Zum Gespräch: Streit um den Islam: Brauchen wir eine christlich-jüdische Leitkultur?
Dehne
In dem Moment, wo man jemanden als „Ausländer“ bezeichnet, nimmt er das an. Das geht so weit, dass ich, wenn ich mit einem konvertierten Muslim spreche, manchmal höre, dass er plötzlich von „den Deutschen“ spricht. Da frage ich mich, in welches Abseits er sich da gerade gestellt hat – er gehört jetzt zu „den Muslimen“, und „die Muslime“ sind „Ausländer“, und deswegen sind da jetzt plötzlich „die Deutschen“. Das führt dann dazu, dass man sagen kann: „Ja, ich bin schlecht bewertet worden von dem Lehrer, von dem Deutschen, von der Kartoffel, weil ich Ausländer bin.“
Reinbold
Ist das das übliche Schimpfwort für „den Deutschen“, „die Kartoffel“?
Dehne
Richtig. Man macht es den Kindern allerdings auch sehr einfach mit ihrer Abgrenzung von „den Deutschen“. Wenn man die Kinder in der fünften Klasse zum Beispiel fragt: „Herzlich Willkommen an der Schule, wo kommst du denn her?“ Ja, wo soll er denn herkommen? Aus der Nordstadt!, da kommt er her oder vielleicht aus Hannover. Aber nein, man meint ja etwas ganz Anderes, nämlich wo seine Urgroßeltern herkommen.
Oft fragen die Schüler mich dann: „Was bist du?“ Dann nehme ich sie immer erst einmal auf den Arm und sage „ein Mensch“, „ein Lehrer“, oder so. „Nein, nein“, sagen sie dann. Meist bekommen sie es überhaupt nicht hin, das in Worte zu fassen, wonach sie fragen wollen. Ich helfe ihnen irgendwann und sage: „Ich habe einen syrischen Vater und eine deutsche Mutter.“ Dann überlegen sie. „Ich bin Deutscher“, sage ich dann, „weil ich hier geboren bin, weil ich hier leben will, weil ich mich hier wohl fühle, ich fühle mich hier zu Hause.“ Dann frage ich: „Und was bist du?“ „Ja, ich bin Türke“, ist meist die Antwort. „Wann warst du das letzte Mal in der Türkei?“ „Ja, in den Sommerferien.“ „Was bist du in der Türkei, wie bezeichnen sie dich da?“ Meist als almancı, das heißt: „Deutsche“. In der Türkei sind die Kinder Deutsche und in Deutschland sind die Kinder Türken.
Toprak
Genau genommen, heißt es „Deutschländer“.
Dehne
Ja, nicht einmal richtige Deutsche, nur „Deutschländer“. Ich glaube, da fängt es an. Sie fragten vorhin, was wir tun können. Wir müssen ein paar Schritte zurückgehen, um diesen Kindern hier ein zu Hause zu geben. Wir müssen sagen: „Ihr seid hier gewollt mit eurem Migrationshintergrund. Das gehört zu Deutschland, das ganze wird bunt, wird ein bisschen aufregend, wird manchmal auch ein bisschen kompliziert. Aber ihr seid hier gewollt, ihr seid Deutsche.“ Ich glaube, Amerika hat es da einfacher. Die Amerikaner sind die Indianer, und alle anderen sind dazugekommen. In Deutschland ist das ein bisschen schwerer.
Wer ist denn ein „Deutscher“? Manche argumentieren dann in Richtung „arisch“. Wollen wir es jetzt so machen wie in der Nazizeit? Der Deutsche ist blauäugig und blond? Nein, das natürlich auch nicht. Dann versuche ich, Vorschläge zu machen, zum Beispiel zu sagen: „Ich bin syrisch-deutsch, das heißt, ich bin deutsch und habe etwas Syrisches. Und du könntest sagen, du bist türkisch-deutsch. Du musst das Türkische nicht negieren, das sollst du auch gar nicht. Das gehört zu dir. Wenn du diese Sprache lernst, dann ist es eine Bereicherung. Wenn du die Kultur kennst, ist das eine Bereicherung. Aber sag nicht: ‚Deutsch-Türke’.“ Dieses Wort kennen wir aus den Medien. Warum Deutsch-Türke? Das klingt so wie: Er ist noch ein Türke. Er hat zwar was Deutsches, aber er ist und bleibt ein Türke – und das in der vierten Generation!
Reinbold
Das ist ein neues Wort. Gewissermaßen das Plädoyer, die amerikanische Bindestrich-Identität des Italo-American einmal auf Deutsch zu formulieren: „türkisch-deutsch“, „syrisch-deutsch“, und so weiter. Funktioniert das in der Schule? Ist das etwas, das für die Kinder ein interessantes Konzept sein könnte?
Dehne
Wir Lehrer prägen ja die Sprache der Kinder, wir erweitern ihren Wortschatz. Ich finde: Wir sollten das nutzen, damit sie sich irgendwann daran gewöhnen und es selber benutzen. Wir bringen ihnen ja auch ganz andere Worte bei. Wir sollten ihnen auch dieses Wort beibringen, so dass sie sich in ihm wiederfinden und irgendwann sagen: „Ja, ich bin TürkischDeutscher“.
