Zum Gespräch: Mohammed - was wissen wir über ihn?
VII Mohammed als Vorbild der Muslime
Reinbold: Lieber Herr Nekroumi, ich frage Sie jetzt nicht, wie Sie die Dinge sehen. Mir scheint, wir würden wahrscheinlich zu einem ähnlichen Ergebnis kommen. Lassen Sie uns die verbliebene Zeit lieber nutzen, um im Einzelnen zum Leben des Propheten zu kommen, etwa zu Ihren fünf Punkten, Herr Scheiner.
Bevor wir das tun, fragen wir aber einmal die Schüler der BBS 11 in Hannover, mit der wir ja seit einiger Zeit kooperieren, was Sie denn mit dem Namen „Mohammed“ verbinden.
Video:
Schüler 1: Das ist ein Prophet von den Muslimen. Natürlich sind die ganzen anderen Propheten auch unsere Propheten, also Jesus, Moses, alle sind für uns Propheten, aber Mohammed ist für uns der größte Prophet.
Schüler 2: Da das meine Religion ist, möchte ich genau so sein wie er. Also ich versuche es. Ich versuche, die Sachen nachzuleben, die er auch getan hat. So wie er gebetet hat. Und einige andere Sachen. Wie er mit Menschen umgegangen ist. Z.B. die Barmherzigkeit und so.
Schüler 1: Er war der beste Mensch, den es je auf der Erde gab, meiner Meinung nach. Er ist einfach ein Vorbild für mich. Ich finde, man sollte ihn mehr als Vorbild nehmen als z.B. Ronaldo oder Messi oder wen auch immer. Das sind auch Vorbilder für Fußball zum Beispiel. Aber als Mensch kann man sie nicht zum Vorbild nehmen. Da ist Mohammed ein besseres Vorbild als irgendso ein berühmter Fußballer oder so was.
Reinbold: Der beste aller Menschen, mein Vorbild – könnten Sie als Historiker dieses Bild mit Tatsachen füllen? Mit Geschichten, von denen Sie sagen würden: das sind historische Sachverhalte, die wir belegen können.
Scheiner: Ich möchte zunächst sagen: Wir haben hier einen gelebten Mohammed-Glauben – und das, was ich tue, ist eine Rekonstruktion einer historischen Figur. Und das sind zwei ganz unterschiedliche Dinge.
Es gibt eine Schnittmenge, und deshalb könnte ich Ihnen jetzt ein, zwei Episoden nennen, in denen Mohammed besonders gut gehandelt hat und an denen man sich orientieren kann.
Aber als Historiker könnte ich Ihnen auch ein, zwei Episoden nennen, zu denen ich sagen würde: daran orientieren wir uns besser nicht. Aber der Theologe kann Ihnen sagen, warum die einen Episoden in das Bild eines vollkommenen Mohammed eingegangen sind und warum die anderen theologisch missachtet werden, an den Rand gedrängt werden.
Reinbold: Dann richten wir doch die Frage zunächst einmal an den Theologen. Herr Nekroumi: Mohammed als Vorbild schlechthin, ein Mensch, der vollkommen handelt?
Nekroumi: Die Vorbildfunktion sollte man, denke ich, von der Vollkommenheit trennen. Erst einmal – für diejenigen, die noch nicht die Zeit gehabt haben, den Koran zu lesen – möchte ich darauf hinweisen, dass im Koran sowohl Jesus als auch Moses namentlich genannt werden, darüber hinaus auch viele andere Propheten. Insgesamt sind es um die 340 Belege. Zunächst einmal geht der Islam mit Jesus, Mohammed und Moses eigentlich gleich um: Sie alle sind Botschafter Gottes. Sie haben eine Botschaft von Gott überbracht.
Nun aber zur Vorbildfunktion: Die Vorbildfunktion Mohammeds entsteht in erster Linien dadurch, dass Gott sich Mohammed bzw. den Menschen offenbart hat durch das Wort, durch den Koran. Merkwürdigerweise nun steht ein anderer Prophet im Koran mit dem Begriff „Wort“ in Verbindung, nämlich Jesus. Jesus wird im Koran als „Wort Gottes“ bezeichnet. Sehr interessant!
Also: das Wort Gottes wird im Koran fortgesetzt, und Mohammed ist eigentlich ein Prophet Gottes, der die Autorität hat, das Wort zu deuten. Das heißt: das Leben Mohammeds war eine Art Deutung, Interpretation des Korans und eine historische Konkretisierung dessen, was im Koran stand.
