Mitschrift: Imame in Deutschland (Teil 1)

Zum Gespräch: Imame in Deutschland: Wer sind sie und wofür stehen sie?


Religionen im Gespräch 2, 2012

Gäste:
Prof. Dr. Rauf Ceylan, Zentrum für Interkulturelle Islamstudien, Universität Osnabrück,
Imam Abdul-Jalil Zeitun, Ibrahim Al-Kalil Moschee, Osnabrück
Moderation: Prof. Dr. Wolfgang Reinbold, Evangelisch-luth. Landeskirche Hannovers.

Herzlich Willkommen zum zweiten Gespräch unserer Reihe „Religionen im Gespräch“, heute Abend mit dem Thema: „Imame in Deutschland, wer sind sie und wofür stehen sie?“.

In Deutschland gibt es nach einer aktuellen Studie etwa 2.350 Moscheen und Cem-Häuser, und in 2180 von ihnen gibt es einen Imam. Wir wissen, dass Imame in den Moscheegemeinden eine entscheidende Rolle spielen, wir werden gleich über die Einzelheiten sprechen. Wenn ich aber herumfrage im Land: „Kennen Sie einen Imam?“, „Sind Sie schon einmal einem Imam begegnet?“, dann höre ich oft: „Nein, ich kenne keinen“, „Ich habe keine Ahnung, was das für Leute sind“.

Es ist ein merkwürdiges Phänomen: Mehr als 2.000 Personen, die in den Moscheegemeinden eine entscheidende Rolle spielen, außerhalb der Gemeinden kennt sie fast niemand. Wir fragen heute Abend: Woran liegt das? Wer sind diese Leute? Und was kann man vielleicht tun, dass in Zukunft die Kommunikation verstärkt wird?

Ich freue mich sehr, zwei Gäste begrüßen zu dürfen, die sich vorzüglich in unserer Titelfrage auskennen. Ich begrüße Rauf Ceylan von der Universität Osnabrück. Herr Ceylan ist Professor am Zentrum für interkulturelle Islamstudien an der Universität Osnabrück und dort insbesondere für die Religionswissenschaft und die Religionssoziologie zuständig. Im Jahr 2006 wurde er promoviert mit einer Arbeit über „Ethnische Kolonien“, im Jahr 2010 hat er eine Studie veröffentlicht mit dem Titel: „Prediger des Islam. Imame - wer sie sind und was sie wirklich wollen“. Herzlich willkommen Herr Ceylan.

Ich begrüße Imam Abdul-Jalil Zeitun von der Ibrahim Al-Kalil-Moschee in Osnabrück. Herr Zeitun kommt ursprünglich aus Syrien, aus Zabadani in der Nähe von Damaskus. Er lebt seit über 40 Jahren in Deutschland, ist seinerzeit zum Studium hierher gekommen. Seit vielen Jahren arbeitet Herr Zeitun ehrenamtlich als Imam. Mitte der 90er Jahre hat er in Osnabrück eine Moschee aufgebaut, die Ibrahim Al-Kalil-Moschee, in der er seit dieser Zeit ehrenamtlich tätig ist. Herr Zeitun ist zweiter Vorsitzender des Landesverbandes der Muslime in Niedersachsen, der Schura. Und er hat, da gibt es eine Verbindung zwischen unseren beiden Gästen, am ersten Weiterbildungsstudiengang für die Imame in Osnabrück teilgenommen im Jahr 2010/2011. Herzlich willkommen Herr Zeitun.
 

Warum spielen Imame in der Öffentlichkeit kaum eine Rolle?

Herr Ceylan, in den letzten Wochen war viel von den sogenannten Salafisten die Rede. Sie haben in einem der vielen Interviews, die Sie dazu gegeben haben, gesagt, dass „die große Mehrheit der friedliebenden moderaten Imame“ diesen Leuten wenig entgegenzusetzen hat. Auf die Salafisten werden wir später kurz zu sprechen kommen. Lassen Sie uns zunächst einmal diese Mehrheit der friedliebenden moderaten Imame in den Blick nehmen. Was sind das für Männer, und warum hören wir so wenig von ihnen?

