Reinbold
Heißt das auch, dass man beim Cem-Gottesdienst nicht getrennt nach Männern und Frauen sitzt?
Yildiz
Nein, das ist ganz wichtig. Wenn ich einen Cem besuche, ist die Türschwelle ganz wichtig. Man soll bewusst seinen Status, sein Geschlecht außen vor lassen. Man betritt den Cem nicht als Frau oder Mann, sondern als Seele. Deswegen werden alle Seelen als gleichberechtigt betrachtet. Es steht nicht im Vordergrund, dass ich als Melek Yildiz, als Frau oder Lehrerin dorthin gehe, sondern als ein Mitglied der Gemeinde und als eine Seele.
„Aleviten“ – was bedeutet das?
Reinbold
Herr Kahraman, wir haben noch gar nicht über den Namen gesprochen. „Aleviten“, was bedeutet das?
Kahraman
Es gibt verschiedene Interpretationen. Eine der gängigsten Interpretationen ist, dass es Ali-Anhänger sind, also Anhänger des Schwiegersohns des Propheten Muhammad, der zugleich sein Vetter ist. Im türkischen Sprachgebrauch nennt man Juden auch musevi, „musa“ für Moses, und „mus-evi“ ist dann das „Haus des Moses“ oder die „Anhänger des Moses“. Christen nennt man entsprechend isevi, gebildet aus dem Wort „isa“, türkisch für Jesus, und „evi“, Haus, also „Jesu Haus“ oder „Jesu Anhänger“. So ist auch der Begriff Alevi gebildet, aus „Ali“ und „evi“, also die „Anhänger Alis“.
„Aleviten“ ist eine Bezeichnung, die sich erst Anfang des 20. Jahrhunderts durchgesetzt hat. Vorher nannte man sie nach der größten Gruppe oft „Kizilbasch“ (kızılbaş), wörtlich übersetzt „die Rotköpfe“, und „Bektaschi“, nach dem von Hadschi Bektasch Weli gegründeten Orden. Darüber hinaus gibt es noch kleinere Gruppen, die ihre eigene Bezeichnung haben. Im 20. Jahrhundert wurden diese Gruppen dann als „Aleviten“, „Alianhänger“ bezeichnet. Das hat sich dann durchgesetzt.
HakMuhammetAli – was bedeutet das?
Reinbold
Ali spielt eine besondere Rolle im Alevitentum. Ich habe in einem Text, der auf der Homepage der Alevitischen Gemeinde publiziert ist, einen Satz gelesen, den ich mal vorlesen möchte: „Aleviten glauben an eine geistige Gemeinsamkeit, die Gott, Mohammed und Ali so umfasst, dass es angemessen ist, diese Gemeinsamkeit als ‚Identität’ zu beschreiben. Diese Identität wird in der Glaubensaussage HakMuhammetAli (Gott, Muhammad, Ali) auf die kürzestmögliche Form gebracht. Hak-Muhammet-Ali werden zusammen an- und ausgesprochen und in gleicher Weise angebetet.“ Das klingt für mich als evangelischen Christen wie eine Art alevitische Dreieinigkeit. Ist das so?
Yildiz
Es erinnert an die Trinität, da haben Sie Recht. Es ist so, dass die Namen zusammen ausgesprochen werden und dass das als geistige Gemeinschaft verstanden werden kann. Man kann es aber auch als ein Werteprinzip betrachten. Hak bedeutet übersetzt „die Wahrheit“, und wir können die Formel auch ersetzen durch die Formel hak evren insan, „die Wahrheit“, „das Universum“ und dann „der Mensch“. Hier geht es einfach um diese Wechselseitigkeit und diese Gemeinschaft. Man kann das aber auch einfach so betrachten, dass es ganz viele Symbolzahlen im Alevitentum gibt. Bei uns sind die 3, die 5, die 7, die 12, die 40 wichtige Symbolzahlen. Deswegen wird auch nach dem Einvernehmen dreimal gefragt.
Reinbold
Bedeutet die Formel HakMuhammetAli, dass ich Gott über Mohammed und Ali erkenne? Wie ist der Zusammenhang?
Yildiz
Muhammad und Ali gelten aus dieser Perspektive als Licht Gottes, das das Universum seit der Schöpfung erhellt.
Kahraman
Wir müssen noch einmal auf den Entstehungsmythos der Aleviten zurückgehen. Ich hatte gesagt, dass Gott eine Perle schafft und dass diese Perle sich dann in zwei Lichter teilt. Nach alevitischer Auffassung ist ein Licht Muhammad und ein Licht Ali gewesen.