Daher man muss man, wie gesagt, zwei Sachen unterscheiden: Die Vollkommenheit – wenn man von ihr überhaupt sprechen kann – bezieht sich auf Mohammed als Prophet. Aber Mohammed war auch als Mensch tätig. Er hat als Mensch das Wort Gottes als Inspiration bekommen und weitergeleitet. Und nicht nur das, sondern er hat es durch seine Aussagen, die man als Hadith bezeichnet, geklärt, gedeutet, interpretiert, ausgelegt, und zwar situationsgebunden.
Scheiner: … auch durch seine Handlungen, durch sein aktives Leben.
VIII Als Prophet ist Mohammed unfehlbar, als Mensch kann er irren
Nekroumi: Richtig. Das sind zwei Ebenen. Die Ebene der Aussage, das nennt man Hadith. Und die Ebene der Handlung, das nennt man Sunna – aber nur bezogen auf seine Handlung als Prophet. Als Mensch ist Mohammed fehlbar. Als Prophet ist Mohammed unfehlbar.
Reinbold: Und woher weiß ich, wann er das eine ist und wann das andere?
Nekroumi: Wenn Mohammed zum Beispiel eine Aussage in Bezug auf die Erklärung des Korans macht, dann ist es klar, dann ist es ein Hadith. Wenn Mohammed aber in einer privaten Angelegenheit handelt, dann ist er eine Privatperson.
Reinbold: Und da kann er irren?
Nekroumi: Mohammed ist ein Mensch. Er geht auf die Märkte, und er isst, wie ihr – so steht es im Koran. Daher hat man auch in der Sira Fehler im Leben des Propheten eingeräumt. Dass er zum Beispiel nach der ersten Schlacht gegen die Mekkaner bei Badr – und wohlgemerkt: bitte versuchen Sie, das Wort „Ungläubige“ zu vermeiden! Weil das Wort im Koran nicht eins zu eins existiert. Es gibt etwas, das ähnlich ist, aber das Wort kufr heißt nicht unbedingt „Unglaube“. Das Wort „Glaube“ in Bezug auf kufr gibt es nicht. Sondern kufr heißt „verdecken“, „verleugnen“ oder aber „undankbar sein“. Das sind die Bedeutungen von kufr im Koran.
Reinbold: Dieser Exkurs berührt einen sehr wichtigen Punkt, weil das Wort „Ungläubige“ in der allgemeinen Diskussion um den Islam eine gewaltige Rolle spielt. Wir müssten nach Ihrer Auffassung also viele der gängigen deutschen Koranübersetzungen ändern, weil dieses Wort dort sehr häufig gebraucht wird.
Nekroumi: Richtig.
Reinbold: Man müsste also übersetzen: die „Verdecker“ oder die „Undankbaren“ oder etwas in der Art.
Nekroumi: Richtig. Wenn das Wort kufr im Zusammenhang mit schukr gebraucht wird, dann ist es eine klare Aussage: dann heißt es „Dankbarkeit“ und „Undankbarkeit“. Oder es heißt „verleugnen“ und so weiter.
Zurück zum eigentlichen Thema: der Prophet hat, wie gesagt, nach der ersten Schlacht gegen die Mekkaner bei Badr ca. 625 Folgendes getan: er hat, nachdem er die Schlacht gewonnen hatte, empfohlen, die Mekkaner, die in Kriegsgefangenschaft geraten waren, festzunehmen und als Gefangene zu betrachten.
Ein Gefährte des Propheten, der später Kalif wurde, namens Omar hat nach der Überlieferung empfohlen, diese Gefangenen zu töten, weil es im Koran nichts gibt, das eine Gefangennahme legitimiert. Der Prophet aber hat nichts dergleichen gesagt. Er hat gesagt: Ich muss auf die Offenbarung warten.
Und dann kam die Offenbarung (Sure 8,67), und sie hat dem Propheten gesagt, weshalb er tatsächlich keine Kriegsgefangenen machen darf: nämlich weil er sie gegen Güter des Diesseits eintauschen könnte, was unangemessen wäre. Das ist einer der Fehler, die genannt worden sind, eine der Geschichten, die von einer Fehlinterpretation der Offenbarung durch Mohammed erzählt.
Reinbold: Und wenn Sie ein Beispiel für das barmherzige Handeln des Propheten, erzählen sollten, von dem einer der Schüler im Video gesprochen hat – welche Geschichte würden Sie da erzählen?