Ceylan
Das hat unterschiedliche Gründe. Es gibt drei Säulen in der religiösen Erziehung. Die erste ist die Familie. Über die Erziehung in der Familie wissen wir nicht so viel, es gibt kaum empirische Arbeiten dazu. Als zweite Säule spielt die Moschee eine wichtige Rolle. Die dritte Säule wird in Zukunft die Schule sein.

Die Imame sind die theologische Referenz, das heißt, sie bieten an Wochenenden Islamunterricht an. Seit der Arbeitsmigration in den 60er und 70er Jahren spielen Imame in der muslimischen Gemeinschaft eine wichtige Rolle, allerdings hat die Politik die Bedeutung des Imams als Multiplikator lange Zeit nicht recht erkannt. Mir ist das aufgefallen, als ich zwischen 2001 und 2006 über „Ethnische Kolonien“ geforscht habe, unter anderem in Moscheen und Männercafés. Vor allem in den Moscheen ist mir aufgefallen, wie wichtig die Imame sind. Und bei den Recherchearbeiten habe ich dann festgestellt, dass es dazu fast keine Literatur gab.

Seit vier, fünf Jahren hat sich das geändert. Auch die Politik hat mittlerweile gemerkt, dass Imame wichtig sind. Im Jahr 2010 hat der Wissenschaftsrat empfohlen, dass man an den deutschen Universitäten Imame ausbilden soll. Auch wenn ich mich manchmal frage, wie realistisch die Erwartungen an die Imame eigentlich sind, bin ich selbst damit zufrieden, dass wir in Deutschland jetzt damit anfangen, Imame auszubilden.

Reinbold
Wenn ich Kirchengemeinden frage, ob sie Kontakt zu Moscheegemeinden haben, dann sagt man mir manchmal: „Ja, da war mal was, da war auch mal ein Imam hier. Aber dann war der auch bald wieder weg.“ Das ist eine verbreitete Erfahrung. Man hat den Eindruck, Imame kommen und gehen alle paar Wochen, alle paar Monate. Woran liegt das?

Ceylan
Das kommt auf die Moschee an. Es gibt Imame, die nach dem Rotationsverfahren nach Deutschland kommen. Sie bleiben vier bis fünf Jahre hier, dann werden sie ausgetauscht. Dann gibt es Moscheegemeinden, die den Imam einstellen und selbst bezahlen. Die Erfahrung zeigt, dass die Fluktuation gerade in diesen Moscheegemeinden sehr hoch ist. Denn wenn die Moscheegemeinde den Imam bezahlt, dann hat er nicht nur einen Chef, sondern die ganze Gemeinde ist gewissermaßen sein Chef. In manchen Moscheegemeinden ist die Fluktuation wirklich sehr stark.

Reinbold
Die Fluktuation hat also vor allem mit den Finanzen und mit internen Unstimmigkeiten zu tun?

Ceylan
Es können interne Gründe sein, es kann am Aufenthaltsstatus des Imams liegen, und ein Großteil kommt so oder so nach dem Rotationsverfahren. Anders ist es zum Beispiel beim Verband der Islamischen Kulturzentren (VIKZ). Da sind in der Regel Imame, die für eine längere Zeit in den Moscheegemeinden ihre Dienste anbieten.

Sie haben vorhin die neue Studie über die Imame erwähnt. Ein Ergebnis ist, dass nur 30 bis 35 % der Imame ein Theologiestudium haben. Das ist wenig, auch wenn die Studie betont, dass die Imame überdurchschnittlich gut ausgebildet sind. Ich finde, jeder Imam sollte ein Theologiestudium aufweisen können.
 

Wie wird man Imam?

Reinbold
Herr Zeitun, wie sind Sie Imam geworden?

