll und nicht aufgrund der Volkszugehörigkeit. Sondern es heißt: „Wenn ihr herrscht unter den Menschen, so herrscht mit absoluter Gerechtigkeit, und selbst die Feindschaft eines Volkes soll euch nicht dazu verleiten, dass ihr die Gerechtigkeit aus der Hand gebt. Seid gerecht, das ist vor Gott der Gottesfurcht am nächsten“. Das ist der Vers aus dem heiligen Koran [Sure 5,8]. Jeder Staat, der nach dieser Maxime handelt, ist quasi ein „islamischer Staat“. Jeder Staat, der nicht nach Religionszughörigkeit, nach Volkszugehörigkeit, nach Hautfarbe und so weiter diskriminiert.
Reinbold
… also ist Deutschland ein islamischer Staat?
Majoka
In gewissem Sinne.
Antes
… es ist weniger irreführend, wenn man sagt: es ist ein Staat im Sinne der Botschaft des Islams …
Reinbold
… Scharia und Grundgesetz sind im Grunde eins, in diesem Sinne ist Deutschland ein Staat im Sinne der Botschaft des Islams, ein islamischer Staat …
Daud
Wenn wir jetzt über unser Land Pakistan reden würden: da sind wir nicht anerkannt, da dürfen wir nicht so praktizieren wie hier.
Majoka
Wir dürfen uns in Pakistan nicht als Muslime bezeichnen, in Deutschland schon. Wir dürfen dort keine Moscheen haben, hier schon. Wir dürfen dort nicht beten, hier schon.
Daud
… das ist hier für uns schon eine Freiheit …
Reinbold
Ist es auch Ihre Heimat? Betrachten Sie Deutschland als Ihre Heimat? Oder sind Sie im Grunde genommen hier im Exil und würden eigentlich lieber wieder zurück nach Pakistan?
Daud
Für mich persönlich ist es so, dass ich mit 14 Jahren nach Deutschland gekommen bin. Natürlich habe ich Erinnerungen an das Alte. Ich bin dort aufgewachsen. Auf der anderen Seite ist Deutschland natürlich meine Heimat. Wenn ich nach Pakistan fliegen würde, dann würden die mich wie eine Ausländerin behandeln.
Wenn man in Deutschland lebt, dann integriert man sich natürlich auch. Integration ist ein sehr großes Thema, egal in welchem Land man lebt. Bei der Ahmadiyya Jamaat wird sehr viel Wert darauf gelegt, dass wir, egal in welchem Land wir leben, die dortige Sprache lernen und uns mit der Sprache, mit diesem Kommunikationsmittel, integrieren. Es ist wichtig, gewisse Dinge in dieser Gesellschaft tun, um das Miteinander zu pflegen, damit die Menschen sich wohlfühlen in unserer Anwesenheit. Für mich ist Deutschland natürlich meine Heimat. Vor allem für meine Kinder, die hier geboren sind. Die sind nur einmal in Pakistan gewesen. Für sie ist das natürlich Ausland und Deutschland ihre Heimat.
Majoka
Es ist immer so: In der ersten Generation gibt es noch eine Verbindung zum Herkunftsland der Eltern. Die nächste und die übernächste Generation haben dann überhaupt keine Beziehung mehr zu diesem Land. Wenn sie sich integriert haben und nicht in geschlossenen Gesellschaften leben, dann werden sie Teil dieses neuen Landes.
Antes
Wobei man in diesem Fall noch dazu sagen muss: Es ist nicht erstrebenswert, als Ahmadi-Muslim nach Pakistan zurückzukehren. Frau Daud, Sie haben ja noch Glück, wenn Sie als Ausländerin behandelt werden. Dann werden Sie weniger diskriminiert, als wenn Sie pakistanische Bürgerin wären.
Reinbold
Ich erlebe immer wieder, dass manche Migranten sehr verfassungspatriotisch deutsch sind, weil sie hier, zum Beispiel, ihre Religion frei leben können, während das in dem Land, aus sie kommen, nicht geht. Herr Majoka, Sie haben auch eine deutsche Fahne am Revers. Ist das in der Ahmadiyya eine verbreitete Haltung, dass man dankbar ist, hier leben zu können, in diesem schönen Land?
Majoka
Das sowieso. Man ist dankbar, dass man die Freiheit hat, seine Religion zu leben, in Moscheen zu gehen, zu bauen, als Moslem aufzutreten, Islam zu praktizieren. Diese Möglichkeit haben wir in Pakistan nicht.
Daud
Ich möchte gern hinzufügen: In Pakistan kann man die jährlichen Versammlungen der Ahmadiyya nicht so machen wie in Deutschland oder in England. In den großen Moscheen versammeln sich die Ahmadis nicht mehr, weil sie Angst haben. Wir sind natürlich dankbar, in Deutschland Land zu leben.
Reinbold
Dieses Land hat Sie jetzt auch in einer besonderen Weise anerkannt. Es hat den Ahmadis etwas zugesprochen, was viele andere muslimische Gruppen gern erreichen würden, nämlich die höchste juristische Anerkennung als Körperschaft des öffentlichen Rechts im Bundesland Hessen. Wie sieht es aus in der innermuslimischen Debatte? Ändert diese Anerkennung Ihre Stellung in der muslimischen Gemeinschaft in Deutschland?
Daud
Auf jeden Fall. Es ist nicht nur unter den Muslimen so, sondern wir bekommen Anerkennung von Akademikern, von Politikern und so weiter. Egal, wo man ist, egal, in welchem Gespräch man ist, man wird ja darauf angesprochen, dass es die erste muslimische Gemeinschaft ist, die den Körperschaftsstatus bekommen hat. Das bringt ganz viel Anerkennung. Auf der anderen Seite schaut man in der muslimischen Gemeinschaft darauf, dass die muslimische Gemeinde, die viele gar nicht als „muslimisch“ anerkennen, dass ausgerechnet die als muslimische Gemeinde anerkannt worden ist.
Reinbold
Herr Majoka, ändert das etwas in den Köpfen von normalen Sunniten und Schiiten?
Majoka
Auf theologischer Basis nicht. Praktisch ja, und zwar insoweit, dass sie wissen, dass sie ohne den Dialog, ohne Gespräche mit der Ahmadiyya Jamaat nicht weiterkommen werden. Auf der Bundesebene haben wir mittlerweile zum Beispiel gute Kontakte zu DITIB und zu einigen anderen Verbänden, ebenso in Hessen und in einigen anderen Ländern, in Rheinland-Pfalz zum Beispiel. Aber in theologischer Hinsicht gibt es natürlich nach wie vor diese Fatwas, diese Rechtsgutachten, die besagen, dass die Ahmadis keine Muslime sind. Wir haben eine gewisse Zeit gebraucht, bis wir das überwunden und die Anerkennung bekommen haben. Andere streben sie an, bekommen sie aber nicht, entweder aus theologischen Gründen oder weil der Verfassungsschutz Einwände hat. Sie wissen, dass sie die Voraussetzungen nicht erfüllen, die die Ahmadiyya Jamaat erfüllt hat. Wir haben sogar Hilfe angeboten für andere muslimische Gemeinschaften, zum Beispiel in Rheinland-Pfalz. Wir sind in jedem Fall bereit, unserem Verständnis des Islams entsprechend, allen anderen Muslimen zu helfen. Wir sehen die anderen Muslime auch als Muslime. Von uns aus soll nur Frieden, Hilfe und Unterstützung ausgehen.
Reinbold
Herzlichen Dank Ihnen allen für das Gespräch.
(Redaktion: Wolfgang Reinbold)