Nekroumi: Die Hadith-Traditionen, die Aussagen des Propheten, ergänzen sich mit dem Koran. Der Koran ruft dazu auf, dass man zum Beispiel seinen Nächsten so liebt, wie man sich selbst liebt.
Im Hadith gibt es eine schöne Aussage, die auch die koranischen Verse erklärt, in der es heißt: Diejenigen, die mir von euch im Jenseits am nächsten sein werden und diejenigen von euch, die ich am meisten liebe, sind diejenigen, die die Menschen lieben und die von den Menschen geliebt werden.
Nun war die große Frage der Gefährten natürlich: O Prophet, man kann die Menschen lieben. Aber wie kann man von den Menschen geliebt werden? Und da hat der Prophet gesagt: Das ist eure Aufgabe. Das ist die Aufgabe des Glaubens.
Es gibt eine reichhaltige Tradition über Deutungen und Interpretationen von Koranversen zu Barmherzigkeit, zu Nächstenliebe …
Reinbold: … die aber nicht im Koran steht, oder doch?
Nekroumi: Doch, ja, im Koran, und dann erläutert durch den Hadith. Auch zum Umgang mit den Andersgläubigen, mit christlichen und jüdischen Gemeinden, die in Medina gelebt haben – die übrigens nicht als „Ungläubige“ bezeichnet werden. Christen und Juden werden als Ahl al-kitab, als „Besitzer der Schrift“, als Schriftkundige bezeichnet. Und deren Religionen werden anerkannt.
Reinbold: Es gibt allerdings auch andere Geschichten, in denen Juden und Christen als „Ungläubige“ bezeichnet werden, jedenfalls in den üblichen Koranübersetzungen. Das ist ja gerade das Irritierende.
Nekroumi: In keinem Kontext gibt es im Koran das Wort „Ungläubige“ in Bezug auf Juden und Christen.
Reinbold: Unter der Voraussetzung, dass Sie das Wort kufr so übersetzen, wie Sie es vorhin gemacht haben.
Nekroumi: Das Wort kufr bezieht sich nicht, an keiner Stelle im Koran, auf Juden und Christen.
Scheiner: Und kafir? (das ist aus der gleichen Wurzel, nur eine andere Form).
Nekroumi: Das sind „Undankbare“. Auch das bezieht sich nicht auf Juden und Christen. Juden und Christen haben eine ganz klare Bezeichnung im Koran, nämlich ahl al-kitab, Leute der Schrift.
Scheiner: Die Frage ist, wie diese beiden Konzepte miteinander im Verhältnis stehen. Ich habe jetzt keine Studie im Kopf, die das untersucht hat, das wissen Sie besser als ich, Herr Nekroumi. Aber das ist ja die zentrale Frage: Wie steht der Begriff kafir/kufr, „Ungläubiger“ zum Begriff ahl al-kitab, „Leute des Buches“ im Koran?
IX Mohammed – ein Mörder?
Reinbold: In Anbetracht der Zeit sollten wir jetzt zu den dunklen Seiten im Leben des Propheten kommen, die in der allgemeinen Diskussion eine große Rolle spielen. Viele Menschen sorgen sich, dass Mohammed ein Kriegsherr war, der rücksichtslos Menschen umgebracht hat, der Todesurteile angeordnet hat – was sagt der Historiker dazu?
Scheiner: Weil es Sie interessiert hat, welche fünf Situationen im Leben des Propheten mein Doktorvater untersucht hat: eine dieser Situationen war ein Mordkommando, das Mohammed losgeschickt hat gegen einen jüdischen Händler namens Ibn Abi Huqaiq. Mohammed hat eine Truppe von acht Leuten losgeschickt, die den Mann töten sollten – so erzählt es uns die Sira, die schriftlichen Quellen über das Leben Mohammeds.
Mein Doktorvater hat diese Geschichte untersucht, mit vielen parallelen Quellen, und hat ein Ereignis rekonstruiert, in dem dieser Auftrag tatsächlich so gegeben wurde. Man könnte sagen: zur Durchsetzung seiner politischen Ziele hat Mohammed zumindest in diesem einen Fall – vielleicht auch in zwei, drei anderen Fällen – Leute losgeschickt, um seine politischen Gegner zu töten.
Das ist vor dem Hintergrund eines Machtpolitikers, der einen Staat aufbaut und eine Gemeinde formt und eine Gruppe zusammenbringt, vielleicht ein Mittel, das legitim ist bzw. das üblicherweise im 7. Jahrhundert benutzt wurde.
