Ich begrüße Imam Abdul-Jalil Zeitun von der Ibrahim Al-Kalil-Moschee in Osnabrück. Herr Zeitun kommt ursprünglich aus Syrien, aus Zabadani in der Nähe von Damaskus. Er lebt seit über 40 Jahren in Deutschland, ist seinerzeit zum Studium hierher gekommen. Seit vielen Jahren arbeitet Herr Zeitun ehrenamtlich als Imam. Mitte der 90er Jahre hat er in Osnabrück eine Moschee aufgebaut, die Ibrahim Al-Kalil-Moschee, in der er seit dieser Zeit ehrenamtlich tätig ist. Herr Zeitun ist zweiter Vorsitzender des Landesverbandes der Muslime in Niedersachsen, der Schura. Und er hat, da gibt es eine Verbindung zwischen unseren beiden Gästen, am ersten Weiterbildungsstudiengang für die Imame in Osnabrück teilgenommen im Jahr 2010/2011. Herzlich willkommen Herr Zeitun.
Warum spielen Imame in der Öffentlichkeit kaum eine Rolle?
Herr Ceylan, in den letzten Wochen war viel von den sogenannten Salafisten die Rede. Sie haben in einem der vielen Interviews, die Sie dazu gegeben haben, gesagt, dass „die große Mehrheit der friedliebenden moderaten Imame“ diesen Leuten wenig entgegenzusetzen hat. Auf die Salafisten werden wir später kurz zu sprechen kommen. Lassen Sie uns zunächst einmal diese Mehrheit der friedliebenden moderaten Imame in den Blick nehmen. Was sind das für Männer, und warum hören wir so wenig von ihnen?
Ceylan
Das hat unterschiedliche Gründe. Es gibt drei Säulen in der religiösen Erziehung. Die erste ist die Familie. Über die Erziehung in der Familie wissen wir nicht so viel, es gibt kaum empirische Arbeiten dazu. Als zweite Säule spielt die Moschee eine wichtige Rolle. Die dritte Säule wird in Zukunft die Schule sein.
Die Imame sind die theologische Referenz, das heißt, sie bieten an Wochenenden Islamunterricht an. Seit der Arbeitsmigration in den 60er und 70er Jahren spielen Imame in der muslimischen Gemeinschaft eine wichtige Rolle, allerdings hat die Politik die Bedeutung des Imams als Multiplikator lange Zeit nicht recht erkannt. Mir ist das aufgefallen, als ich zwischen 2001 und 2006 über „Ethnische Kolonien“ geforscht habe, unter anderem in Moscheen und Männercafés. Vor allem in den Moscheen ist mir aufgefallen, wie wichtig die Imame sind. Und bei den Recherchearbeiten habe ich dann festgestellt, dass es dazu fast keine Literatur gab.
Seit vier, fünf Jahren hat sich das geändert. Auch die Politik hat mittlerweile gemerkt, dass Imame wichtig sind. Im Jahr 2010 hat der Wissenschaftsrat empfohlen, dass man an den deutschen Universitäten Imame ausbilden soll. Auch wenn ich mich manchmal frage, wie realistisch die Erwartungen an die Imame eigentlich sind, bin ich selbst damit zufrieden, dass wir in Deutschland jetzt damit anfangen, Imame auszubilden.
Reinbold
Wenn ich Kirchengemeinden frage, ob sie Kontakt zu Moscheegemeinden haben, dann sagt man mir manchmal: „Ja, da war mal was, da war auch mal ein Imam hier. Aber dann war der auch bald wieder weg.“ Das ist eine verbreitete Erfahrung. Man hat den Eindruck, Imame kommen und gehen alle paar Wochen, alle paar Monate. Woran liegt das?
Ceylan
Das kommt auf die Moschee an. Es gibt Imame, die nach dem Rotationsverfahren nach Deutschland kommen. Sie bleiben vier bis fünf Jahre hier, dann werden sie ausgetauscht. Dann gibt es Moscheegemeinden, die den Imam einstellen und selbst bezahlen. Die Erfahrung zeigt, dass die Fluktuation gerade in diesen Moscheegemeinden sehr hoch ist. Denn wenn die Moscheegemeinde den Imam bezahlt, dann hat er nicht nur einen Chef, sondern die ganze Gemeinde ist gewissermaßen sein Chef. In manchen Moscheegemeinden ist die Fluktuation wirklich sehr stark.
Reinbold
Die Fluktuation hat also vor allem mit den Finanzen und mit internen Unstimmigkeiten zu tun?