Zeitun
Ich bin Imam geworden nach der klassischen Methode. In Damaskus gab es sechs, sieben große Gelehrte. Sie haben Kurse angeboten, immer für ein halbes Jahr. Da ging man zwei Mal die Woche hin. Ich bin jeden Tag zu einem dieser Gelehrten gegangen. Hier gab es eine Koranlesung zu einer Aussage zum Propheten, da Koranexegese, Koranrezitation, Koranregeln, Rechtssystem, und so weiter. Das meiste lernte man mit anderen zusammen, wie in einer Schulklasse, anderes bei jedem Gelehrten auch alleine. Manche Gelehrte unterrichteten alle Fächer. Beliebter waren die Spezialisten, wie zum Beispiel im Fach „Hadith“ [Aussagen des Propheten Muhammad], da hatten wir einen der größten Imame der Welt, Nasreddin Albani aus Albanien. Am besten war es, zu ihm zu gehen und bei ihm die Aussagen zum Propheten zu lernen. Und Scheich Saleh Akkad hat immer die schafiitische Rechtsschule unterrichtet, von A bis Z, von der Waschung bis zum Gebet, bis zum Almosen, Ausgaben, Steuern, und so weiter.

Reinbold
Was stand am Ende dieser Ausbildung? In Deutschland hätten Sie ein Zeugnis bekommen oder ein Zertifikat. Wie war das in Damaskus?

Zeitun
Nein, so etwas gab es nicht. Wenn man fertig ist, geht man zuerst in die Dörfer und predigt.

Reinbold
Herr Ceylan, ist das ein Theologiestudium nach unseren Maßstäben?

Ceylan
Wenn ich Herrn Zeitun recht verstanden habe, ist das keine akademische Ausbildung. Es ist eher eine private bzw. klassische Ausbildung bei den Gelehrten, den Ulama.

Reinbold
Herr Zeitun, wie funktioniert die Autorisierung? Woher weiß ich, dass der Herr Zeitun ein guter Imam ist? Wird das anerkannt, weil man weiß, dass die Lehrer, bei denen Sie gelernt haben, gute Lehrer sind?

Zeitun
Das ist eine Tatsache. Ich habe in über hundert Moscheen als freier Prediger gebetet.
 

Was macht ein Imam?

Reinbold
Von dem, was ein Pastor oder eine Pastorin macht, haben die meisten Menschen eine ungefähre Vorstellung. Man trifft sie bei Taufen, im Konfirmandenunterricht, beim Gottesdienst, auf dem Friedhof. Aber was macht eigentlich ein Imam in Deutschland, sieben Tage die Woche?

Zeitun
Man hat zuerst fünf Mal am Tag die Gebete zu verrichten als Vorbeter. Dann hat man Sitzungen für Koranexegese, eine Sitzung für Hadith, für Aussagen zum Propheten, man hat Koranunterricht für die Kinder. Wir machen auch Führungen. Es besuchen uns fast jede Woche drei bis vier Schulklassen. Sie stellen uns Fragen über den Islam. Wir machen auch Kindergartenveranstaltungen. All das mache ich nicht alleine, sondern mit einem Team, mit Ausnahme des Vorbeters, das mache ich allein. Freitags predige ich immer und vieles mehr. Auch Trauungen haben wir, in der Regel zweimal die Woche.

Reinbold
Fünf Mal am Tag beten – das heißt, Sie sind im Sommer morgens um vier Uhr da, bevor die Sonne aufgeht?

Zeitun
Im Sommer beten wir nachts, bevor wir nach Hause gehen. Im Mai, Juni, Juli und August ist der Tag ja sehr lang. Im Winter um 16 Uhr haben wir das vierte Gebet. Jetzt im Frühjahr und Sommer haben wir das vierte Gebet um 22 Uhr. Das sind fast sechs Stunden Unterschied. Sie wissen ja: Wir haben einen Gebetskalender, nach dem wir uns richten, und die Gebetszeiten ändern sich mit den Jahreszeiten.

