Zum Gespräch: Was genau ist eigentlich Alevitentum?
Reinbold
Frau Yildiz, ich möchte gleich mit den dicken Brocken beginnen. In der von Bundesinnenminister Friedrich geleiteten deutschen Islamkonferenz ist ein Vertreter der alevitischen Gemeinde dabei. In den großen Meinungsumfragen über Muslime in Deutschland werden die Aleviten unter „Muslime“ subsumiert. Und jetzt schreiben Sie auf Ihrer Homepage, sie seien die drittgrößte Religionsgemeinschaft nach Christen und Muslimen. Sind Aleviten nun Muslime oder nicht?
Yildiz
Es ist schwierig, diese Frage mit einem klaren Ja oder Nein zu beantworten, denn es gibt im Alevitentum zwei konträre Positionen. Es gibt auf der einen Seite Aleviten, die sich als Muslime verstehen, die sich dem Islam zugehörig fühlen. Wir haben aber auch viele Aleviten, die das Alevitentum als eine eigenständige Religionsgemeinschaft auffassen. Wir sind ja seit einigen Jahren in Deutschland als eigenständige Religionsgemeinschaft anerkannt.
Darüber hinaus müsste man natürlich nachfragen: Welchen Islam meinen Sie denn? Es gibt ja nicht den einen Islam. Wenn wir das Alevitentum mit dem sunnitischen und schiitischen Islam vergleichen, dann gibt es wesentliche Unterschiede, angefangen mit den fünf Säulen, die die Aleviten nicht kennen, ich möchte darauf jetzt nicht näher eingehen. Wichtig ist für mich: Ich möchte mich als Alevitin nicht darüber definieren, was wir nicht sind und was bei uns nicht gilt, sondern darüber, was bei uns gilt. Wir haben uns lange genug über diesen Defizitansatz vorgestellt, und auch in den Medien kursieren ja immer wieder bestimmte Floskeln und Schlagwörter wie „Aleviten, die besseren Muslime“ oder „Aleviten, die liberale Form des Islams“. Wir möchten heute den Menschen mitteilen, was das Alevitentum ist. Fakt ist, dass es kontroverse Positionen gibt bezüglich der Islamzugehörigkeit. Aber bei uns gilt auch das Kontroversitätsprinzip, das heißt: Kontroverse Meinungen werden als solche behandelt, Position und Gegenposition haben einen gleichberechtigten Anspruch auf Entfaltung. Nur so können wir mit dieser Vielfalt umgehen, bei uns zählt die Einheit in der Vielfalt.
Wir sind in einem Selbstfindungsprozess. Es ist so wichtig, dass gerade jetzt an deutschen Universitäten ein Forschungsbereich eingerichtet wird, wo wir uns mit dieser Thematik näher beschäftigen. Dort soll eruiert werden: Was ist eigentlich ursprünglich alevitisch? Was wurde von anderen indoktriniert? Was ist durch den Assimilierungsprozess hinzugekommen? Wie immer diese Fragen zu beantworten sein werden: Wir vertreten eine Lehre, in der der Mensch als eigenverantwortliches Wesen im Mittelpunkt der Lehre steht.
Reinbold
Sie sind in einem Selbstfindungsprozess, Sie halten es aus, dass die einen sagen „Wir sind Muslime“ und die anderen sagen „Wir sind es wahrscheinlich doch eher nicht“. Gibt es eine Mehrheitsmeinung, oder ist das zur Zeit eine völlig offene Debatte?
Yildiz
Wenn man Studien betrachtet wie die Studie über „Muslimisches Leben in Deutschland“, dann ist es schon so, dass ein Großteil der Aleviten sich als Muslime versteht. Aber es gibt einen beachtlichen Teil, der sich als eigenständige Religionsgemeinschaft definiert.