Ceylan
Es können interne Gründe sein, es kann am Aufenthaltsstatus des Imams liegen, und ein Großteil kommt so oder so nach dem Rotationsverfahren. Anders ist es zum Beispiel beim Verband der Islamischen Kulturzentren (VIKZ). Da sind in der Regel Imame, die für eine längere Zeit in den Moscheegemeinden ihre Dienste anbieten.
Sie haben vorhin die neue Studie über die Imame erwähnt. Ein Ergebnis ist, dass nur 30 bis 35 % der Imame ein Theologiestudium haben. Das ist wenig, auch wenn die Studie betont, dass die Imame überdurchschnittlich gut ausgebildet sind. Ich finde, jeder Imam sollte ein Theologiestudium aufweisen können.
Wie wird man Imam?
Reinbold
Herr Zeitun, wie sind Sie Imam geworden?
Zeitun
Ich bin Imam geworden nach der klassischen Methode. In Damaskus gab es sechs, sieben große Gelehrte. Sie haben Kurse angeboten, immer für ein halbes Jahr. Da ging man zwei Mal die Woche hin. Ich bin jeden Tag zu einem dieser Gelehrten gegangen. Hier gab es eine Koranlesung zu einer Aussage zum Propheten, da Koranexegese, Koranrezitation, Koranregeln, Rechtssystem, und so weiter. Das meiste lernte man mit anderen zusammen, wie in einer Schulklasse, anderes bei jedem Gelehrten auch alleine. Manche Gelehrte unterrichteten alle Fächer. Beliebter waren die Spezialisten, wie zum Beispiel im Fach „Hadith“ [Aussagen des Propheten Muhammad], da hatten wir einen der größten Imame der Welt, Nasreddin Albani aus Albanien. Am besten war es, zu ihm zu gehen und bei ihm die Aussagen zum Propheten zu lernen. Und Scheich Saleh Akkad hat immer die schafiitische Rechtsschule unterrichtet, von A bis Z, von der Waschung bis zum Gebet, bis zum Almosen, Ausgaben, Steuern, und so weiter.
Reinbold
Was stand am Ende dieser Ausbildung? In Deutschland hätten Sie ein Zeugnis bekommen oder ein Zertifikat. Wie war das in Damaskus?
Zeitun
Nein, so etwas gab es nicht. Wenn man fertig ist, geht man zuerst in die Dörfer und predigt.
Reinbold
Herr Ceylan, ist das ein Theologiestudium nach unseren Maßstäben?
Ceylan
Wenn ich Herrn Zeitun recht verstanden habe, ist das keine akademische Ausbildung. Es ist eher eine private bzw. klassische Ausbildung bei den Gelehrten, den Ulama.
Reinbold
Herr Zeitun, wie funktioniert die Autorisierung? Woher weiß ich, dass der Herr Zeitun ein guter Imam ist? Wird das anerkannt, weil man weiß, dass die Lehrer, bei denen Sie gelernt haben, gute Lehrer sind?
Zeitun
Das ist eine Tatsache. Ich habe in über hundert Moscheen als freier Prediger gebetet.
Was macht ein Imam?
Reinbold
Von dem, was ein Pastor oder eine Pastorin macht, haben die meisten Menschen eine ungefähre Vorstellung. Man trifft sie bei Taufen, im Konfirmandenunterricht, beim Gottesdienst, auf dem Friedhof. Aber was macht eigentlich ein Imam in Deutschland, sieben Tage die Woche?
Zeitun
Man hat zuerst fünf Mal am Tag die Gebete zu verrichten als Vorbeter. Dann hat man Sitzungen für Koranexegese, eine Sitzung für Hadith, für Aussagen zum Propheten, man hat Koranunterricht für die Kinder. Wir machen auch Führungen. Es besuchen uns fast jede Woche drei bis vier Schulklassen. Sie stellen uns Fragen über den Islam. Wir machen auch Kindergartenveranstaltungen. All das mache ich nicht alleine, sondern mit einem Team, mit Ausnahme des Vorbeters, das mache ich allein. Freitags predige ich immer und vieles mehr. Auch Trauungen haben wir, in der Regel zweimal die Woche.
Reinbold
Fünf Mal am Tag beten – das heißt, Sie sind im Sommer morgens um vier Uhr da, bevor die Sonne aufgeht?
Zeitun
Im Sommer beten wir nachts, bevor wir nach Hause gehen. Im Mai, Juni, Juli und August ist der Tag ja sehr lang. Im Winter um 16 Uhr haben wir das vierte Gebet. Jetzt im Frühjahr und Sommer haben wir das vierte Gebet um 22 Uhr. Das sind fast sechs Stunden Unterschied. Sie wissen ja: Wir haben einen Gebetskalender, nach dem wir uns richten, und die Gebetszeiten ändern sich mit den Jahreszeiten.