Reinbold
Heißt das, dass der Imam im Grunde den ganzen Tag in der Moschee verbringen muss?

Zeitun
Nein, muss er nicht. Nach zwei Gebeten kann man auch mal heraus.
 

Freitagspredigt

Reinbold
Lassen Sie mich bei einem Stichwort nachfragen, weil es für unsere Ohren sehr vertraut klingt. Das Stichwort „Predigt“, „Freitagspredigt“. Ist das so etwas wie das, was man als Christ hat, wenn man sonntags in die Kirche geht? Was hat man sich unter einer Freitagspredigt vorzustellen?

Zeitun
Die Freitagspredigt besteht aus zwei Teilen, einem aktuellen und einem klassischen, traditionellen Teil. Aktuelles, das heißt, man muss darüber reden, was zurzeit gerade passiert. Wenn es zum Beispiel einen Krieg gibt, dann predigt man darüber, oder es gab ein Erdbeben oder eine Flut, dann predigt man darüber, über aktuelle Probleme aller Art. Man predigt also nicht nur über islamische Grundsätze, sondern man predigt über alles, was wichtig ist. Als zum Beispiel das Erdbeben in Haiti war, haben wir gepredigt und Spenden gesammelt. Auch über die Flut in Süddeutschland haben wir gepredigt und Spenden gesammelt.

Reinbold
Neben den aktuellen Themen würde man als Christ auch eine Textauslegung erwarten. Gibt es bei Ihnen so etwas wie die Auslegung einer Koransure oder eines Teils einer Koransure?

Zeitun
Ja. In der Predigt ist das ein fester Teil. Man muss unbedingt jedes Mal den Koran rezitieren. Man kann nicht ohne Koran predigen. Koran und Hadith müssen immer dabei sein.

Reinbold
Und versuchen Sie dann, wenn Sie über aktuelle Anlässe sprechen, über Flutkatastrophen oder Erdbeben oder was immer es sei - Versuchen Sie dann, eine Brücke zu bauen vom Text zur Situation?

Zeitun
Auf jeden Fall. Man sagt immer Dank für Allah, für Gott. Wir müssen Gott danken, auch wenn er uns etwas gegeben hat und die anderen es nicht haben oder vermissen, dann müssen wir spenden, müssen wir helfen, und so weiter. Wir predigen zum Beispiel auch über Drogen. Sie sind verboten im Islam. Zigaretten sind ebenfalls verboten im Islam. Wir helfen dem Staat mit solchen Sachen. Wir predigen immer darüber. Alles, was verboten ist, soll man vermeiden.

Reinbold
Herr Ceylan hat nicht so gute Erfahrungen mit Freitagspredigten gemacht. Sie haben einmal gesagt, wenn Sie eine Note vergeben sollten auf die Freitagspredigten, die Sie gehört haben, dann wäre das eine Fünf. Warum waren die Predigten für Sie so langweilig?

Ceylan
Ich glaube, Imam Zeitun gehört zu den wenigen Imamen, die versuchen, Koranverse und islamische Inhalte in Bezug zu setzen zur Lebensrealität von Muslimen, die in Deutschland leben. Die Predigt besteht aus einem traditionellen Teil, wie Imam Zeitun gesagt hat, aber vor allem sollte sie Bezug nehmen auf aktuelle Angelegenheiten, besonders auf lokale Angelegenheiten. Die Predigt hat eine soziale Funktion.

Die Predigten, die ich seit 2001 regelmäßig gehört und zum Teil auch aufgezeichnet und ausgewertet habe, zeigen allerdings, dass die Lebensrealität der Muslime in Deutschland in der Regel kaum angesprochen und berücksichtigt wird. Das ist ein Problem. In der islamischen Religionspädagogik versucht man gerade, Religionsbücher zu konzipieren, in denen Kontakt hergestellt wird zum Alltag der muslimischen Kinder und Jugendlichen. Dieser Kontakt zwischen der Lebensrealität und der Tradition, der ist auch in den Moscheen ganz wichtig.