Im Hinblick auf die Frage aber: Ist eine Vorbildhandlung? Und wenn ich mir Mohammed als Vorbild nehme – nehme ich mir dann auch solche Handlungen als Vorbild? Im Hinblick darauf ist es ein Problem und anders zu bewerten.
Reinbold: Bevor ich Herrn Nekroumi die Gelegenheit gebe, zu reagieren, eine Anschlussfrage: die Hinrichtung eines großen jüdischen Stammes in Medina, zu der die Überlieferung sagt, dass etwa 800 Leute getötet wurden – haben Sie da auch eine Position zu? Kann man das beurteilen?
Scheiner: Ich würde zuerst sagen: die Quellen erzählen uns von dieser Hinrichtung. Diese Situation wurde noch nicht quellenkritisch untersucht. Das heißt, ich habe jetzt erst einmal den Filter des muslimischen Historikers vor mir, der diese Geschichte erzählt.
Und in seiner Erzählung werden ganz spannende Schwerpunkte gesetzt. Zum einen werden nur die Männer hingerichtet, Frauen und Kinder werden versklavt. Es ist kein Genozid-Bild, so als würde ein ganzer Stamm getötet, sondern es wird differenziert.
Zum zweiten gibt nicht Mohammed selbst den Auftrag, sondern einer seiner Gefährten. Das heißt: wir haben schon in dieser Erzählung des Ereignisses eine, wie soll ich sagen, Zurückdrängung des aktiven Mohammeds und eine Hervorhebung seines Gefährten, der da nämlich sagt: O.k., jetzt Kopf ab für alle Männer!
Was genau passiert ist: Ob Mohammed den Befehl gegeben hat, oder ob er sich wirklich zurückgehalten hat und der Gefährte den Befehl gegeben hat, kann ich zu diesem Zeitpunkt, ohne Untersuchung nicht sagen als Historiker. Ich kann aber sagen: es wird so erzählt, es wird so bewahrt, es wird so weiter gegeben im allgemeinen Wissen muslimischer Gläubiger.
Reinbold: Wie geht der islamische Theologe Nekroumi mit solchen Geschichten um?
X Unterschiedliche Qualitäten der Hadith-Überlieferung
Nekroumi: Es ist vollkommen richtig. Daran hat die muslimische Theologe seit langem zu knabbern, ähnlich wie die christliche mit den blutigen Stellen in der Bibel und die jüdische mit den entsprechenden Stellen in der Tora.
Was den Islam anbetrifft, so muss man von Fall zu Fall immer wieder die Überlieferung überprüfen. Es gibt ja in der Hadith-Tradition verschiedene Kategorien der Überlieferung. Eine Aussage des Propheten wird nach einer bestimmten Skala bewertet, von „sehr gut“ bis „sehr schlecht“ (sahih, hasan, daif). Und je nach Bewertung der Überlieferung wird ein Hadith entweder angenommen oder verworfen.
Und es gibt sogar einen Mann, der im dritten Jahrhundert islamischer Zeitrechnung gelebt hat und gesagt hat: Wenn euch ein Hadith überliefert wird mit einer Aussage des Propheten, dann vergleicht sie mit dem Koran. Wenn sie mit dem Koran übereinstimmt, akzeptiert sie. Wenn sie mit dem Koran nicht übereinstimmt, dann verwerft sie.
Zu der Geschichte, die Sie erwähnt haben: In der Hadith-Überlieferung finden wir neben solchen Geschichten auch eine Menge Geschichten, in denen positiv über Juden und Christen erzählt wird.
Zum Beispiel, dass der Prophet mit seinen Freunden nach dem Gebet vor der Moschee in Mekka saß und sich unterhielt. In dem Moment kommt eine Gruppe von Männern vorbei …
Reinbold: … ein Trauerzug – diese Geschichte habe ich schon häufig gehört.
Nekroumi: Richtig, ja, ein Trauerzug kommt vorbei, und plötzlich steht der Prophet auf. Da haben die Gefährten sich gewundert: O Prophet Allahs, warum bist du aufgestanden? Und Mohammed sagt: da ist ein toter Mann, ihr müsst aufstehen, um ihm Respekt zu erweisen. Wir dürfen uns nicht unterhalten, während ein Trauerzug an uns vorbeigeht. Da hat ein anderer Gefährte zu ihm gesagt: Weißt du nicht, dass der Tote ein Jude ist? Und da hat der Prophet ihn angeschaut und gesagt: Ist er kein Mensch?