Reinbold
Heißt das, dass der Imam im Grunde den ganzen Tag in der Moschee verbringen muss?
Zeitun
Nein, muss er nicht. Nach zwei Gebeten kann man auch mal heraus.
Freitagspredigt
Reinbold
Lassen Sie mich bei einem Stichwort nachfragen, weil es für unsere Ohren sehr vertraut klingt. Das Stichwort „Predigt“, „Freitagspredigt“. Ist das so etwas wie das, was man als Christ hat, wenn man sonntags in die Kirche geht? Was hat man sich unter einer Freitagspredigt vorzustellen?
Zeitun
Die Freitagspredigt besteht aus zwei Teilen, einem aktuellen und einem klassischen, traditionellen Teil. Aktuelles, das heißt, man muss darüber reden, was zurzeit gerade passiert. Wenn es zum Beispiel einen Krieg gibt, dann predigt man darüber, oder es gab ein Erdbeben oder eine Flut, dann predigt man darüber, über aktuelle Probleme aller Art. Man predigt also nicht nur über islamische Grundsätze, sondern man predigt über alles, was wichtig ist. Als zum Beispiel das Erdbeben in Haiti war, haben wir gepredigt und Spenden gesammelt. Auch über die Flut in Süddeutschland haben wir gepredigt und Spenden gesammelt.
Reinbold
Neben den aktuellen Themen würde man als Christ auch eine Textauslegung erwarten. Gibt es bei Ihnen so etwas wie die Auslegung einer Koransure oder eines Teils einer Koransure?
Zeitun
Ja. In der Predigt ist das ein fester Teil. Man muss unbedingt jedes Mal den Koran rezitieren. Man kann nicht ohne Koran predigen. Koran und Hadith müssen immer dabei sein.
Reinbold
Und versuchen Sie dann, wenn Sie über aktuelle Anlässe sprechen, über Flutkatastrophen oder Erdbeben oder was immer es sei - Versuchen Sie dann, eine Brücke zu bauen vom Text zur Situation?
Zeitun
Auf jeden Fall. Man sagt immer Dank für Allah, für Gott. Wir müssen Gott danken, auch wenn er uns etwas gegeben hat und die anderen es nicht haben oder vermissen, dann müssen wir spenden, müssen wir helfen, und so weiter. Wir predigen zum Beispiel auch über Drogen. Sie sind verboten im Islam. Zigaretten sind ebenfalls verboten im Islam. Wir helfen dem Staat mit solchen Sachen. Wir predigen immer darüber. Alles, was verboten ist, soll man vermeiden.
Reinbold
Herr Ceylan hat nicht so gute Erfahrungen mit Freitagspredigten gemacht. Sie haben einmal gesagt, wenn Sie eine Note vergeben sollten auf die Freitagspredigten, die Sie gehört haben, dann wäre das eine Fünf. Warum waren die Predigten für Sie so langweilig?
Ceylan
Ich glaube, Imam Zeitun gehört zu den wenigen Imamen, die versuchen, Koranverse und islamische Inhalte in Bezug zu setzen zur Lebensrealität von Muslimen, die in Deutschland leben. Die Predigt besteht aus einem traditionellen Teil, wie Imam Zeitun gesagt hat, aber vor allem sollte sie Bezug nehmen auf aktuelle Angelegenheiten, besonders auf lokale Angelegenheiten. Die Predigt hat eine soziale Funktion.
Die Predigten, die ich seit 2001 regelmäßig gehört und zum Teil auch aufgezeichnet und ausgewertet habe, zeigen allerdings, dass die Lebensrealität der Muslime in Deutschland in der Regel kaum angesprochen und berücksichtigt wird. Das ist ein Problem. In der islamischen Religionspädagogik versucht man gerade, Religionsbücher zu konzipieren, in denen Kontakt hergestellt wird zum Alltag der muslimischen Kinder und Jugendlichen. Dieser Kontakt zwischen der Lebensrealität und der Tradition, der ist auch in den Moscheen ganz wichtig.
Ich glaube, dass die Reichweite von Moscheen nach wie vor sehr unterschätzt wird. Viele in der Mehrheitsgesellschaft, viele Politiker und Pädagogen sind sich nicht darüber im Klaren, dass die Moscheen als spirituelles Kapital eine sehr große Reichweite haben. Wer sich davon überzeugen möchte, sollte einmal an einem Karfreitag eine Moschee besuchen. Da haben die Leute frei, und es ist Mittagszeit, da wird man die Erfahrung machen, dass die Moscheen sehr sehr gut besucht sind, wie es auch an muslimischen Feiertagen der Fall ist.