Zum Gespräch: Ehre ist das wichtigste. Einwandererkinder zwischen Familie, Schule und Religion
(Aus: Evangelische Zeitung, Wolfgang Reinbold)
Am 7. Februar 2005, gegen 21 Uhr, wurde die 23-jährige Hatun Sürücü, Mutter eines fünfjährigen Sohnes, in Berlin-Tempelhof an der Bushaltestelle Oberlandgarten der BVG-Linie 246 erschossen. Verhaftet wurden die drei Brüder der Frau, 18 bis 25 Jahre alt. Einer der Brüder soll die Waffe besorgt haben, der zweite geschossen und der dritte den Schützen zum Tatort begleitet haben. Ihr Mörder schoss ihr dreimal ins Gesicht, aus nächster Nähe, wie bei einer Hinrichtung.
So oder ähnlich stand es vor sieben Jahren in allen deutschen Zeitungen. Seither liegt das Thema auf dem Tisch: Ehrenmord. Hatun musste sterben, weil sie die Ehre der Familie verletzt hat. Weil sie sich der Ehe widersetzte, die ihre Eltern für sie in der Türkei arrangiert hatten. Weil sie ihren Ehemann verließ und nach Berlin zurückkehrte, schwanger. Weil sie sich von ihrer Familie löste und ein eigenständiges Leben führte, sich anzog, wie sie wollte, ausging, rauchte – dunkelblaue Gauloises, mit der Aufschrift „Liberté toujours“, Freiheit, allezeit.
Hatun Sürücüs Tod hat die Aufmerksamkeit darauf gelenkt, dass auch in Deutschland Jahr für Jahr Frauen und Männer ermordet werden, weil ihre Angehörigen zu der Auffassung gekommen sind, dass sie die „Ehre“ der Familie durch unziemliches sexuelles Verhalten verletzt haben. Meist sind die Täter überzeugt, dass sie gar nicht anders konnten. „Ehre“ ist für sie das wichtigste im Leben. Ohne Ehre ist eine Familie nichts wert, sie hat ihr „symbolisches Kapital“ verloren, wie die Soziologen sagen. Niemand will mit einer solchen Familie mehr etwas zu tun haben, niemand mit ihr Handel betreiben oder seine Tochter mit einem ihrer Söhne verheiraten. Eine Familie ohne Ehre verliert ihr Ansehen und ihre Position in der Gesellschaft. Sie steht vor dem sozialen und wirtschaftlichen Ruin. Daher muss der Ehrverlust unter allen Umständen verhindert werden.
Sind Ehrenmorde typisch für Muslime? Wie sehr haben sie mit Religion, wie sehr mit Kultur, wie sehr mit Bildung und sozialen Ursachen zu tun? Wie verbreitet sind Ehrenmorde in Deutschland? Über diese Fragen gibt es seit Hatun Sürücüs Tod erbitterten Streit.
Zur Versachlichung der Debatte beitragen kann eine Veröffentlichung des Freiburger Max-Planck-Institutes für ausländisches und internationales Strafrecht aus dem Jahr 2011, in der die Fakten erstmals umfassend erhoben werden (hier). Die Studie kommt unter anderem zu folgenden Ergebnissen:
– Ein Ehrenmord ist ein sehr seltenes Ereignis, pro Jahr werden etwa zwölf Fälle von der deutschen Justiz erfasst, darunter drei Ehrenmorde im engeren Sinn (d.h. Morde, die nicht zugleich Merkmale der „normalen Partnertötung“ oder der „Blutrache“ aufweisen).
– Hauptmotive sind Trennung und (vermeintliche) Untreue.
– 43 Prozent der Opfer sind Männer (entgegen allen Erwartungen).
– Zwei Drittel der Fälle ereignen sich in Familien türkischer, insbesondere osttürkischer bzw. kurdischer Herkunft, 15 Prozent in Familien arabischer Herkunft.
– Die meisten Täter sind Muslime, einige wenige Eziden oder (syrische) Christen.
– 90 Prozent der Täter sind Migranten der 1. Generation.
– Die Täter sind fast ausnahmslos arm, unqualifiziert und schlecht gebildet.
Die Studie belegt, was andere Untersuchungen bereits vermuten ließen: Voraussetzung eines in Deutschland begangenen Ehrenmordes ist danach eine Kombination aus eigener Migration, geringer Bildung, prekären Lebensverhältnissen und einer von Männlichkeitsidealen bestimmten, in der Kindheit erlernten Kultur der Ehre, wie sie für viele vorindustrielle, von Großfamilien geprägten Gesellschaften typisch ist. Die Religion, sei sie islamisch, ezidisch oder christlich, gehört nicht zu diesen Voraussetzungen. Sie ist im Gegenteil eher hinderlich, denn sie verbietet den Mord mit klaren Worten.
Allerdings kann die Religion die Hemmschwelle zum Ehrenmord senken helfen, nämlich dann, wenn die religiöse Elite die überkommene Kultur der Ehre für eine göttliche Ordnung erklärt. Wenn die Kinder, wie es im türkischen Volksislam bis heute nicht selten der Fall ist, in der Familie oder in der Koranschule lernen, dass Ehre (Namus) eine unverzichtbare Eigenschaft ist, auf der auch die religiöse Gesetzgebung (Scharia) beruht, dann ist es nur ein kleiner Schritt hin zu einer vermeintlich islamischen Begründung des Ehrenmords, wie ihn die Täter oftmals für sich beanspruchen.
Die Gelehrten in den deutschen Moscheen sollten diese unselige Kombination nicht bestreiten, sondern entschlossen bearbeiten – und die deutsche Mehrheitsgesellschaft sollte zur Kenntnis nehmen, dass Ehrenmorde zwar ganz überwiegend von Muslimen begangen werden, dass sie aber ein sehr seltenes Phänomen sind und in erster Linie soziale und kulturelle Ursachen haben.
Evangelische Zeitung, 13. September 2012