Ich kann ihnen ja nicht sagen. „Du bist ein Deutscher, du bist hier geboren“. Dann geht der Schüler nach Hause und sagt: „Papa, ich bin Deutscher“, und der Vater fragt: „Wie bitte?“ Wenn er aber sagt: „Papa, ich bin Türkisch-Deutscher“, ist es etwas anderes. Der Vater ist ja nach Deutschland gekommen. Natürlich hat er Kinder, die etwas Deutsches an sich haben. Der Begriff hat auch den Vorteil, dass man den Schwerpunkt hierhin oder dahin legen kann. Der eine ist türkisch-deutsch mit ganz großem Türkisch und ein bisschen Deutsch. Der andere sieht sich mehr deutsch und ein bisschen türkisch. Bevor wir anfangen, solche Worte hier einzuführen, muss die Gesellschaft sich allerdings fragen: Will ich das?
Mansour
Für meine Diplomarbeit habe ich einen Fragebogen für Schüler entwickelt. Ganz am Ende habe ich zwei Fragen gestellt: „Sehen sie sich als deutsch?“, mit einer Skala von 0 – 10. „Sehen sie sich als ..........?“, da konnten die Schüler frei etwas eintragen, auch auf einer Skala von 0 – 10.
Die „Deutschen“ haben bei der ersten Frage Werte zwischen 0 und 4 angekreuzt, sie haben ein Problem damit, deutsch zu sein. Die Menschen mit Einwanderungsgeschichten haben auch Werte zwischen 0 und 4 angekreuzt. Keiner will deutsch sein. Die „Deutschen“ haben bei der zweiten Frage dann „Europäer, global, Mensch“ oder so etwas geschrieben. Die Menschen mit Einwanderungsgeschichte haben ihre Heimatländer hingeschrieben, Türke, Araber usw.
Ich glaube, es ist wichtig, diesen Jugendlichen beizubringen, dass ihre Identität mehrdimensional ist, türkisch und deutsch, arabisch und deutsch, und so weiter. In den Familien sind damit ja viele Ängste verbunden. Die Eltern wollen, dass ihre Kinder von ihnen etwas mitnehmen. Sie sind vor vierzig Jahren nach Deutschland gekommen, um zu arbeiten. Auf einmal merken sie, dass ihre Kinder nicht einmal ihre Muttersprache gut sprechen, und sie verhalten sich anders, kleiden sich anders. Es gibt Generationenkonflikte. Diese Ängste müssen wir erkennen und mit den Eltern daran arbeiten. Es ist nicht so schlimm, wenn die Kinder zum Beispiel mehrsprachig aufwachsen …
Reinbold
Man könnte doch auch sagen: es ist gut!
Mansour
Ja, es ist gut. Wichtig ist, dass Identität nicht eindimensional gesehen wird. Ich kann Türke sein, ich kann gleichzeitig Deutscher sein, ich kann Berliner sein, ich kann Europäer sein, ich kann alles Mögliche sein, Moslem noch dazu. Bei vielen Jugendlichen ist die Identität eindimensional. Wenn ich deutsch bin, kann ich nicht noch Türke sein und überhaupt nicht Moslem, und so weiter.
Dehne
Genau. Wenn ich sage: „Ich bin Deutscher“. Dann wird meist erwidert: „Sie sind aber doch Moslem“ – von Schülern!
Reinbold
Dieses Schema ist ganz fest in den Köpfen vorhanden: Die Muslime. Die Deutschen?
Dehne
Ich glaube, dass kommt daher, wie wir in der Gesellschaft darüber reden.
Toprak
Es gibt eine Trennlinie, und diese Trennlinie wird von der Mehrheitsgesellschaft gezogen. Es ist eine Trennlinie zwischen den minderwertigen Migranten und Migrantinnen und dem „Wir“ der Mehrheitsgesellschaft. Das sagt man so natürlich nicht. Aber dieses Gefühl kommt bei den Migrantinnen und Migranten bzw. bei den Menschen mit Migrations- und Einwanderungsgeschichten an.
Das ist der Grund, warum die Jungs so reagieren. Wenn jemand das Gefühl hat, er gehört nicht dazu, dann sagt er: „Ich bin Türke.“ Ich frage dann manchmal provokativ: „Was ist das denn überhaupt, Türke?“ Dann merke ich, dass er keine Ahnung von der Türkei hat, aber er sagt, er ist Türke. Sie haben vollkommen Recht. Das schlimmste, was man sagen kann, ist, Deutscher zu sein. Ich weiß nicht warum. Das ist ein no-go bei Migranten und Migrantinnen. Man darf allerdings nicht jedes Wort der Jugendlichen auf die Goldwaage legen. Es ist manchmal auch einfach uncool, über bestimmte Dinge zu reden.