Kraft
Wenn man zehn Jahre Religionsunterricht hatte und hinterher auch das Glaubenbekenntnis kennt, dann ist das sicherlich keine falsche Sache. Es gibt zwei didaktische Ansätze in der aktuellen Diskussion, die versuchen, das aufzunehmen. Das eine ist die Kinder- und Jugendtheologie, und das andere ist die performative Didaktik.
Bei der Kinder- und Jugendtheologie geht es darum, welche Theologie für Kinder und Jugendliche wir brauchen. Aber wir sagen: Kinder und Jugendliche sind Theologen, und in diesem Zwischenspiel von Theologisieren mit Kindern, Theologie für Kinder und Theologie der Kinder, da spielt sich das ab, was ich Vermittlung und Aneignung theologischen Wissens nennen würde.
Das andere ist die performative Didaktik. Sie setzt einen anderen Akzent und stellt die Frage, ob man eigentlich Religion angemessen verstehen kann, wenn man selbst keine Praxiserfahrung mit Religion hat. Inwieweit muss, wenn ich Religion als ein ganzes sehe, auch die Praxis der Religion ansatzweise im Religionsunterricht vorkommen, unter den besonderen schulischen Bedingungen? Da hat die performative Didaktik durchaus Elemente ins Spiel gebracht wie etwa Gespräche über das Gebet. Es geht dabei aber nicht darum, Gebetübungen abzuhalten, damit ich ein guter Christ wäre. Sondern es geht darum zu verstehen, was das Gebet für Christen bedeutet. Es geht darum, Praxiserfahrungen zu machen, die hinterher sofort wieder reflektiert werden. In diesem Zwischenspiel von Annehmen und Distanz, von Praxis und Reflektion, spielt sich Religionsunterricht ab.
Reinbold
Frau Abdel-Rahman, Sie haben gesagt, dass die Lehrer und Lehrerinnen zu Beginn ihre losen Blattsammlungen hatten und dass jeder sich seinen Inhalt selbst zusammenstricken musste. Inzwischen gibt es Bücher und einen heftigen Streit um die Frage, was eigentlich drinstehen muss in so einem islamischen Religionsbuch. Eines der ersten Bücher, das geschrieben wurde, trägt den Titel „Saphir“. Einer der islamischen Verbände, die Milli Görüş, hat das Buch bei Erscheinen scharf kritisiert, ich zitiere das einmal: „Das Buch widerspricht dem Selbstverständnis und den Erziehungszielen der muslimischen Religionsgemeinschaften zum Teil erheblich“, es ist für den Unterricht „ungeeignet“. Kritisiert hat der Verband insbesondere, dass das Buch über den Islam informiert und reflektiert, dass es etwa beim Gebet aber nicht sagt: Wir Muslime beten so und so. Sondern der erste Satz in diesem Buch zum Thema „Gebet“ lautet etwa: „Manche Menschen beten zu Gott, vielleicht auch Du“. Die Kritik sagt: So etwas geht nicht, man muss den Kinder doch das Gebet beibringen! Ist das eine in der muslimischen Gemeinschaft verbreitete Meinung?
Abdel-Rahman
Ich habe das Buch auch mit meinen Studenten diskutiert. Der Student, der über das Buch referiert hat, hat sinngemäß gesagt: Es ist ein sehr gutes Ethikbuch, aber es reicht nicht, wenn man die entsprechenden ethischen Stellen mit einem bisschen Koran und Hadith schmückt. Ich persönlich teile diese Kritik. Ich halte dieses Buch für ein ausgezeichnetes pädagogisches Buch und für ein Buch, das sehr nah an den Schülern ist. Man merkt die Erfahrung der Autoren im Umgang mit muslimischen Schülern. Aber auch mir ist die religiöse Gewichtung zu schwach.
Ich persönlich habe das Empfinden, dass das auch ein bisschen mit der Situation des Islamunterrichts in Nordrhein-Westfalen und generell in Deutschland zu tun hat. Als das Buch entstanden ist, war überall die Rede davon, dass wir einen bekenntnisorientierten Islamunterricht einführen. Aber wir hatten ihn nirgends, sondern wir hatten islamkundlichen Unterricht, d.h. einen Unterricht, der über die Religion informiert. Nun ist es für einen Schulbuchautor extrem schwer, ein Buch zu schreiben, wenn er nicht so genau weiß, ob es nun bekenntnisorientiert oder islamkundlich sein soll. Wenn ich recht sehe, haben sich die Autoren bemüht, beiden Ansprüchen gerecht zu werden. Das geht aber meines Erachtens religionspädagogisch nicht. Für einen bekenntnisorientierten Religionsunterricht ist es nicht ausreichend.