Ich glaube, dass die Reichweite von Moscheen nach wie vor sehr unterschätzt wird. Viele in der Mehrheitsgesellschaft, viele Politiker und Pädagogen sind sich nicht darüber im Klaren, dass die Moscheen als spirituelles Kapital eine sehr große Reichweite haben. Wer sich davon überzeugen möchte, sollte einmal an einem Karfreitag eine Moschee besuchen. Da haben die Leute frei, und es ist Mittagszeit, da wird man die Erfahrung machen, dass die Moscheen sehr sehr gut besucht sind, wie es auch an muslimischen Feiertagen der Fall ist.

Muslime haben ganz unterschiedliche religiöse Sozialisationen. Es gibt Familien, die selbst religiös orientiert sind, die auch ihre Kinder religiös erziehen. Es gibt Kinder, die Moscheen besuchen. Es gibt Kinder, die Moscheen nicht besuchen. Das ist ganz unterschiedlich. Freitags hat der Imam eine sehr breite Zielgruppe vor sich. Und die Hörer der Predigt haben etwa 15 bis 20 Minuten Gelegenheit, sich in religiösen Dingen und Angelegenheiten zu informieren, sich weiterzubilden. Insofern spielt die Predigt eine wichtige Rolle.

Was die Qualität anbetrifft, so habe ich in der Tat „Mangelhaft“ gesagt, man muss auch manchmal ein bisschen provozieren. Wir haben da ein Problem, und ich habe dafür plädiert, dass man die Qualität der Predigten verbessern sollte, religionspädagogisch und gemeindepädagogisch. An der Universität haben wir ein Imamweiterbildungsprogramm, bei dem auch Gemeindepädagogen dabei sind. Da werden Fragen diskutiert wie: Wie kann man eine Predigt in 15 bis 20 Minuten effektiv in einen Kontext mit dem Alltag bringen? Die Moscheen werden ihre Bedeutung auch in den nächsten Jahren beibehalten. Es entstehen gegenwärtig ja repräsentative Bauten in vielen Städten. Ich bin daher der Meinung, dass wir nicht nur auf die Schulen schauen sollten, sondern dass wir die Moscheen auch pädagogisch mitnehmen müssen.

Reinbold
Es gibt das Modell, dass den Imamen Predigten zur Verfügung gestellt werden, die sie dann verlesen. Verstehe ich Sie recht, dass Sie dafür plädieren, dass jeder Imam seine Predigt selbst schreiben soll und dass er dabei auch auf die lokalen Gegebenheiten eingehen soll?

Ceylan
Der Imam ist eine mündige Person bzw. er sollte eine mündige Person sein. Er ist eine qualifizierte Person. Ich glaube, jeder Imam weiß oder sollte wissen, was er zu predigen hat. Er kennt seine Gemeinde, er kennt die lokalen Gegebenheiten. Ich erzähle Ihnen einmal zwei Geschichten, die habe ich auch in meinem Buch vorgestellt.

Erste Geschichte: In der Türkei gibt es Imamfortbildungen der Konrad-Adenauer-Stiftung. Die Freitagspredigt wird in der Türkei nach wie vor von der Zentrale vorgegeben, ein und dieselbe Predigt für alle Moscheen im Land. Mir hat mal ein Imam erzählt, er kam aus dem Südosten der Türkei, wie es ihm damit ergangen ist. Thema der Predigt war „Verkehrserziehung“. Als er die Predigt gelesen hatte, sagte die Gemeinde: Wir haben hier nicht einmal Straßen. Warum sprechen Sie über Verkehrserziehung?