Also: es gibt sehr widersprüchliche Überlieferungsschichten, und man muss neben der Überprüfung der Überlieferung eine textwissenschaftliche und philologische Analyse machen, damit man sieht, in welche Richtung die Argumentation des Glaubens im Islam geht. Wenn diese Richtung verlorengeht, dann haben wir ein Problem.
Scheiner: Wenn ich kurz kommentieren darf. Sie sehen: wo ich als Historiker sagen muss, dass ich die Frage eigentlich nicht beantworten kann, kann mein Kollege als Theologe sagen: Mit anderen Texten erkläre ich das so und so, und das war so.
Sie als Zuschauer müssen sich jetzt überlegen: Welche Antwort gefällt Ihnen besser? Wie gehen Sie mit den zwei Antworten zwischen Theologie und historischer Wissenschaft um? Das ist absolut zentral: für alle Bereiche im Islam, für alle Themen, die Sie in den Zeitung undsoweiter lesen. Deshalb mache ich diesen Punkt so stark: Sie werden immer mit verschiedenen Positionen konfrontiert und müssen letztlich wissen, was der Hintergrund ist und welcher Position Sie sich anschließen wollen. Das ist elementar für alle Diskussionen zum Islam.
XI Tugend und Gemeinwohl, das ist die Aussage des Korans
Reinbold: Sie haben eben etwas gesagt, was aus meiner Sicht sehr zentral ist. Sie haben gesagt: Es gibt eine Richtung der Überlieferung. Eine bestimmte – darf ich sagen? – Tendenz.
Nekroumi: Eine Argumentationstendenz, ja.
Reinbold: Und wo geht die hin?
Nekroumi: Sie geht in Richtung einer ethischen Ausrichtung. Tugend und Gemeinwohl, das ist die Aussage des Korans in erster Linie, das ist die ethische Ausrichtung der göttlichen Botschaft, der göttlichen Barmherzigkeit.
Im Korpus der Überlieferung gibt es eine Unausgewogenheit. Unter den Hadithen fallen diejenigen stärker ins Gewicht, die in die Richtung einer ethischen Ausrichtung des Korans gehen. Sie wiegen schwerer auf der Waage als die punktuellen Aussagen und die Reaktionen auf bestimmte politische Ereignisse.
Wichtig ist darüber hinaus: Der Koran bezeichnet sich als Fortsetzung der Bibel und Tora. Aber er wiederholt sie nicht zu 100 Prozent, sondern der Koran ist ein Rezitationstext. Er hat eine poetische Struktur. Er ist zur Rezitation gedacht. Gleichzeitig hat der Koran bestimmte Normen der Bibel und der Tora revidiert bzw. abrogiert, also erneuert.
Zum Beispiel die Strafe der Unzucht bzw. des Fremdgehens. Sie wissen ja: in der Bibel, genauer im Alten Testament ist die Strafe bei Unzucht Steinigung. Im Koran gibt es keinen Steinigungsvers – entgegen dem, was üblicherweise so erzählt wird. Die Strafe, die für Unzucht bzw. Ehebruch erwähnt wird, ist vielmehr Auspeitschen.
Reinbold: Und das ist sozusagen „besser“?
Nekroumi: Nein, nein, es geht nicht um „besser“. Ich glaube, wir machen einen groben Fehler, wenn wir ahistorisch denken. Die Menschen haben in einer anderen Zeit gelebt. Daher sollten wir mit den Vergleichen ein bisschen vorsichtig umgehen.
Scheiner: Das finde ich spannend: dass Sie als Theologe sagen: wir müssen historisch denken!
Nekroumi: Ja, richtig.
Scheiner: Das finde ich jetzt eine ganz spannende Wendung des Gesprächs.
Nekroumi: Ja, und mit „Historie“ meine ich den Vollzugszusammenhang des Lebens. Es gibt kein Leben ohne Kontext und Situation. Daher können wir nicht abstrakt sagen: Das, was Mohammed gemacht hat, gilt auch für uns. Oder das, was Moses gemacht hat, gilt auch für uns. Sondern der Theologe muss sich damit auseinandersetzen, was theologisch in einer bestimmten Situation, in einem bestimmten Kontext von Bedeutung ist. Das nennt man eigentlich die „Auslegung“ der Tora, der Bibel oder des Korans.
In diesem Zusammenhang möchte ich noch einen kleinen Hinweis geben zum Thema Abrogation bzw. Intertextualität zwischen Bibel, Tora und Koran. Die drei Texte beeinflussen einander. Das nenne ich „Intertextualität“. Man kann uns im Allgemeinen „Textgemeinschaften“ nennen.