Reinbold
Die Autoren und Autorinnen haben die Kritik seinerzeit scharf zurückgewiesen und dem Verband Milli Görüş vorgeworfen, dass er im Grunde gar nicht wisse, was eine deutsche Schule ist. Der Islamunterricht, wie er gefordert werde, sei eine Art „Indoktrinationsunterricht“, hieß es.
Abdel-Rahman
Es gibt ein Beispiel in einem dieser Bände, an dem man das Problem sehr gut erkennen kann. An einer Stelle geht es um den Ramadan. Da ist ein Dialog abgebildet zwischen einem muslimischen Geistlichen, einem Imam, und einem jungen Menschen. Sie diskutieren darüber, ob er im Ramadan fasten muss. Die ganze Geschichte dreht sich nur darum: Eigentlich ist es vorgeschrieben, du müsstest fasten im Islam. Aber wenn du es nicht schaffst, dann faste halt nicht. Aber eigentlich ist es Pflicht. Aber wenn du es nicht hinbekommst, dann faste halt nicht. Am Ende dieses Textes ist man nicht schlauer.
Ich persönlich fände es besser, wenn man sagt: Das Fasten ist im Islam Pflicht. Aber wenn du diese und jene Bedingungen hast, die es dir erschweren, dann müssen wir fragen: Wie kannst du damit umgehen? Welche Möglichkeiten hast du im Islam, diese Pflicht auszufüllen? Unter welchen Bedingungen darfst du diese Pflicht verschieben? Wir haben ja Handwerkszeug im Islam, das uns anbietet, in bestimmten Situationen nicht zu fasten. Ich würde es so machen. Das ist besser als dieses Lavieren: Ja, es ist Pflicht, aber wenn du es nicht schaffst, versuche es halt später. Es ist nicht ganz ehrlich in meinen Augen. Das Fasten im Ramadan ist einer der grundlegenden Gottesdienste. Das darf man meines Erachtens nicht klein reden. Natürlich kann es ein Problem sein, als Jugendlicher so lange Zeit zu fasten und dann eine Klassenarbeit zu schreiben. Aber in meinen Augen müsste man dann sehr viel sauberer argumentieren.
Reinbold
Herr Kraft, Sie haben in einer Publikation davon gesprochen, der Schulversuch in Niedersachsen habe „religionspolitische Bedeutung“. Es sei offenkundig, dass der Staat gewissermaßen die Muslime erziehen wolle durch den Religionsunterricht. Sind Sie der Meinung, dass der Staat sich unzulässigerweise einmischt in die Angelegenheiten der Religionsgemeinschaften?
Kraft
Religionsunterricht hat immer eine zivilreligiöse Funktion. Wir alle kennen das schöne Zitat von Böckenförde: „Der Staat lebt von Grundlagen, die er selbst nicht schaffen kann.“ Deshalb ist es ihm wichtig, dass es religiöse Erziehung gibt, dass Menschen über ihre Religion etwas erfahren können, dass sie ein Wertbewusstsein bekommen, das auch religiös fundiert ist. Von daher ist es alles andere als uninteressant, welches Wertbewusstsein aus welchem Unterricht entsteht, und von daher muss die Gesellschaft ein großes Interesse am Religionsunterricht und seinen Wirkungen haben.
Diese zivilreligiöse Funktion hat der Evangelische und Katholische Religionsunterricht und selbstverständlich auch der Islamische Religionsunterricht. Er dient nicht nur der Glaubenstradierung oder sorgt dafür, dass Kinder und Jugendliche für ihren Glauben eine Sprache finden, sondern er hat eine gesellschaftliche Bedeutung. Er trägt dazu bei, dass Menschen friedlich in dieser Gesellschaft zusammen leben, er trägt dazu bei, dass die Grundwerte, die diese Gesellschaft zusammenhalten, auch von den jeweiligen religiösen Traditionen begründet und gelebt werden können. Deshalb hat Islamischer Religionsunterricht natürlich eine politische Bedeutung. Die Frage, ob der Islam in Gänze in Deutschland angekommen ist, ist ja eine offene Frage. Wir haben parallelgesellschaftliche Strukturen nicht nur in Neukölln, sondern auch in anderen Quartieren in Deutschland. Wie Muslime ihr zu Hause finden in diesem Staat, ist noch nicht zur Gänze ausgemacht. Wenn der Islamische Religionsunterricht einen Beitrag dazu leisten kann, dass auch muslimische Kinder und Jugendliche hier leichter ihren Platz finden, dann ist das eine großartige Sache.