Jetzt ist natürlich die Frage, wie viel das mit dem historischen Ali und dem historischen Muhammad zu tun hat. Sind es wirklich der Kalif Muhammad und der Kalif Ali? Diese Diskussionen werden auch in den Reihen der Aleviten geführt. Es gibt viele alevitische Geistliche, für die klar ist, dass es Muhammad und Ali schon mit der Entstehung der Welt gab. Wenn ich dann sage, dass beide doch erst im 6./7. Jahrhundert gelebt haben, wird immer wieder auf den Lichtermythos zurückgegriffen. Ich interpretiere das so, dass es diesen Lichtermythos schon vor der Deutung der Lichter auf Muhammad und Ali gab. Wahrscheinlich stammt der Mythos aus dem iranischen Raum, und die ursprünglichen Namen wurden später ersetzt. „Ali“ und „Muhammad“, wie sie die Aleviten verstehen, haben mit dem historischen Muhammad und dem historischen Ali der Schiiten und der Sunniten jedenfalls wenig zu tun. Das recht zu verstehen, ist sehr kompliziert.
Welche Rolle spielen Koran und Sunna für Aleviten?
Reinbold
Hat all das etwas mit dem Koran zu tun und mit der Sunna, der Überlieferung der Worte des Propheten? Oder spielen Koran und Sunna keine Rolle für Aleviten?
Kahraman
Von den Hadithen (Worten des Propheten), wie sie die Sunna tradiert, halten Aleviten nicht sehr viel, sie glauben nicht daran. Die Aleviten sind der Auffassung, dass der Koran verfälscht ist.
Reinbold
Der Koran ist verfälscht?
Kahraman
Der Koran ist verfälscht. Der Meinung sind die Aleviten. Ich persönlich bin nicht der Meinung. Aber es gibt diese Meinung bei den Aleviten, dass der Koran verfälscht ist.
Nachdem Muhammad gestorben ist, gab es Streitigkeiten um die Nachfolge, wer Kalif wird. Im Arabischen heißt Kalif „Nachfolger“. Es gab Streitigkeiten, ob es Abu Bakr oder Ali sein soll. Letztendlich wurde es Abu Bakr, und nach Abu Bakr wurde es auch nicht Ali, sondern es gab zwei weitere Kalifen. Die Aleviten sind der Auffassung, dass Ali bei diesem Streit entrechtet wurde und dass der Koran in dieser Zeit verfälscht wurde. Der Koran wurde als Buch gebündelt erst nach Muhammads Tod, das sagen auch Sunniten und Schiiten. Erst mit dem dritten Kalifen Osman wurde alles, was Muhammad rezitiert hat, gebündelt. „Koran“ bedeutet ja „Rezitation“. Diese Rezitation wurde auf Felle, auf Steine und auf Holztafeln geschrieben. Der Kalif Osman hatte nach Muhammads Tod die Idee, dass man die Rezitationen in Form eines Buches zusammenbringt. Die Aleviten sind der Meinung, dass es bei dieser Bindung zur Verfälschung kam, dass Suren fehlen, dass Suren weggelassen wurden, aus politischen Gründen.
Darüber hinaus muss man sagen, dass Aleviten nicht nur den Koran ehren und als heilig anerkennen, sondern auch die Bibel und die Tora (die jüdische Bibel, insbesondere die fünf Bücher Mose). Nach alevitischem Verständnis gibt es keine Hierarchie von Religionen, von Büchern oder von Propheten, ganz im Gegenteil. Man muss jede Religion als gleichwertig ansehen, jede Religion respektieren. Aus diesem Grunde gibt es bei den Aleviten auch keine Mission. Einen Menschen für die eigene Religion zu gewinnen, passt in dieses Verständnis nicht hinein. Auch der Christ lebt mit seiner Religion, und auch seine Religion hat Wahrheit, und auch seine Religion ist gut. Es gibt nicht diese Rangstufen, dass eine Religion, ein Buch oder ein Prophet besser ist als der andere.
Reinbold
Wie ist das: Hat ein alevitischer Haushalt eine Bibel und einen Koran im Bücherregal?
Yildiz
Vielleicht kann ich das mal aus der Unterrichtsperspektive erläutern. Interreligiosität spielt im alevitischen Religionsunterricht eine große Rolle und ist auch in den Lehrplänen verankert, sowohl im Grundschullehrplan als auch im Kernlehrplan der Sekundarstufe I. Es ist ein obligatorisches Thema. Die Unterschiede und die Gemeinsamkeiten der verschiedenen Religionen werden behandelt. Da kann es durchaus sein, dass bestimmte Inhalte der Bibel, des Korans oder der Tora behandelt werden.
Reinbold
Für das Selbstverständnis ist der Koran aber kein zentrales Buch, sondern ein Buch neben der Tora und dem Evangelium?
Yildiz
Genau. Er ist nur im Kontext der Interreligiosität auch Gegenstand des Unterrichts.
weiterlesen, MItschrift Teil 2