Zurück zum Thema: Im Koran wird die Steinigung nicht erwähnt. Man findet sie aber wo? In einem Hadith, in einer Aussage des Propheten! Und dann fragt man sich: woher kommt sie eigentlich? Im Koran steht sie nicht. Und dann findet man eine Reihe von Aussagen, die historisch schwierig zu belegen sind – d.h. schwache Hadithe –, die zu belegen versuchen, dass Steinigung auch islamisch ist. In diesen Texten findet sich auch ein Hinweis auf die Tora – so verflochten war das Verhältnis zwischen Judentum, Christentum und Islam.
Das heißt: hier ist viel Arbeit zu leisten. Wir sind viel näher beieinander, als wir denken. Also: wie sollen mit diesen normativen Texten umgehen? Wir müssen sie intertextuell erklären. Wir müssen Vergleichsstudien machen zwischen den drei normativen Texten Tora, Bibel und Koran.
XII Hat Mohammed die 6-jährige Aischa geheiratet?
Reinbold: Ich würde jetzt sehr gern noch sehr lang nachfragen, aber wir haben genau noch zwei Minuten dreißig, und ich gebe jetzt Herr Scheiner noch die Möglichkeit uns zu sagen: Wir haben ein Ereignis aus dem Leben des Propheten gehört, von dem Sie sagen würden, dass wir dort auf historischem Grund stehen. Sie haben jetzt 2.30 für die anderen vier.
Scheiner: Über die vier zu sprechen in dieser kurzen Zeit, ist nicht möglich. Ich wähle eins von vier aus.
Eine der ganz berühmten Fragen zum Leben des Propheten Mohammed betrifft die Überlieferung über seine Ehe mit Aischa. Mohammed soll seine Ehefrau als Kind im Alter von sechs Jahren geheiratet haben. Nach den klassisch islamischen Quellen soll er die Ehe im Alter von acht Jahren vollzogen haben.
Diese Information ist in der europäischen Geistesgeschichte seit etwa 1200 bekannt und wurde immer wieder polemisch gegen den Islam benutzt. Mohammed – ein Perverser, Mohammed treibt es mit Kindern, und so weiter, das waren die Schlagzeilen. In unseren Ohren heute klingt das genauso negativ.
Wie gehen wir mit dieser Geschichte um? Zuerst einmal haben wir natürlich sofort eine Haltung dazu: das geht gar nicht! Gleichzeitig stellt sich die Frage: was steckt hinter der Geschichte? Warum erzählt uns ein muslimischer Historiker 150 Jahre später diese Geschichte als etwas Wichtiges aus dem Leben Mohammeds? Wa steckt da mehr dahinter?
Zwei Gedanken dazu: Zum einen müssen wir diese Ehe vielleicht als politische Ehe verstehen. Mohammed wollte sich verbünden mit dem Vater dieser Frau.
Zum anderen war Mohammed vielleicht auf der Suche nach einem Nachkömmling. Er hatte einen Sohn, der früh gestorben ist, mehrere Töchter, die nicht überlebt haben. Vielleicht war das sein Zugang, um Kinder zu bekommen.
Das sind, auf die Schnelle, zwei Ideen, die aus dieser abstrusen Geschichte – wie gesagt: in der europäischen Geistesgeschichte seit 800 Jahren das Argument gegen den Islam – vielleicht ein wenig Sinn herausholen könnten.
Ansonsten ist das eine Geschichte, die eine Kante der Figur Mohammed darstellt, da kommen wir nicht drumherum. Da kommen auch die Theologen nicht drumherum. Man kann sie natürlich totschweigen. Aber man kann auch versuchen, das beste daraus zu machen, das beste hineinzulesen.
Reinbold: Aber eine historische Tatsache ist es nach Ihrer Auffassung?
Scheiner: Kann ich nicht sagen. Ohne die Untersuchung der Texte kann ich das und will ich das nicht sagen. Alle, die sagen: es ist eine wahre Geschichte, handeln wissenschaftlich naiv. Und alle, die sagen: es ist keine wahre Geschichte, handeln mindestens genauso naiv.
Reinbold: Ich nehme das einmal als Schlusswort. Es bleibt sehr viel zu tun – fünf Geschichten in fünfzig Jahren hat Ihr Doktorvater erforscht. Wir brauchen eine Menge muslimische Gelehrsamkeit, bis wir an diesen Stellen in vielen Jahren weiterkommen. Herzlichen Dank Ihnen beiden für dieses Gespräch!