Zweite Geschichte: In einem ghettoisierten Stadtteil in Duisburg hielt ein Imam die Predigt über die Sozialabgabe. Er hatte aus den alten Texten ausgerechnet, wie hoch die Abgabe sein muss, die jeder leisten muss, der ein gewisses Vermögen hat. Er hatte es ausgerechnet und dabei an Menschen gedacht, die Grundstücke und Felder besitzen. Ich habe nach links geschaut: ein Hartz IV-Empfänger, ich habe nach rechts geschaut – ein Hartz IV-Empfänger.

Auch wenn diese Beispiele extrem sein mögen – in diese Richtung geht es. Die Lebensrealität wird sehr wenig berücksichtigt. Ich glaube, dass man die Freitagspredigt viel besser pädagogisch nutzen kann.
 

Koranschule

Reinbold
Herr Zeitun, Sie haben ein anderes Stichwort erwähnt, das in der Debatte eine große Rolle spielt, die Koranschule. Wenn man das als Christ hört, denkt man an Bibelstunde, vielleicht an Konfirmandenunterricht. Ist es so etwas in der Art? Was lernen die Kinder in der Koranschule?

Zeitun
In der Koranschule lernt man Arabisch. Die Jungen oder Mädchen sollen die arabische Sprache lesen und verstehen können. Dann kann der Imam immer noch einmal nachhaken, wenn er einmal etwas vergessen haben sollte. Viele Leute lernen den Koran bloß auswendig, und später haben sie alles wieder vergessen. Wir versuchen, Ihnen die arabische Sprache beizubringen, genau wie in der Schule, mit dem ABC und so weiter. Wir geben ihnen einen Text auf, und wenn der Junge oder das Mädchen diesen Text perfekt lesen kann, dann ist es kein Problem, auch weiter lesen zu lernen. Dann kann das Kind auch allein weiterlernen. Die alte Methode, bloß auswendig und allein zu lernen, reicht nicht aus. Wir haben gute Erfahrungen mit unserer Methode gemacht. Meine Kinder zum Beispiel haben dreißig Seiten auswendig gelernt, und sie können auch lesen.

Reinbold
Wie habe ich mir das vorzustellen? Können die Kinder dann Arabisch, oder haben sie nur die Fähigkeit, die Buchstaben korrekt wiedergeben zu können, ohne dass sie wüssten, was sie bedeuten?

Zeitun
Nein, sie haben Arabisch gelernt. Zu uns kommen auch Deutsche, die Arabisch lernen wollen. Sie lesen und lernen auf dieselbe Art und Weise.

Reinbold
„Koranschule“, das heißt also: Arabisch lernen, lesen können, auswendig lernen. Spricht man auch über den Inhalt der Texte?

Zeitun
Man spricht darüber, was das Gelesene bedeutet. Koranexegese muss immer dabei sein.

Reinbold
Ist das in allen Moscheen so, oder gibt es da auch andere Modelle?

Zeitun
Es gibt auch andere Modelle, da muss man immer auswendig lernen. Bis sie groß sind, müssen die Kinder auswendig lernen, und dann haben sie keine Lust mehr, in die Moschee zu kommen. Dann vergessen sie alles wieder. So fangen sie wieder von vorne an.

Am besten ist es, wenn man nur eine einzige Seite lernen muss von A bis Z, dann wird es verstanden, man kann es lesen und so weiter. Dann haben die Kinder auch Lust, zu lernen. Wenn sie immer auf den Imam angewiesen sind, ist es problematisch. Der Imam muss ja oft weg, er hat nicht immer Zeit. Wenn man die Regeln kennt und lernt, ist es viel besser.

Reinbold
Sie plädieren also dafür, dass die Koranschule die Fähigkeit vermitteln muss, selbstständig mit dem Koran in der Originalsprache umgehen zu können. Etwa so wie ich als Professor für christliche Theologie an der Universität von den Studenten erwarte, dass sie das Neue Testament auf Griechisch lesen und nicht in einer Übersetzung. Ist das vergleichbar?

