Zum Gespräch: „Ein Koran mit Saiten“ – Musik bei den Aleviten
Typischer Ablauf eines Cem-Gottesdienstes:
Die Gemeinde versammelt sich zur festgelegten Zeit im Cem-Haus. Vor der Versammlung haben die Teilnehmer eine Waschung durchgeführt und saubere, unauffällige Kleidung angezogen. Am Eingang erweisen sie dem Ort des Rituals Respekt durch eine Geste (niyaz). Anschließend werden die mitgebrachten Gaben (lokma), z.B. Brot, Obst oder Weizen, an die lokmacı-Person abgegeben. Zum gesegneten Mahl gehört auch ein Tieropfer (kurban).
Nach der Abgabe der Gaben werden die Schuhe ausgezogen, und man nimmt auf der mit Teppichen ausgelegten Fläche Platz. Die Teilnehmer und Teilnehmerinnen sitzen in einem Halbkreis, so dass sie sich in die Gesichter blicken können (cemal cemale). Die Ritualleiter sitzen vorn, neben ihnen sitzt der Barde (zakir), der auf der Langhalslaute (saz) die Gebetshymnen und die religiösen Gedichte vorträgt. Das Ritual findet in der Regel in türkischer Sprache statt, gelegentlich auch auf Deutsch. Eine nach Geschlechtern getrennte Sitzordnung gibt es nicht. Sind die Ehefrau oder die Tochter eines Dede anwesend, sollen sie vorne neben dem Dede Platz nehmen.
Zwischen den Teilnehmern und den Ritualleitern bleibt eine halbkreisförmige Fläche frei, die „Platz“ (meydan) genannt wird. Jede Person betritt den Platz mit drei Schritten, vollzieht einen niyaz (Hinknien und Küssen der auf den Boden gelegten Hände), sagt Hak, Muhammet ya Ali (Gott, Mohammed und Ali) und verlässt den Platz mit drei Schritten rückwärts.
Sind alle versammelt, betreten die Ritualleiter den Raum (mürşit Leiter/Lehrer; pir Meister; rehber Wegweiser). Die Gemeinde empfängt sie stehend. Nach einigen Gebeten und Ritualen nehmen alle Platz. Der mürşit fragt die Anwesenden, ob sie mit den religiösen Leitern einverstanden sind und ob sie den Dedes das „Einvernehmen“ (rızalık) geben. Die Gemeinde antwortet mit dreimaligem Allah eyvallah. Es folgt die Begrüßung.
Anschließend werden die Inhaber der „zwölf Dienste“ auf den Platz gerufen (neben den Ritualleitern und dem Musiker z.B. der Wächter, der „Fegende“, der Wächter des Lichts, u.a.). Der Ritualleiter fragt, ob alle mit ihnen einverstanden sind. Die Gemeinde antwortet bejahend. Anschließend fragt er, ob es Konflikte unter den Anwesenden gibt. Falls das der Fall ist, muss der Streit jetzt geschlichtet werden. Dreimal fragt der Dede die Teilnehmer nach ihrem gegenseitigen Einvernehmen (rızalık). Sie antworten mit dreimaligem „Wir sind einverstanden, möge auch Gott einverstanden sein“ (Biz razıyız, hak razı olsun). Dann wird der Platz durch den „Fegenden“ (süpürgeci) gereinigt und das „Fell“ (post) vor den Dede auf den Boden gelegt. Es symbolisiert den Platz, den einst Mohammed, Ali und andere Heilige im sogenannten „Cem der Vierzig“ eingenommen haben.
Eine weitere wichtige Handlung ist das „Erwecken des Lichts“. Der Wächter des Lichts zündet drei oder zwölf Kerzen an. Drei Kerzen stehen für Hak, Muhammet, Ali (Gott, Mohammed, Ali), zwölf Kerzen für die „Zwölf Imame“. Danach erfolgt die rituelle Waschung der Hände des für die Waschung Zuständigen (tezekarcı), des Dede und einiger Anwesender. Danach werden die „Gaben des Mahls“ (lokmalar) gesegnet.
Nach der Segnung der Gaben wird der Cem „versiegelt“. Der Türwächter schließt die Tür, damit niemand den Raum betritt oder verlässt. Die Anwesenden knien nieder und beten gemeinsam, dabei schauen sie sich immer wieder gegenseitig in die Augen (cemal cemale). Alle bezeugen die Einheit mit Gott und rufen gemeinsam Hak, Muhammet ya Ali (Gott, Mohammed und Ali).
Danach trägt der Barde ein Gedicht vor, das von der Himmelfahrt Mohammeds und dessen Ankunft bei den „Heiligen Vierzig“ handelt. Während des Gedichtes setzt der spirituelle Semah-Tanz ein. Frauen und Männer drehen sich gegen den Uhrzeigersinn und verbinden ihr lnneres mit Gott, ohne sich zu berühren. Danach wird das Heilige Wasser (sakka-suyu), das vom Ritualleiter mit einem Gebet gesegnet wird, verteilt. Anschließend wird das Mahl verteilt und durch ein Gebet eingeleitet.
Das Cem-Ritual endet mit dem „Auflösungsgebet“. Das Fell wird aufgehoben und das Licht (delil) zur Ruhe gebracht.
(nach: Handan Aksünger, Eine ethnologische Interpretation des Cem-Rituals, in: F. Eißler [Hg.], Aleviten in Deutschland, 2010, 85–98).