Zeitun
Wenn man beten möchte, kann man nur auf Arabisch beten. Man kann nicht auf Deutsch, nicht auf Türkisch beten, man muss unbedingt auf Arabisch beten. Wenn man betet und versteht nicht, was es bedeutet, was hat man dann davon? Und der Prophet Muhammad sagt in einem Hadith, in einer Aussage des Propheten, man bekommt von seinen Gebeten nur, was man behält oder versteht. Es ist besser, dass man versteht, was man gelesen hat.

Reinbold
Das Gebet muss Arabisch sein – gilt das für jedes Gebet? Ich habe gelegentlich auch schon deutsche Bittgebete gehört von Muslimen.

Zeitun
Spirituelle Gebete müssen Arabisch sein, Bittgebete nicht. Bittgebete kann man in jeder Sprache beten, auf Chinesisch, auf Deutsch und so weiter.

Reinbold
Herr Ceylan, es gibt in Niedersachsen seit zehn Jahren den Modellversuch islamischer Religionsunterricht, zurzeit an etwa vierzig Schulen. Der Kultusminister hat angekündigt, dass Islamische Religion ab dem nächsten Jahr ordentliches Schulfach wird. Ich höre oft die Frage: Religionsunterricht in der Schule und Koranschule – wie passt das eigentlich zusammen? Sind das nicht widerstreitende Pole?

Ceylan
Ich habe vorhin gesagt, es gibt drei Säulen in der religiösen Erziehung: Familie, Moschee, Schule. Ich weiß, es gibt in der Diskussion zum Teil Stimmen, die das als Alternative sehen. So sehe ich das nicht. Es ist komplementär, es ist eine volle Ergänzung. Ich glaube, man muss auch ein realistisches Bild von einer Moschee haben, von ihren Ressourcen, von ihrem Personal. Was können Moscheen anbieten? Der Imam hat es eben angesprochen: das Memorieren und das Rezitieren vor allem. Das ist eine zentrale Aufgabe. Die Ästhetik spielt eine wichtige Rolle im Islam, auch in der Rezitation. Wenn wir jetzt die islamische Religionspädagogik einführen, wird das ein großer Gewinn sein, denn in der Schule können sich die Kinder und Jugendlichen stärker inhaltlich damit auseinandersetzen.

Ich gehöre zur zweiten Generation, wir hatten muttersprachlichen Unterricht. Es gab schon immer etwas Islam, aber ich wünschte, wir hätten nicht so wenig gehabt. Dieser Unterricht war so polarisierend, wir hatten zum Teil Lehrer, die waren antireligiös und religiöspädagogisch überhaupt nicht qualifiziert. Oder wir hatten das andere Extrem. Ich glaube, das ist eine Phase in der deutschen Geschichte, in der Migrationsgeschichte, die noch gar nicht ausführlich untersucht wurde. Wenn ich heute die Möglichkeit hätte, zwischen evangelischem oder katholischem Religionsunterricht und muttersprachlichem Unterricht wählen zu können – ich würde nach meiner Erfahrung in den christlichen Religionsunterricht gehen.

Das ist eine Erfahrung, die viele gemacht haben. Und deshalb freue ich mich, dass wir demnächst qualifizierte Religionspädagogen haben werden, die das, was sie tun, inhaltlich reflektieren werden und die im Sinne einer Korrelationsdidaktik auch die Lebensrealität berücksichtigen werden. Wichtig ist natürlich, dass der Religionsunterricht eine Plattform bietet für alle. Es gibt junge Muslime, die haben keine Moscheesozialisation. Sie kommen mit ganz unterschiedlichen Hintergründen. Vor zwei Tagen war ich auf einer Konferenz zur Erzielung von Interreligiösität. Dort habe ich gesagt: Was ist mit dem intrareligiösen Dialog, mit dem Dialog innerhalb der muslimischen Gemeinschaft? Der islamische Religionsunterricht ist auch eine Plattform für die Vielfalt der Muslime, und insofern sind wir sehr optimistisch. Ich bin froh, dass Niedersachsen Vorreiter ist, was den islamischen Religionsunterricht anbetrifft.